@ Vera-Lena
Ich liebe diese Art von wahrhaft fast maximal verdichteter Literatur, die zudem sprachlich auch noch minimalistisch und deshalb für jeden wenigstens halbwegs Gebildeten restlos verständlich zum Ausdruck kommt.
Im Versuch die Sachen auf ihren jeweils realen Punkt zu bringen, ist Dein Mut als Künstlerin zu bewundern.
Würden alle Textekünstler so handeln und werkeln, dann würde der astronomisch hohe Turm des heute absurd aufgeblähten Büchermarktes endlich auf überschaubares und dem Leser schnell aufnehmbares Wortegut zusammenschrumpfen.
(man müsste sich dann nicht mehr durch 10 dicke Bände "Utta Danella" kämpfen, um am Ende verblüfft festzustellen, dass die auch nix weiß außer schwachsinnigen pubertären Beziehungskisten, in deren Bereich sie selbst wohl irgendwann einmal nachhaltig traumatisiert wurde = dem ehemaligen Traumatiseur verdankt diese vanillierte Zimtziege ihren heutigen bestseller-Reichtum)
Dennoch bedürfen mitunter auch solche aufgrund der hohen Verdichtung explosionsgefährlichen "Überdruck"texte wie Dein hier vorgestellter mitunter der nivellierenden Textkritik, wie ich hier anhand der Glocke einmal exemplarisch ausführen möchte:
/Die Glocke/
Ein Text über eine Glocke macht nur dann Sinn, wenn es sich bei dem bedichteten Objekt um ein hinreichend großes Exemplar handelt. Große Glocken -siehe weiter unten- machen nach rissfreier Fertigstellung aber nicht "bim-bim-bim", sondern eher und vibrierend (Schwebungen) "buuum-buuum"
/Loch inne Erde,/
Sicher wolltest Du hier statt "Loch" eigentlich den Begriff "Gussform" verwenden, dichtest aber stattdessen rein-phänomenologisch nach Merleau-Ponty. Absicht?
/Bronze rin,/
Hier mögen manche Leser überfordert sein, weil sie gar nicht wissen, was "Bronze" ist, dass man sie flüssig gießt, und warum man Glocken nicht lieber aus Blei, Alu, oder Plastik herstellt.
/Glocke fertig:/
Dieser Textabschnitt mag angehen, da er sich sehr eng mit der Originalvorlage legiert, schließlich ist die endliche Fertigstellung ja der finale Zweck des Unternehmens Glockegießen, wobei andererseits gerade deshalb dieser Teilsatz im Text völlig überflüssig sein könnte, da auch der Glocken-unbedarfteste Leser darum weiß.
/Bim, bim, bim/
siehe oben "buuum-buuum", schwebend, wie später die Glocke insgesamt
Mein Vorschlag zu einem verbesserten Text mit noch weniger Redundanz also:
Form in Erde,
Bronze rinn(t),
buuum-...-buuum
Das Original, "Die Glocke" (es heißt nicht "Eine Glocke") von Gießbart von Freilichratlos-Schnuppelhaus, stellt allerdings gar nicht den technischen Gießvorgang in den Schwerpunkt des Textes, sondern die intersozialen Rahmenbedingungen vorindustrieller Produktionsmethoden:
("Meister", "Gesellen", "loben", heute noch muss die Glocke werden, "das Werk soll seinen Meister loben" analog wie die irdische Schöpfung ihren Schöpfer preist = religiöses Interface der vorindustriellen Glockenproduktion, "her Gesellen, frisch zur Hand" = nach einem vorhergehenden 16-stündigen Arbeitstag, magerstem Lohn und nur zwei Stunden Schlaf eine ganz erhebliche Aufforderung, deren Gilden-Tarifvertrags-Konformität der Text seltsamer Weise offen lässt, wobei wir in den "Gesellen" Wander/Zeit-Arbeiter vermuten müssen, denn ein Beruf "Glockengießer" hat auch damals schon nicht zu einem regelmäßigen Einkommen führen können, denn wann geht eine vorhandene Glocke schonmal kaputt und muss per Neugießung ersetzt werden)
Der Text also noch mehr verdichtet und sozial relevant gemacht:
Die Glocke
Form,
Bronze,
sie läuten.
- Das Objekt "Glocke" phänomenologisch herausgearbeitet durch Alleinestellung in eine Extrazeile
- Über "Form" und "Bronze" wird der Schöpfermensch in das Geschehen eingeführt, denn beides ist menschen-erdacht und gemacht
- Das einzige Tuwort "läuten", eher ein Machenwort, lässt die beteiligten Menschen nicht nur final aktiv werden durch Benutzung ihres Produktes, was gleichzeitig das rissfreie Funktionieren der endlichen Glocke ausdrückt, sondern "läuten" legiert sich auch zwanglos mit den vorherstehenden Substantiven zur intendierten schöpferischen Handlungskette A bis Z
Schreiben wir diesen Text nun in linguistischer Notation an als:
[Die Glocke] = Summe aus {Form, Bronze, sie läuten}
wird sofort klar, dass wir die rechte Seite des LingTerms verlustlos durch die linke substituieren können als:
" Glocke "
womit alles Notwendige ausgesagt (exprimiert) ist, denn die rechte Seite des LingTerms ist nur lediglich eine Ausarbeitung des semantischen Kontextes des Begriffes "Die Glocke", wobei "Glocken" i.A. geschlechtslos sind
Nach dieser Herausarbeitung des Wesentlichen können wir nun das Thema auch mühelos und hochverdichtet variieren:
Glocke => {Form, Bronze, sie läuten}
Glocke => {Totsein, Friedhof}
Glocke => {Hochzeit, Braut, Fröhlichsein}
Glocke => {Haustür, Besuch, "mach lieber nicht auf"}
usw.
Die abstrahierte Summe aller solcher möglichen Variationen zum Begriff "Glocke"
Glocke => {variable_a, variable_b, ...}
ergibt den passpartout-Universaltext zum Begriff "Glocke", aus welchem Dichter dann ihre jeweils konkreten Werke schnitzen können, und dies schlicht deshalb, weil sämtliche Objekte gedanklicher und sensorischer Wahrnehmung auf dieselbe Weise strukturiert sind.
Alle "Begriffe", "Dinge", "Objekte" sind nur "flags", welche stellvertetend für die von ihnen gemeinten Semantiken-Summen stehen - bei "Begriffen" spricht man von "semantischem Umfeld", bei "Dingen" von "ihren Eigenschaften", was (technisch betrachtet) dasselbe meint.
Und wenn wir nun beim traditionell-dichterischen Glockengießen schon einmal soweit gelangt sind, dann soll hier auch noch eine Anmerkung zu modernen dichterischen Produktionsweisen folgen:
Zur graphischen Darstellung des Textes "Die Glocke" nehmen wir uns ein rechtwinkliges Koordinatensystem, auf einer Achse tragen wir die Buchstaben des Alphabetes von A bis Z auf, die andere Achse nummerieren wir von 1 bis -je nach beabsichtigter Textlänge- zB 100 durch.
Dann zählen wir die Häufigkeit der einzelnen Buchstaben im Glockentext und tragen diese in unser Koordinatensystem ein.
Wir erhalten im Ergebnis eine Kurve aus "Bergen" und "Tälern" oberhalb der Achse mit den Buchstaben.
Die entstandene Kurve repräsentiert nun in gewisser Weise den Glockentext, als sie seine Buchstabenhäufigkeiten veranschaulicht.
Die vorkommenden Wortlängen, die Buchstabenstellungen in den Worten, die Häufigkeiten der Vorläufer- und Nachfolge-Buchstaben zu jedem Buchstaben und einiges mehr sind in unserer Kurve indes nicht enthalten - wodurch man mit dieser einfachen Kurve erstmal nicht viel anfangen kann.
Jetzt aber stellen wir uns ein Koordinatensystem mit zB 50 Achsen vor (ein mehr-als-drei dimensionales, ist zwar anschaulich nicht mehr vorstellbar, aber man kann sehr gut damit rechnen) - und in dieses abstrakte Koordinatensystem tragen wir nun alles über den Text ein, seine Inhalte und Strukturen, und zwar als Variablen:
Worteanzahl, Wortelängen, Buchstabenhäufigkeiten, Buchstabennachbarschaften, Buchstabenstellungen in den Worten, die statistische Verteilung von "Begriffen" und ihren semantischen Worte-Umfeldern, die Wahrscheinlichkeiten von Wortefolgen in der Sprache Deutsch, die anatomisch-phonetischen Möglichkeiten von Sprechern der deutschen Sprache (es sind übrigens -für alle Sprachen insgesamt- weniger als hundert Phoneme, weil Zunge, Mund, Zähne, Gaumen nicht mehr hergeben), usw.
Das ganze Konstrukt danach als "Prozess" ( = Programm) in einen Computer eingeben. Schrauben wir dann beim Programmablauf an den Variablen herum, dichtet uns der Computer automatisch beliebig viele Texte zum anfänglichen Begriff, zB zu "Glocke".
Einige dieser vollautomatisch erzeugten und sprachlich zu ~99% gültigen Texte mögen aus verschiedenen Gründen "unpassend" sein. Wollen wir die nicht sehen, müssen wir unser Programm also durch Ausschluss-Kriterien noch ein wenig erweitern (zB in einem Glockentext sollen Konnotationen zu "Sex" nicht erscheinen).
Der genutzte Comp bekommt noch ein Pseudonym verpasst, zB U.Ecos "Abulafia" aus dem Foucault'schen Pendel, und fertig ist der hoffentlich dann bestsellers schreibende automatische Dichter.
Und wer hier glaubt, das sei nur spinnerte Phantasie, der irrt, denn das gibts schon, wobei ein solcherart instruierter Comp aufgrund der ihm belassenen "dichterischen Freiheit" noch viel Menschen-ungenießbaren textlichen "Schrott" produziert (die "Seele" eines Comps ist halt für Menschen unbegreifbar = das HCI, das human-computer-interface nach beiden Enden hin noch nicht hinreichend adaptiert)
Wir können den Comp zur damit allerdings dann überragenden Verbesserung seines textlichen outputs aber noch enger an die Kandarre legen, indem wir ein solches HCI in ihn hinein-projizieren, es in seinem Programm verankern.
Wir müssen ihm dazu allerdings die sprachlich enge Bindung an einen Menschen auferlegen:
Im obigen Verfahren des multidimensionalen Koordinatensystems geben wir zB 50 Goethetexte ein = Goethetexte werden nach ihren inhaltlichen und formalen Strukturen analysiert, das Ergebnis dieser Analyse wird in unserem Comp-Programm verankert.
Bei einem zweiten Comp dasselbe mit zB Heinetexten.
Lassen wir danach die Programme der beiden Comps ablaufen, dann dichtet Comp A im Originalton und -slang von Goethe, Comp B dichtet uns original Heine-Texte.
Auch dies keine haltlose Phantasie sondern bereits existierende Realität im Bereich "Computer+Linguistics". Es geht! Man kann es tatsächlich machen!
Und weil es funktioniert, kann man damit dann auch zurückrechnen und den "dichterischen Unterschied" zwischen zB Goethe, Schiller, Heine, Martin Schmitt mathematisch-formalisiert und praktisch exakt! angeben = in Formeln ausdrücken.
Und weil das geht, kann man auch die den Dichterwerken zugrunde liegenden sich-unerscheidenden sog. "Ästhetiken" formalisiert und quasi mathematisch exakt ausdrücken.
Und weil alles Obige heute bereits weitgehend funktioniert, kann man das nicht nur mit Texten machen, sondern auch mit "Musiken" ( = ein Comp komponiert einen nie gehörten original-Mozart, usw. - ist alles bereits gemacht worden), mit Bildern, mit praktisch jeder Art und jedem Medium künstlerischen Schaffens - und man braucht dazu nichtmal Großrechner, jeder heutige Heim-PC würde dazu genügen, was gleichzeitig andeutet, dass kreativ-künstlerisches Schaffen, angeblich eine/ DIE reservierte Domäne des Menschtieres, bei Weitem nicht so komplex und "wunderbar" ist, wie traditionell und intuitiv vermutet.
(Auch in diesem Bereich werden wir also unseren anthropomorphen Größenwahn zukünftig verlernen müssen = eine weitere enorme Kränkung unseres Selbstbildes.)
Und dies Obige ist nichtmal die ganze Geschichte, denn wir haben uns bisher nur damit befasst, auf welche Weise ein "künstlerischer" Kommunikator Signale sendet, und haben eine möglichst optimale Automatisierung dieses Kommunikators durchgeführt, in der naiven Annahme, dass Kommunikation zwischen Sender+Empfänger genauso funktioniere, wie traditionell angenommen (was überhaupt nicht zutrifft), und dass der potentielle Empfänger der "künstlerischen" Signale diese halt "verstehe", indem er sie passiv aufnehme wie eine Form, in welche man Bronze eingießt (was ebenfalls nicht zutrifft).
Führt man auch dies hier außer acht Gelassene noch in das "künstlerische" Kommunikationsmodell ein, dann kommt man gerade für den Fall der künstlerischen Kommunikation zu einer verblüffend geringen notwendigen Bandbreite, und dies widerspricht unserer Intuition diametral, weil wir gerade hier nicht "quasi-Primitivismen" sondern im Gegenteil höchst-Komplexes ("Sensibles", "Intimes", usw.) vermuten - eine haltlose Annahme, wie die rationale Untersuchung der Sache "künstlerische Kommunikation" ausweist.
"Gedichte" können als taugliches Beispiel dafür herhalten, wie eine absichtlich möglichst gering gehaltene Senderbandbreite dennoch (1)enorme und (2)sehr verschiedene Effekte bei Empfängern auszulösen imstande ist.
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Vorauszuschicken:
Der Begriff "Gedicht" ist irreführend.
Es handelt sich bei "Gedichten" nicht um (physikalisch) "verdichtete" Sprache o.ä., Sprache ist nicht komprimierbar, sondern um abstrahierte Prosatexte.
Regeln:
- Jeder Prosatext ist durch Einführung von hierarisch gestuften und voneinander abhängigen Abstraktions-Ebenen "über ihm" zum quasi-beliebig "verdichteten" Gedicht umformbar (poemisierbar), wobei die Formalien eines Gedichtes hierbei erstmal unerheblich sind.
- Die Anzahl möglicher einführbarer Abstraktionsebenen über einem Prosatext ist prinzipiell hypersemiotisch = ist in der Realität nur durch die Praxis und durch den Aufwand begrenzt
- jede Abstraktionsebene muss mit ihrer vorherigen und ihrer nachfolgenden in einer sprachlich (falls gut gemacht: "eindeutig") abbildbaren Wechselwirkung stehen (Konsistenzerhaltung der Aussage-Absicht)
- die letzte erzeugte Abstraktionsebene, die keinen Nachfolger mehr hat, ist das ausgeschriebene/ aufschreibbare "Gedicht", welches als serielle Signalefolge an einen Empfänger kommuniziert wird, der es jedoch als simultane "Sendung" aufnimmt und weiterverarbeitet
(deshalb müssen als "gut/ gelungen" erlebte Gedichte-Kapitel/ Sinnabschnitte/ Gedichtezeilen (und Melodien in der Musik) in ihrem Informationsgehalt der Größe des menschlichen Gegenwarts-Bewusstseins-Speicher (GBS) von ca 210 bit entsprechen, und ihre zeitliche Abfolge muss der zeitlichen Kapazität des GBS von ca. 2,7 Sekunden adaptiert sein = "gute Gedichte/ Musiken" sind also insoweit ästheto-neurologisch bedingt, und dies ist heute beweisbar)
- und jedes Gedicht ist durch Reduktion seiner Abstraktions-Ebenen und Weglassen seiner gedichtetypischen Formalien wieder vertextlich-bar (prosaisierbar)
- die angepassten Formalien eines Gedichtes verstärken seine Wirkung suggestiv - dasselbe entsprechend beim Prosatext
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(zu weiter oben 1)
Obwohl beim "Gedicht" nur ein Minimum an Signalen und damit an notwendiger Bandbreite zur Kommunikation genutzt wird, signalisieren die Formalien der Sendung (Rhythmus, Reim, etc. - nennt man auch "flags") dem Empfänger, dass es sich um eine prosatextliche Abstraktionsebene handelt, die er sich in irgendeine Art individueller Prosa zurückübersetzen soll/ kann.
Mit diesem dem Signalpaket durch seine Formalien immanenten Auftrag versehen, wirft der Empfänger dann seine individuellen Verarbeitungsmechanismen an, welche auf den Grundlagen individueller Lebenserfahrung, Vorwissen, Bildung, Denk- und Erlebens-Gewohnheiten und individueller Erinnerungs-Datenbasis (dies Letztere ist extrem wichtig) versuchen, ihm das Signalepaket in einen ihm verständlichen Prosatext zurück zu transformieren = dieser fundamentale Vorgang, unabhängig von seinen jeweils wechselnden Inhalten, ist nach Maturana/Varela "Autopoiese" genannt = Selbsterzeugung von "Nachrichten".
Gelingt dies = ein ihm verständliches Prosatext-Äquivalent ist erzeugt, geht der Empfänger davon aus, er habe "den Dichter/ dessen Text "verstanden".
Der vom Empfänger selbständig im Vollzug seiner Verarbeitung erzeugte Prosatext gilt ihm als der empfangenen Gedichtetext-Signalefolge "äquivalent" einzig aus dem Grund des Fehlens weiterer, evtl. zum bis dahin Erreichten inkonsistenter (Zusatz)"Information" = hier wird also Pseudo-Information aus dem schlichten Fehlen von "Information" erzeugt.
Gelingt es dem Empfänger nicht, im Rahmen seiner individuellen Autopoiese die empfangene Gedichtetext-Signalefolge in einen ihm verständlichen = einen für ihn konsistenten Prosatext zurück zu übersetzen, dann geht er davon aus, er habe "das Gedicht" im ersten (interpretativen) Anlauf nicht verstanden, und die Autopoiese-Routine wird erneut gestartet, oder er fragt beim Dichter nach und erbittet zusätzliche "Signale", die in seinen Sensoren zu "Informationen" und nach autopoietischer Endverarbeitung zu "Nachrichten" werden.
Jede "Interpretation" von irgendetwas Beliebigem ist nichts anderes als die geschilderte Autopoiese-Routine - und diese Routine ist jeweils individuell + morphologisch + funktional neurologisch festgelegt, "kommuniziert" also überhaupt nicht nach außen hin, sondern arbeitet "hermetisch" und schließt Gelingen oder Misslingen von Kommunikation nur im Nachhinein und ausschließlich aus ihren eigenen Schlüssigkeits-Erwägungen über das von ihr selbst Interpretierte = die von ihr selbst erst erzeugten "Nachrichten".
(zu weiter oben 2)
Weil dieser autopoietische Interpretationsmechanismus von "Signalen" unaufhebbar-individuell-geprägt ist (er basiert wesentlich auf dem Material individueller "Erinnerung" und "Interpretieren" ist großenteils das Abgleichen von "Signalen" => "Informationen" mit Erinnerungsinhalten), und weil der AP-Prozess zudem hermetisch abläuft, also nach außen hin überhaupt nicht im Sinne landläufigen Verständnisses kommunikativ (mit den input-Signalen) rückgekoppelt ist, deshalb kann die ein und selbe "Gedichte"zeile bei verschiedenen Empfängern die unterschiedlichsten Ausinterpretationen ergeben.
Dies liegt aber eben gerade nicht "am Gedicht", welches wie oben geschildert als abstrahierter Prosatext hoher Abstraktionsstufe mit nur wenig Signalen und daher geringer Bandbreite daherkommt, sondern dies liegt an den Eigentümlichkeiten des Empfänger-internen Prozesses, der Autopoiese genannt ist, und der sowohl längere Prosatexte zu behaltbaren gedichteartigen Schlüsselwort-Zettelsammlungen aufinterpretieren, als auch sprachliche Abstraktions-Layer = "Gedichte" zu (vermeintlich) "verstehbaren" Prosastücken herab-dekonstruieren kann.
Die Fähigkeit des "guten" Dichters/ der effektiven Künstlers/ des guten Kochs, Parfumeurs/ usw. besteht eigentlich nach Obigem lediglich darin, Empfänger-Sensoren (Augen/ Ohren/ Geschmack/ Geruch/ etc.)-angepasste Signalefolgen zu erzeugen, die beim jeweiligen Empfänger dann dessen individuell-geprägten und vollkommen hermetisch-ablaufenden Autopoiese-Prozess starten.
Und der wesentliche Unterschied zwischen Alltags-Kommunikation und künstlerischer Kommunikation besteht eigentlich nur darin, dass im Alltag im Rahmen des neuro-biologisch Möglichen beliebige Signalemengen und beliebige Bandbreiten DYNAMISCH genutzt werden können ( = ungefähr oder mit Wahrscheinlichkeit zu treffen gilt als "hinreichend getroffen", Schmutzeffekte eingeschlossen, und man kann Kommunikationsvesuche im Alltag ja quasi beliebig oft, wenigstens grob-ähnlich wiederholen, die Kommunikationsvorgänge sind nicht-demonstrativ, sondern jeweils "erforderlich" -
während der Künstler (Musik, Literatur, Bildende Kunst) sich Mühe gibt mit dezidiert geringstmöglichen Signale-Folgen und mit geringstmöglicher Bandbreite zu kommunizieren = Empfänger-Autopoiesen zu starten, wobei der Künstler den eigentlich enormen Nachteil hat, dass er seine Signalefolgen in Form von Texten, Bildern, Tönekomponiertem initial als quasi-Stilleben hypostasieren, als Demonstranzen festschreiben muss.
(dies ist der eigentliche "magische" Akt der Kunsterzeugung, denn die zwangsläufige Entdynamisierung, die Hypostasierung des Werkes durch seine bloße Existenz als vorhandenes Werk macht es "zeitfrei" = magisch: "zeitlos", "ewig", "ahistorisch" = animistisch!)
Im Erfolgsfall damit gelingender Kommunikation, d.h. lediglich, die mithilfe der Signalefolgen im Empfänger gestarteten Autopoieseprozesse verlaufen widerspruchsfrei = selbstkonsistent, werden dann Künstler und Werk als ahistorisch-animistisch überwertig erlebt (man schaue sich nur mal zB Michelangelos "traumverlorene" = scheinbar animistisch-zeitlose Werke an, darin kann man sich scheinbar verlieren, daran kann man "wahnsinnig" werden).
Jeder Künstler ist also eigentlich sowas wie ein "einseitig kommunikationssüchtiger" Lottospieler, der immer wieder in Form stets neuer Werke Signalefolgen als Kommunikationsversuche "tippt", indem er sie als "Werke" hypostasiert (aufschreibt, malt, komponiert), meistens natürlich danebenliegt = Kommunikationsversuch gescheitert, der aber andererseits schon bei einem einzigen Treffer ("bestseller" o.ä.) ausgesorgt haben kann, indem er dann samt Werk "verewigt" werden kann.
(Dies ist mit Sicherheit auch ein Grund dafür, warum viele eher unangepasste und daher auch kommunikations-defizitäre Spielernaturen-Menschen von Künstlerkarrieren träumen.)
Das eigentlich nachteilige weil irreversibel-risikobehaftete initiale Festschreibenmüssen künstlerischer Kommunikationsversuche wird andererseits ausgeglichen dadurch, dass ein Künstler seine per Werke festgeschriebenen Komm.Versuche mithilfe seiner materiell-vorhandenen Werke beliebig oft, zu beliebigen Zeiten, und an beliebigen Orten in stets genau gleicher Weise wiederholen kann, was bei nicht-materiell ablaufenden Kommunikationsversuchs-Akten des Alltags unmöglich ist.
Zusammenfassend:
- Ein Künstler arbeitet mit eingeschränkten Signalefolgen (Wortekünstler erreichen dies u.a. mithilfe von Abstraktions-Layern, welche als sprachliche "Verdichtungen" über daraus zurück-übersetzbaren Prosatexten liegen), diese Signalefolgen muss er initial zu "Werken" hypostasieren, die dann als magische = mehr oder weniger zeitfreie/ ahistorische Demonstranzen funktionieren.
- Im genauen Gegensatz zum naiven Alltagserleben ist künstlerischer Komm.Versuch nicht überwältigende Signalemenge und Bandbreite, sondern immer ein "Kanal" mit künstlich stark reduzierter Kapazität (grob: "je absichtsvoll-reduzierter, desto erlebt-künstlerischer").
- Das empfängerseitige Verstehen und/ oder gar "Überwältigtsein" von einem Werk ist ausschließlich empfängerseitige Autopoiese-Leistung und liegt nicht im "Werk", welches lediglich und zwangsläufig nur als Starter der empfängerseitigen AP dient.
Dazu Exempel aus ["Empfänger und Umgebung" definieren den AP-Mechanismus]:
(a) Empfänger vorm abendlichen TV, spannender Krimi läuft, plötzlich "tuuuuut" - Empfänger schließt auf Ton-Störung seiner TV-Klapperatur
(b) Empfänger treibt nach Schiffsunglück einsam im Meer, plötzlich "tuuuuut" - Empfänger des Signals schließt auf ein sich näherndes Schiff, Hilfe in Aussicht, usw.
Dieselbe Signalefolge löst je nach Disposition eines Empfängers, und diese Disposition ist u.a. von seinem jeweils aktuellen embeddding abhängig, völlig verschiedene Autopoiesen aus, die mit völlig unterschiedlichen Interpretationen enden.
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Ich glaube fast Vera-Lena, wir haben jetzt aus Deiner obigen "Glocke" hier für heute genug gelernt - aber wer von all den KünstlerInnen hier will auch sowas schon hören?
Die Damen und Herren haben ja auch gar keine Zeit zu lesen und zu verstehen vor lauter unentwegtem Dichtenmüssen, das Roulettespiel mit Worten hat eindeutig Vorrang, schließlich könnte sich für den nächsten hingeschrieben-erschaffenen Text ja schon ein großer Verlag interessieren, und man stände dann schon am Eingang zum Pantheon ( = verewigte Versammlung aller (hier: Dichter)Götter) - wobei, wenn man zwischen Vergottung und Bestsellerautor wählen kann, man doch wohl lieber das Letztere nimmt, des Geldes wegen, denn "Künstlersein", das ist ein Wunschberuf Vieler, obwohl sich die beiden Begriffe gegenseitig völlig ausschließen, sofern man unter "Beruf" nicht "Berufung" versteht, sondern die täglich auszuführende monotone Brotarbeit, die einzig regelmäßiges Einkommen garantiert (na ja, heute im Zeitalter des großen Börsenroulettes ja auch nicht mehr ...)