Dass jemand an einem Sonntag Sturm klingelt, war in Lady Ashfords Haus eine Seltenheit. William, ihr Butler, Schatzmeister, Betreuer und Botengänger in persona legte seine Lektüre zur Seite, stieg in seine Filztapper und öffnete die Tür. Ein Mann von etwa 35 Jahren, der durch seine abgewetzte Kleidung und einen Fünf-Tage-Bart ausgesprochen heruntergekommen wirkte, drängte sich hastig an ihm vorbei und betrat ungefragt Williams Wohnung. Nervös suchend durchmaß er jeden Raum.
„Wo ist sie?“
„Entschuldigung, Sir?" Jetzt erst erkannte er den ungebetenen Gast. "Ach, Sie schon wieder. Und was gibt Ihnen das Recht, einfach so hier hereinzuplatzen.“
„Quatsch nicht, alter Mann. Sag mir lieber, wo die alte Schachtel ist! Ist sie überhaupt zu Hause?“
„Was, bitte, wollen Sie von ihr?“
„Das muss ich dir nicht erklären. Also: Wo steckt das alte Fell?“ Ich frage nicht noch einmal.“
„Sie ist bettlägerig, wie Sie wissen. Sie hat gerade ihre Tabletten genommen, und danach ist sie immer etwas benommen. Sie schläft. Würde es Ihnen etwas ausmachen, später noch einmal wiederzukommen?“
„Opa, du hast die Lage noch nicht erkannt. Ich muss sie jetzt sprechend. Es ist sehr dringend, kapier das endlich.“
„Ganz wie Sie wünschen“, gab sich William geschlagen. Seine Frau Margie saß verängstigt in ihrem Lesesessel, ein geöffnetes Magazin auf dem Schoß, und überlegte, wie sie diesen Rüpel aus dem Haus schaffen könnte. Aber sie fand nicht einmal eine Lösung, die Lage zu deeskalieren, und entschied daher, lieber zu schweigen.
„Na los, nun mach schon! Worauf wartest du? Sag ihr, ihr Neffe Rupert sei da und sein Besuch hätte einen sehr wichtigen Grund.“
„Wie Sie wünschen, mein Herr“, kam es ihm kaum hörbar über Williams Lippen. Er stieg gemächlich die Treppe hoch und klopfte an Lady Ashfords Tür.
Rupert ging das zu langsam. Er stürmte die Treppe hinauf, schob William zur Seite und stieß die Tür auf. Wortlos ging er auf Lady Ashfords Bett zu, und als er sah, dass ihre Augen geöffnet waren, versuchte er freundlich zu sein.
„Hallo Tante, ich bin’s, Rupert, dein Neffe. Wollte dich mal besuchen, um zu sehen, wie es dir geht.“
„Du hast mir gerade noch gefehlt“, erwiderte die alte Dame und verdrehte dabei die Augen. „Als würde dich interessieren, wie es mir geht. Wolltest mal schauen, ob ich schon im Sterben liege, du Erbschleicher.“
„Ich erschleiche nichts, Tante, ich bin dein einziger Erbe.“
„Ja, das bist du, und deshalb bist du hier, um schon mal was abzuholen. Ich kenne dich doch. Jedesmal wenn du hier erscheint, brauchst du Geld. Aber ich sage dir gleich, diesmal kann ich dir nichts geben. Ich bin selbst so gut wie pleite.“
„Das sagst du immer, damit du nichts rausrücken musst. Tante, ich habe ein wirklich großes Problem. Ich brauche ganz schnell Geld, nur 12.000 Pfund, Tante, bitte, ein letztes Mal.“
„Ich habe nichts mehr.“
„Oh nein, Tante, du hast noch mehr als genug. Du willst mir nichts geben, und das finde ich fies.“
„Du warst in den letzten drei Jahren vier Mal bei mir, und jedesmal habe ich den letzten Guinea für dich locker gemacht. Irgendwann ist mal Schluss. Die Zeiten sind schlecht, alles wird teurer.“
„Tante, bitte, ich habe Spielschulden. Du weißt, dass mit diesen Leuten nicht zu spaßen ist. Wenn ich die 12.000 Pfund nicht herbeischaffe, hacken sie mir ein paar Finger ab. Willst du das?“
„Ich habe es dir bereits gesagt, meine Möglichkeiten sind erschöpft.“
„Ich weiß doch, dass du Aktien besitzt. Und das Haus.“
„Mit den Aktien finanziere ich meinen Lebensunterhalt, und das Haus ist mit einer Hypothek belastet, die ich bedienen muss. Beides gehört sowieso schon der Bank. So, und jetzt geh.“
„Willst du, dass ich mich selber auf die Suche mache und dein Haus umkremple?“
„Kannst du tun, wenn du alles wieder so zurückräumst, wie du es vorgefunden hast.“
Rupert war entnervt, verzweifelt und zitterte am ganzen Leib. Als er sich ein wenig gefasst hatte, kündigte er ihr an, dass er in vier Wochen wiederkommen würde, um die 12.000 Pfund abzuholen. „Mach irgendwas flüssig! Es ist mir egal, was es ist. Hauptsache, ich kriege das Geld.“ Danach war es mucksmäuschenstill im Raum. Als er sich von Lady Ashford abwandte, hielt ihm William die Tür auf. Doch bevor er die Treppe erreichte, machte er sich noch einmal Luft: „Wenn es schlimm kommt, hast du vielleicht bis dahin gar keinen Erben mehr. Überleg dir, was du tust.“
„Was für ein unsympathischer Knochen!“, schimpfte William vor sich hin. „Dieser Taugenichts wird ihr noch das Letzte nehmen, was ihr im Leben geblieben ist.“ Und er dachte dabei an die mit Känguruleder überzogene Schatulle in ihrem Sekretär, in der sich zwei komplette Sets Familienschmuck befanden, jeweils bestehend aus goldenen Ohringen, einem Collier, einer Brosche und einem Ring. Sie mochten „nackt“ jene 12.000 Pfund bringen, die dieser gemeine Kerl forderte, wesentlich wertvoller als das Gold aber waren die beiden daumennagelgroßen Diamanten, die jedes Collier zierten. William hatte keine Ahnung, wieviel diese wert sein mochten. Er hatte mal im Fernsehen eine Sendung gesehen, in der ähnlich aussehende Stücke versteigert wurden, und wenn er von den Preisen ausging, die dort erzielt wurden, so ließ sich das Konvolut auch wegen der zahlreichern kleineren Steine auf mehrere hunderttausend Pfund hochrechnen.
Es entsprach der Treue zu seiner Dienstherrin, die edlen Stücke dem Zugriff Ruperts zu entziehen. Er wusste im Augenblick nur noch nicht, wie er das anstellen sollte. Mit Lady Ashford darüber zu reden, erschien ihm ziemlich sinnlos. So wie er sie einschätzte, würde sie niemandem auf der Welt die Schatulle zur Verwahrung anvertrauen. Und nur weil das so war und nicht anders, fasste William einen eigenwilligen Entschluss. Er würde die Preziosen bei sich verwahren, ohne dass sie etwas davon merkte. Das war nicht einmal illegal, handelte er doch in ihrem Interesse. Und mit großer Wahrscheinlichkeit würde sie die Verbringung an einen anderen Ort niemals bemerken. Zu welchem Zweck sollte sie den Schmuck aus seinem Versteck nehmen wollen? Um ihn zu tragen? Sie konnte sich kaum auf zwei Beinen halten, schon gar nicht laufen und wäre restlos überfordert gewesen für einen Theaterbesuch oder ähnliches. Rollstuhl hin oder her. Außerdem hatte sie keinerlei Bedürfnisse, sich in ihrem Zustand unter die Leute zu mischen, und deshalb die Schmuckstücke seit Jahren nicht mehr angefasst .
*
Drei Wochen später:
„William, was ist hier los?“, fragte Margie und stellte das Bügeleisen zur Seite. „In dem Jackett, das du mir zum Abbürsten gegeben hast, haben unsere Kontoauszüge gesteckt. Du hast unser ganzes Gespartes abgehoben? Wofür?“
William hievte sich aus seinem Sessel und trat zu ihr. „Ja, Marge, ich musste das tun. Ich bitte dich, frag nicht weiter. Das Geld ist nicht weg.“
„Ja, ich weiß, weg ist es nicht, es hat nur ein anderer“, kam es ironisch. „Wir können nicht einmal den Umzug bezahlen, wenn die Lady stirbt. Was hast du nur getan?“
„Nun beruhige dich doch, Marge. Ich schwöre dir, es ist nicht weg. Und jetzt bitte ich dich, keine Fragen mehr zu stellen. Ich habe noch nie dein Vertrauen missbraucht, das weißt du, also vertrau mir auch jetzt. Das Geld wird eines Tages wieder auftauchen.“
„Hoffentlich erlebe ich diesen Tag noch. Jetzt wird mir auch klar, warum du in den letzten Wochen soviel in der Stadt unterwegs warst.“
„Ja, das hat damit zu tun, und jetzt – Silentium! Ich will nichts mehr hören!“
Margie fügte sich und schwieg. Noch nie hatte sie Streit mit ihrem Mann, schon gar nicht wegen Geld. Trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl in der Bauchgegend. „Hoffentlich dreht er kein krummes Ding“, murmelte sie vor sich hin, während sie fortfuhr zu bügeln.
Die Zeit verging, und auf den Tag pünktlich erschien Rupert nach vier Wochen. Er ließ den Finger auf der Klingel, bis William öffnete. Dann drängte er sich wie zuvor ins Haus.
„Lebt sie noch, die alte Fregatte?“
„Wie reden Sie denn von Ihrer Tante!“, fuhr William ihn an. „Geht’s vielleicht mit einem bisschen mehr Respekt?!“
„Ich will doch nur wissen, wann sie endlich stirbt, W i l l i a m“, verhöhnte er nun auch den Butler. „Bleib hier, ich schau selber nach.“ Er eilte ins Obergeschoss, stieß die Tür auf und donnerte gleich los. „Hallo Tante, hast du das Geld?“
„Welches Geld, du Flegel?“
„Du hast das Geld nicht? Weißt du, was das für mich bedeutet? Ich bin so gut wie tot!“ Kaum hatte er ausgesprochen, begann er in der Hoffnung, Bargeld oder Wertgegenstände zu finden, die Schubladen der Kommode und des Sekretärs zu durchstöbern.
William war inzwischen ebenfalls anwesend und verfolgte mit zornigen Blicken, wie das Zimmer auf den Kopf gestellt wurde. Als Rupert mit der Suche fertig war, trat er an Lady Ashfords Bett und legte ihr seine rechte Hand um den Hals.
William schritt sofort ein. „Sind Sie wahnsinnig geworden! Hände weg von der Lady! Ich rufe die Polizei.“
„Das wirst du nicht tun, sonst drücke ich wirklich zu. Sie muss endlich kapieren, dass es mich den Kopf kostet, wenn sie mir nicht hilft.“
William sah dem Grobian an, wie verzweifelt er inzwischen war und sagte barsch. „Aber wenn doch nichts mehr da ist, was sie Ihnen geben könn…“,.
Rupert unterbrach ihn und stellte sich vor ihm auf. „Hör mal, du Schwätzer, schau mal aus dem Fenster und erzähl meiner Tante, was du da siehst!“ Er ergriff Williams Arm und zerrte ihn ans Fenster. „Und, alter Mann, nun erzähl schon?“ Und nach drei Sekunden: „Ich höre nichts!“
„Ich sehe nur eine weiße Limousine und zwei Männer mit Sonnenbrillen, die hier hoch gucken. Wer soll das sein?“, gab sich William naiv.
„Wer das sein soll? Das sind zwei Killer, die darauf warten, dass ich mit einer Tasche voll Geld aus dem Haus komme. Hast du dir diese Muskelprotze mal genauer angesehen?“
Lady Ashford hatte sich etwas aufgerichtet und nickte William zu. „Geben Sie ihm den Schmuck, bevor ich noch Schuld auf mich lade. Ich trenne mich sehr ungern von den Steinen, der Schmuck ist für mich wie ein Heiligtum. Aber ich kann ihn wahrscheinlich sowieso nicht mehr tragen. Und auf dem Totenbett brauche ich ihn auch nicht mehr. Mit 85 muss man sich so langsam von solchen Dingen trennen können.“
William begab sich zu dem antiken Sekretär, drückte, ohne dass Rupert etwas sehen konnte, zwei Knöpfe auf der Vorderseite und gleichzeitig einen auf der Seite eines Schubfaches. Sofort entriegelte sich eine Fläche von der Größe einer kleinen Schuhkartons. Er griff in das Fach und entnahm ihm eine Schatulle, die mit Känguruleder bezogen war. Er öffnete sie und reichte sie der alten Dame.
Sofort war Rupert zur Stelle, betrachtete gierig die funkelnden Steine, klappte den Deckel zu und entriss die Schatulle ihren Händen. William konnte das kaum mit ansehen, und der Lady standen wegen des rüpelhaften und undankbaren Verhaltens die Tränen in den Augen. Wenigstens kam Rupert ein flaues „Danke, Tante“ über die Lippen. Dann eilte er mit der Schatulle nach unten und auf die Straße.
William trat ans Fenster und beobachtete, wie plötzlich Leben in die beiden Gestalten kam. Sie begutachteten noch auf der Straße den Schmuck, stießen Rupert in den Fond des Wagens und fuhren davon. Als er die Rücklichter sah, musste er vor Erleichterung schmunzeln und schüttelte dabei den Kopf.
*
Der Vorfall hatte Lady Ashford so mitgenommen, dass sie einen Schwächeanfall erlitt. Im Hospital versuchte man, sie zu stabilisieren, aber sie schloss die Augen für immer, noch bevor die Medikamente ihre Wirkung entfalten konnten. Zwei Wochen nach ihrem Tod wurde das Testament durch Notar Henderson eröffnet.
„Sind wir die einzigen?“, fragte William.
„Ja, Sie beide und ihr Neffe Rupert Frost sind die einzigen Erben. Mr. Frost kann aber nicht erscheinen, die Polizei fischte ihn vorige Woche aus der Themse. Die näheren Umstände sind mir nicht bekannt. Der Yard hüllt sich wie immer in Schweigen, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind.
William tat betroffen wie jeder Mensch, der einen Bekannten verloren hat, aber innerlich machte sich Befriedigung breit. Hat doch ganz gut funktioniert, stellte er für sich fest und atmete tief durch. Wie sich doch Probleme lösen, wenn man nur ein bisschen nachhilft, da muss man sich nicht einmal strafbar machen.
Endlich las Henderson das Testament vor: „Soweit es Sie betrifft, erben Sie den Hausstand der von Ihnen bewohnten Räume, also das Mobiliar und alle weiteren beweglichen Gegenstände.“ Margie fielen die Mundwinkel kaum sichtbar nach unten, während Williams Lippen Erleichterung vermuten ließen.
Als sie wieder zu Hause waren, konnte sich Margie nicht mehr zurückhalten. „Die geizige Ziege hätte uns wenigstens ein paar Pfund hinterlassen können. So dürfen wir noch das alte Gerümpel für sie entsorgen.“
„Sieh es mal nicht so dramatisch. Das alte Gerümpel, wie du es nennst, ist antik, ich schätze spätes 19. Jahrhundert, und so, wie wir es gepflegt haben, kann man es sicherlich gut verkaufen können.“
„Na, dein Wort in Gottes Ohren!“
„Aber da gibt es etwas, was uns aller Sorgen entledigt. Du …“
„Unser Erspartes ist wieder da?“
„Mehr als das. Nach dem vorletzten Besuch dieses Rüpels habe ich die Schatulle mit dem Schmuck an mich genommen. Ich habe gewusst, dass Mylady sie ihm irgendwann geben würde, damit er seine Spielschulden begleichen kann. Das konnte ich nicht zulassen.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, wandte Margie ein. „Den Schmuck hat sich doch dieser Unhold geholt. Wir haben doch noch darüber gesprochen.“
„Nein, du irrst, weil du nicht die ganze Geschichte kennst. Ich habe sie dir ja vorenthalten, um dich zu schützen, falls etwas schiefgeht.“
„Na, jetzt bin ich aber gespannt. Habe gar nicht gewusst, dass du zaubern kannst.“
„Nun hör mir doch mal zu! Ich bin mit dem Schmuck und unserem Ersparten nach London zu einem renommierten Juwelier gefahren und eine Kopie in Auftrag gegeben. Schlussendlich habe ich den Schmuck ausgetauscht. Neffe Rupert hat also das Glasperlenarrangement mitgenommen, während der kostbare Originalschmuck zwischen unseren Betttüchern versteckt ist. Nun sind wir offizielle Erben, denn uns gehört alles, was sich in dieser Wohnung befindet.“
„Und warum hast du den Schmuck nicht zurückgegeben?“
„Das wollte ich persönlich tun, wenn sie wieder zu Hause ist. Ich hätte dann auch die Herstellungskosten zurückverlangt. Aber dazu kam es ja nicht mehr.“
„Oh William, da muss ich jetzt gleich mal nachgucken.“
„Wo ist sie?“
„Entschuldigung, Sir?" Jetzt erst erkannte er den ungebetenen Gast. "Ach, Sie schon wieder. Und was gibt Ihnen das Recht, einfach so hier hereinzuplatzen.“
„Quatsch nicht, alter Mann. Sag mir lieber, wo die alte Schachtel ist! Ist sie überhaupt zu Hause?“
„Was, bitte, wollen Sie von ihr?“
„Das muss ich dir nicht erklären. Also: Wo steckt das alte Fell?“ Ich frage nicht noch einmal.“
„Sie ist bettlägerig, wie Sie wissen. Sie hat gerade ihre Tabletten genommen, und danach ist sie immer etwas benommen. Sie schläft. Würde es Ihnen etwas ausmachen, später noch einmal wiederzukommen?“
„Opa, du hast die Lage noch nicht erkannt. Ich muss sie jetzt sprechend. Es ist sehr dringend, kapier das endlich.“
„Ganz wie Sie wünschen“, gab sich William geschlagen. Seine Frau Margie saß verängstigt in ihrem Lesesessel, ein geöffnetes Magazin auf dem Schoß, und überlegte, wie sie diesen Rüpel aus dem Haus schaffen könnte. Aber sie fand nicht einmal eine Lösung, die Lage zu deeskalieren, und entschied daher, lieber zu schweigen.
„Na los, nun mach schon! Worauf wartest du? Sag ihr, ihr Neffe Rupert sei da und sein Besuch hätte einen sehr wichtigen Grund.“
„Wie Sie wünschen, mein Herr“, kam es ihm kaum hörbar über Williams Lippen. Er stieg gemächlich die Treppe hoch und klopfte an Lady Ashfords Tür.
Rupert ging das zu langsam. Er stürmte die Treppe hinauf, schob William zur Seite und stieß die Tür auf. Wortlos ging er auf Lady Ashfords Bett zu, und als er sah, dass ihre Augen geöffnet waren, versuchte er freundlich zu sein.
„Hallo Tante, ich bin’s, Rupert, dein Neffe. Wollte dich mal besuchen, um zu sehen, wie es dir geht.“
„Du hast mir gerade noch gefehlt“, erwiderte die alte Dame und verdrehte dabei die Augen. „Als würde dich interessieren, wie es mir geht. Wolltest mal schauen, ob ich schon im Sterben liege, du Erbschleicher.“
„Ich erschleiche nichts, Tante, ich bin dein einziger Erbe.“
„Ja, das bist du, und deshalb bist du hier, um schon mal was abzuholen. Ich kenne dich doch. Jedesmal wenn du hier erscheint, brauchst du Geld. Aber ich sage dir gleich, diesmal kann ich dir nichts geben. Ich bin selbst so gut wie pleite.“
„Das sagst du immer, damit du nichts rausrücken musst. Tante, ich habe ein wirklich großes Problem. Ich brauche ganz schnell Geld, nur 12.000 Pfund, Tante, bitte, ein letztes Mal.“
„Ich habe nichts mehr.“
„Oh nein, Tante, du hast noch mehr als genug. Du willst mir nichts geben, und das finde ich fies.“
„Du warst in den letzten drei Jahren vier Mal bei mir, und jedesmal habe ich den letzten Guinea für dich locker gemacht. Irgendwann ist mal Schluss. Die Zeiten sind schlecht, alles wird teurer.“
„Tante, bitte, ich habe Spielschulden. Du weißt, dass mit diesen Leuten nicht zu spaßen ist. Wenn ich die 12.000 Pfund nicht herbeischaffe, hacken sie mir ein paar Finger ab. Willst du das?“
„Ich habe es dir bereits gesagt, meine Möglichkeiten sind erschöpft.“
„Ich weiß doch, dass du Aktien besitzt. Und das Haus.“
„Mit den Aktien finanziere ich meinen Lebensunterhalt, und das Haus ist mit einer Hypothek belastet, die ich bedienen muss. Beides gehört sowieso schon der Bank. So, und jetzt geh.“
„Willst du, dass ich mich selber auf die Suche mache und dein Haus umkremple?“
„Kannst du tun, wenn du alles wieder so zurückräumst, wie du es vorgefunden hast.“
Rupert war entnervt, verzweifelt und zitterte am ganzen Leib. Als er sich ein wenig gefasst hatte, kündigte er ihr an, dass er in vier Wochen wiederkommen würde, um die 12.000 Pfund abzuholen. „Mach irgendwas flüssig! Es ist mir egal, was es ist. Hauptsache, ich kriege das Geld.“ Danach war es mucksmäuschenstill im Raum. Als er sich von Lady Ashford abwandte, hielt ihm William die Tür auf. Doch bevor er die Treppe erreichte, machte er sich noch einmal Luft: „Wenn es schlimm kommt, hast du vielleicht bis dahin gar keinen Erben mehr. Überleg dir, was du tust.“
„Was für ein unsympathischer Knochen!“, schimpfte William vor sich hin. „Dieser Taugenichts wird ihr noch das Letzte nehmen, was ihr im Leben geblieben ist.“ Und er dachte dabei an die mit Känguruleder überzogene Schatulle in ihrem Sekretär, in der sich zwei komplette Sets Familienschmuck befanden, jeweils bestehend aus goldenen Ohringen, einem Collier, einer Brosche und einem Ring. Sie mochten „nackt“ jene 12.000 Pfund bringen, die dieser gemeine Kerl forderte, wesentlich wertvoller als das Gold aber waren die beiden daumennagelgroßen Diamanten, die jedes Collier zierten. William hatte keine Ahnung, wieviel diese wert sein mochten. Er hatte mal im Fernsehen eine Sendung gesehen, in der ähnlich aussehende Stücke versteigert wurden, und wenn er von den Preisen ausging, die dort erzielt wurden, so ließ sich das Konvolut auch wegen der zahlreichern kleineren Steine auf mehrere hunderttausend Pfund hochrechnen.
Es entsprach der Treue zu seiner Dienstherrin, die edlen Stücke dem Zugriff Ruperts zu entziehen. Er wusste im Augenblick nur noch nicht, wie er das anstellen sollte. Mit Lady Ashford darüber zu reden, erschien ihm ziemlich sinnlos. So wie er sie einschätzte, würde sie niemandem auf der Welt die Schatulle zur Verwahrung anvertrauen. Und nur weil das so war und nicht anders, fasste William einen eigenwilligen Entschluss. Er würde die Preziosen bei sich verwahren, ohne dass sie etwas davon merkte. Das war nicht einmal illegal, handelte er doch in ihrem Interesse. Und mit großer Wahrscheinlichkeit würde sie die Verbringung an einen anderen Ort niemals bemerken. Zu welchem Zweck sollte sie den Schmuck aus seinem Versteck nehmen wollen? Um ihn zu tragen? Sie konnte sich kaum auf zwei Beinen halten, schon gar nicht laufen und wäre restlos überfordert gewesen für einen Theaterbesuch oder ähnliches. Rollstuhl hin oder her. Außerdem hatte sie keinerlei Bedürfnisse, sich in ihrem Zustand unter die Leute zu mischen, und deshalb die Schmuckstücke seit Jahren nicht mehr angefasst .
*
Drei Wochen später:
„William, was ist hier los?“, fragte Margie und stellte das Bügeleisen zur Seite. „In dem Jackett, das du mir zum Abbürsten gegeben hast, haben unsere Kontoauszüge gesteckt. Du hast unser ganzes Gespartes abgehoben? Wofür?“
William hievte sich aus seinem Sessel und trat zu ihr. „Ja, Marge, ich musste das tun. Ich bitte dich, frag nicht weiter. Das Geld ist nicht weg.“
„Ja, ich weiß, weg ist es nicht, es hat nur ein anderer“, kam es ironisch. „Wir können nicht einmal den Umzug bezahlen, wenn die Lady stirbt. Was hast du nur getan?“
„Nun beruhige dich doch, Marge. Ich schwöre dir, es ist nicht weg. Und jetzt bitte ich dich, keine Fragen mehr zu stellen. Ich habe noch nie dein Vertrauen missbraucht, das weißt du, also vertrau mir auch jetzt. Das Geld wird eines Tages wieder auftauchen.“
„Hoffentlich erlebe ich diesen Tag noch. Jetzt wird mir auch klar, warum du in den letzten Wochen soviel in der Stadt unterwegs warst.“
„Ja, das hat damit zu tun, und jetzt – Silentium! Ich will nichts mehr hören!“
Margie fügte sich und schwieg. Noch nie hatte sie Streit mit ihrem Mann, schon gar nicht wegen Geld. Trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl in der Bauchgegend. „Hoffentlich dreht er kein krummes Ding“, murmelte sie vor sich hin, während sie fortfuhr zu bügeln.
Die Zeit verging, und auf den Tag pünktlich erschien Rupert nach vier Wochen. Er ließ den Finger auf der Klingel, bis William öffnete. Dann drängte er sich wie zuvor ins Haus.
„Lebt sie noch, die alte Fregatte?“
„Wie reden Sie denn von Ihrer Tante!“, fuhr William ihn an. „Geht’s vielleicht mit einem bisschen mehr Respekt?!“
„Ich will doch nur wissen, wann sie endlich stirbt, W i l l i a m“, verhöhnte er nun auch den Butler. „Bleib hier, ich schau selber nach.“ Er eilte ins Obergeschoss, stieß die Tür auf und donnerte gleich los. „Hallo Tante, hast du das Geld?“
„Welches Geld, du Flegel?“
„Du hast das Geld nicht? Weißt du, was das für mich bedeutet? Ich bin so gut wie tot!“ Kaum hatte er ausgesprochen, begann er in der Hoffnung, Bargeld oder Wertgegenstände zu finden, die Schubladen der Kommode und des Sekretärs zu durchstöbern.
William war inzwischen ebenfalls anwesend und verfolgte mit zornigen Blicken, wie das Zimmer auf den Kopf gestellt wurde. Als Rupert mit der Suche fertig war, trat er an Lady Ashfords Bett und legte ihr seine rechte Hand um den Hals.
William schritt sofort ein. „Sind Sie wahnsinnig geworden! Hände weg von der Lady! Ich rufe die Polizei.“
„Das wirst du nicht tun, sonst drücke ich wirklich zu. Sie muss endlich kapieren, dass es mich den Kopf kostet, wenn sie mir nicht hilft.“
William sah dem Grobian an, wie verzweifelt er inzwischen war und sagte barsch. „Aber wenn doch nichts mehr da ist, was sie Ihnen geben könn…“,.
Rupert unterbrach ihn und stellte sich vor ihm auf. „Hör mal, du Schwätzer, schau mal aus dem Fenster und erzähl meiner Tante, was du da siehst!“ Er ergriff Williams Arm und zerrte ihn ans Fenster. „Und, alter Mann, nun erzähl schon?“ Und nach drei Sekunden: „Ich höre nichts!“
„Ich sehe nur eine weiße Limousine und zwei Männer mit Sonnenbrillen, die hier hoch gucken. Wer soll das sein?“, gab sich William naiv.
„Wer das sein soll? Das sind zwei Killer, die darauf warten, dass ich mit einer Tasche voll Geld aus dem Haus komme. Hast du dir diese Muskelprotze mal genauer angesehen?“
Lady Ashford hatte sich etwas aufgerichtet und nickte William zu. „Geben Sie ihm den Schmuck, bevor ich noch Schuld auf mich lade. Ich trenne mich sehr ungern von den Steinen, der Schmuck ist für mich wie ein Heiligtum. Aber ich kann ihn wahrscheinlich sowieso nicht mehr tragen. Und auf dem Totenbett brauche ich ihn auch nicht mehr. Mit 85 muss man sich so langsam von solchen Dingen trennen können.“
William begab sich zu dem antiken Sekretär, drückte, ohne dass Rupert etwas sehen konnte, zwei Knöpfe auf der Vorderseite und gleichzeitig einen auf der Seite eines Schubfaches. Sofort entriegelte sich eine Fläche von der Größe einer kleinen Schuhkartons. Er griff in das Fach und entnahm ihm eine Schatulle, die mit Känguruleder bezogen war. Er öffnete sie und reichte sie der alten Dame.
Sofort war Rupert zur Stelle, betrachtete gierig die funkelnden Steine, klappte den Deckel zu und entriss die Schatulle ihren Händen. William konnte das kaum mit ansehen, und der Lady standen wegen des rüpelhaften und undankbaren Verhaltens die Tränen in den Augen. Wenigstens kam Rupert ein flaues „Danke, Tante“ über die Lippen. Dann eilte er mit der Schatulle nach unten und auf die Straße.
William trat ans Fenster und beobachtete, wie plötzlich Leben in die beiden Gestalten kam. Sie begutachteten noch auf der Straße den Schmuck, stießen Rupert in den Fond des Wagens und fuhren davon. Als er die Rücklichter sah, musste er vor Erleichterung schmunzeln und schüttelte dabei den Kopf.
*
Der Vorfall hatte Lady Ashford so mitgenommen, dass sie einen Schwächeanfall erlitt. Im Hospital versuchte man, sie zu stabilisieren, aber sie schloss die Augen für immer, noch bevor die Medikamente ihre Wirkung entfalten konnten. Zwei Wochen nach ihrem Tod wurde das Testament durch Notar Henderson eröffnet.
„Sind wir die einzigen?“, fragte William.
„Ja, Sie beide und ihr Neffe Rupert Frost sind die einzigen Erben. Mr. Frost kann aber nicht erscheinen, die Polizei fischte ihn vorige Woche aus der Themse. Die näheren Umstände sind mir nicht bekannt. Der Yard hüllt sich wie immer in Schweigen, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind.
William tat betroffen wie jeder Mensch, der einen Bekannten verloren hat, aber innerlich machte sich Befriedigung breit. Hat doch ganz gut funktioniert, stellte er für sich fest und atmete tief durch. Wie sich doch Probleme lösen, wenn man nur ein bisschen nachhilft, da muss man sich nicht einmal strafbar machen.
Endlich las Henderson das Testament vor: „Soweit es Sie betrifft, erben Sie den Hausstand der von Ihnen bewohnten Räume, also das Mobiliar und alle weiteren beweglichen Gegenstände.“ Margie fielen die Mundwinkel kaum sichtbar nach unten, während Williams Lippen Erleichterung vermuten ließen.
Als sie wieder zu Hause waren, konnte sich Margie nicht mehr zurückhalten. „Die geizige Ziege hätte uns wenigstens ein paar Pfund hinterlassen können. So dürfen wir noch das alte Gerümpel für sie entsorgen.“
„Sieh es mal nicht so dramatisch. Das alte Gerümpel, wie du es nennst, ist antik, ich schätze spätes 19. Jahrhundert, und so, wie wir es gepflegt haben, kann man es sicherlich gut verkaufen können.“
„Na, dein Wort in Gottes Ohren!“
„Aber da gibt es etwas, was uns aller Sorgen entledigt. Du …“
„Unser Erspartes ist wieder da?“
„Mehr als das. Nach dem vorletzten Besuch dieses Rüpels habe ich die Schatulle mit dem Schmuck an mich genommen. Ich habe gewusst, dass Mylady sie ihm irgendwann geben würde, damit er seine Spielschulden begleichen kann. Das konnte ich nicht zulassen.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, wandte Margie ein. „Den Schmuck hat sich doch dieser Unhold geholt. Wir haben doch noch darüber gesprochen.“
„Nein, du irrst, weil du nicht die ganze Geschichte kennst. Ich habe sie dir ja vorenthalten, um dich zu schützen, falls etwas schiefgeht.“
„Na, jetzt bin ich aber gespannt. Habe gar nicht gewusst, dass du zaubern kannst.“
„Nun hör mir doch mal zu! Ich bin mit dem Schmuck und unserem Ersparten nach London zu einem renommierten Juwelier gefahren und eine Kopie in Auftrag gegeben. Schlussendlich habe ich den Schmuck ausgetauscht. Neffe Rupert hat also das Glasperlenarrangement mitgenommen, während der kostbare Originalschmuck zwischen unseren Betttüchern versteckt ist. Nun sind wir offizielle Erben, denn uns gehört alles, was sich in dieser Wohnung befindet.“
„Und warum hast du den Schmuck nicht zurückgegeben?“
„Das wollte ich persönlich tun, wenn sie wieder zu Hause ist. Ich hätte dann auch die Herstellungskosten zurückverlangt. Aber dazu kam es ja nicht mehr.“
„Oh William, da muss ich jetzt gleich mal nachgucken.“