Laut!

Laut!
Laut!​
namaste

namaste

namaste!

All die Menschen in Kopernikus randalierten in Lal, Klôd und Án und da sie indischer Herkunft waren, randalierten sie zumeist auf Hindi. Hallo, hallo, hallo! Entnervt rannten die drei Freunde durch die noch offene Mehrdim-Verbindung zurück auf den Dorfplatz. Es regnete und aus unerfindlichen Gründen stank der Regen nach Reinigungsmitteln. Zweiter Versuch!
Namaste
Hallo, aber nicht mehr unerträglich. Hand in Hand spazierten sie vom Portal am Rondell Thackeray über die um den Platz gelegten Galerien bis zu dem Restaurant, in dem Lal den Beginn ihres neuen Lebens feiern wollte.
Namaste
Namaste
Namaste
Das halbe Tiefgeschoss von Kopernikus schien sich im »Rosa Rosa« versammelt zu haben und alle plapperten durcheinander und plapperten in den Köpfen von Lal und seinen Freunden. Lals Mutter drückte es an sich. Alle weinten und niemand konnte sagen, ob sie vor Freude oder Leid weinten. Lal, Án und Klôd waren nicht mehr still und die Gäste im Restaurant nahmen sie in die Menschheit auf, die seit der Einführung von Implantaten und Interface nicht mehr still war.
Jetzt erlebt ihr, was die Menschen am Beginn des Insan durchmachten, evozierte Shankar.
Nicht mehr still zu sein.
Nicht mehr still.
Nicht still.
Laut!
Mit allen vereint.
Ein Gedanke genügte und der Datenraum soufflierte Án und Klôd Übersetzungen aus dem Hindi und schlug ihnen Worte vor. »Dhanyavaad!«, hauchte Klôd. Danke!
Nicht mehr still.
Der Eigentümer des »Rosa Rosa« eilte herbei und als er erfuhr, warum Lal und all seine Freunde feierten, rief er: »Die Rechnung geht aufs Haus.« Abzulehnen hätte ihn tödlich beleidigt, doch Lal hielt sich mit Essen und Trinken zurück. So taten es auch Án und Klôd.
»Sie sind müde«, sagte Lals Mutter.
Danke!
Das Gästezimmer in Luters Haus musste genügen, bis sie eine passende Wohnung gefunden hatten. Doch sie avenzten zum Bladen nach Tycho. Am Portal auf dem Platz des namenlosen Dorfes schlüpften sie in ihre Blades.
»Au!«, machte Án. Klôd und Lal grienten, Án zog den rechten Blade an und lächelte. Die Blades waren mit ihnen ins Interface gegangen und hatten sich selbsttätig um ihre Füße gelegt. Es zu denken genügte, damit die Verschlüsse einrasteten, das lästige Fummeln war nicht nötig. Nur der Systemtest erfolgte mit Hand und Computer, unabhängig von den zu testenden Systemen.

alle
Systeme
bereit


stand auf Lals winzigem Display und was für Systeme! Die Sensoren der Rollen ließen es den rauen Untergrund des Dorfplatzes spüren und die Intensität der Wahrnehmung konnte es einstellen. Mit Andenken. Die Schwerkraft ließ sich dimmen. Sie hatten sich seinerzeit die teuren Blades mit Schwerkraftaufhebung gekauft, um sich etwas zu gönnen. Obwohl sie still waren. Lal hatte so gut wie nie den manuellen Regler benutzt. Mit Andenken war es viel thrilliger. Leicht und leichter glitten sie über das holprige Pflaster um das Portal und fast über einen einsamen Benutzer.
- Au! -
Menschen konnten auch Wut evozieren.
Grimmig stapfte der Mann davon.
Es wurde Zeit, dort zu bladen, wo es alle taten.
Bladeten sie durch die Crescent Road oder bladete die Crescent Road durch sie? All die Menschen glitten auf ihren Blades über die Straße und durch ihren Geist. All die Blader waren eins, denn sie bladeten ebenso im Interface von Geist zu Geist wie auf der Straße in Fleisch und Blut. All die Blader sahen einander, sahen die anderen durch ihre Augen und sahen sich durch die Augen der anderen. All die Blader erinnerten sich daran, wie sie vorher über die Crescent Road geglitten waren, erinnerten sich an ihre eigenen Blades und teilten die Erinnerungen all der anderen Blader. All die Blader glitten im Hier und Jetzt über die Crescent Road und all ihre Abbilder aus vergangenen Blades glitten über die Crescent Road im Datenraum, ein unaufhörlicher Strom aus Materie und Information.
Lal, Án und Klôd hatten nicht gewusst, was bladen war.
Weil sie still gewesen waren.
Wie tot.
Der Ordner hatte gewusst, was Lal versagt gewesen war, als es ihm sagte, dass es still war.
Lal hatte es nicht gewusst.
Jetzt wusste Lal es.
Weil es nicht mehr still war.
Die sonst so nervigen Gedanken der Leute um sie herum vereinigten sich auf der Crescent Road und im Datenraum zu Leuchten, Vibrieren und Gleiten, dem leisen Schnurren der Rollen und hellem Lachen der Blader, schwungvollem Aufholen und gemächlichem Dahinbladen. Ehrgeizlinge machten Tempo, Schaulustige schauten und Schönlinge ließen sich anschauen. Jeder Blader wusste, wo und in welche Richtung die anderen bladeten, wich ihnen aus oder umkreiste sie. Jemand packte einen nur mit Höschen und Bikini bekleideten Nachbau an der Hand und pflückte ihn unter dem Gelächter und Gejohle der Blader ringsum aus dem Strom. Ach, der Nachbau (eine Frau, die früher ein Mann gewesen war) hatte solche Spielchen schon vorher mit sich machen lassen und sie im Datenraum verewigt. Lal fasste Klôd um die Schultern und spürte Áns schmale Hände auf seinen Schultern. Es spürte auch die Hände der hageren Frau, die sich Án anschloss und die Hände ihres Mannes. Immer länger wurde die Polonaise und schlängelte sich in S-Windungen zwischen den anderen Bladern hindurch. Klôd machte eine Kehrtwendung und legte seine Hände dem letzten Blader in der Kette auf die Schultern. Sie formten ein Mandala mit Einbuchtungen und Wölbungen und bladeten bis - nein, es war nicht die Stille, sondern das, was nach einem besonders intensiven Interface kam.
Leere.
Lal schlurfte zum Portal, Blades und Helm unter dem Arm. Ach ja, sie mussten vom Dorf noch den ganzen Weg zu Luters Haus latschen. Auf dem Weg sprach keiner ein Wort. Dachten sie überhaupt? Lal war sich nicht sicher. Grob fuhrwerkte Luter in ihrem Geist herum. »Aha!« Bräsig nickte er. »Das geht vorbei.«

Die Luft in ihrem neuen Zuhause roch nach nichts. Das Appartement war lange im Zeitstillstand gewesen. Die Verwalterin drückte auf einen Knopf und lautlos glitten die schweren Jalousien vor dem Panoramafenster im Wohnzimmer nach oben. Es war Mondnacht. Riesig und geheimnisvoll leuchtete die Erde inmitten unzähliger Sterne in das Zimmer und tauchte alles in magisches Weiß und Blau.
»Als die Menschen auf den Mond kamen, waren die Appartements in der Außenwand des Tycho-Kraters der letzte Schrei«, erzählte die Verwalterin. »Damals war der Mond noch nicht umgeformt und hinter dem Fenster war keine Luft. Das fanden sie besonders schick.«
Das war in den Anfängen des Insan gewesen, als die Menschen nicht mehr still waren. Klôd hatte im Datenraum Erinnerungen einiger Menschen von damals gefunden, die in diesen Appartements gelebt hatten. Auch einen der ersten Filme, die zugleich Holo und Ereignis waren. Er handelte von einer Familie, die auf den Mond zog, um ihrem Leben wieder Schwung zu geben. »The Lunatics« hieß er.
»Es sind schon Leute verdurstet, weil sie im Datenraum vergessen haben, etwas zu sich zu nehmen!«
Lal boxte Klôd mit dem Ellenbogen in die Seite.
Einige Zeit, nachdem »The Lunatics« entstanden war, war der Mond mit einer Atmosphäre und einer Schutzhülle aus virtueller Materie versehen worden. Moden hatten sich geändert und der Pioniergeist der Menschen tobte sich nun auf Welten wie Kirschblüte aus. Die Appartements an der Außenseite von Tycho wurden als Läden und Büros genutzt oder standen zum Verkauf. Án hatte ihre Beteiligungen aufgelöst, um die Anzahlung auf das Appartement zu leisten und den Rest würden sie, Lal und Klôd im Mietkauf abzahlen.
Hier draußen waren all die Menschen im Inneren des Kraters für Lal und seine Freunde wie das Rauschen von Wind. Mal war es stärker, mal verstummte es, doch mensch gewöhnte sich daran. Die wenigen Menschen in ihrer Nachbarschaft waren allenfalls wie das Zwitschern von Vögeln. Vögel selbst? Wenn Lal die Augen schloss und sich weit aufmachte, fühlte es nicht nur die Menschen um es herum, sondern auch Tiere und sogar Pflanzen. Alles, was lebte war wie ein Wind, mal sanft und gleichmäßig, mal heftig und unbeständig. Weit weg, jenseits der Welt der Menschen, tosten gewaltige Orkane aus Leben und Intellekt. Es war erst der Anfang.
Für Lal und seine Freunde.
Für die Menschen.
Sie waren nicht mehr still!
Nie mehr still!
Nie wieder!
»Wir haben uns dafür entschieden, weil wir die Ruhe suchen«, erklärte Án. Ihr Haar hatte das natürliche Hellblond und sie trug ein bodenlanges violettes Kleid aus feinmaschigem Netzstoff. Darunter zeichnete sich ihr nackter Leib ab. Klôd hatte ein Kleid im gleichen Stil und mensch hätte sie für Geschwister halten können. Lal trug ein in Kopernikus bei allen Geschlechtern beliebtes schwarzes Vorhangkleid. Die Verwalterin ließ verstohlen den Blick zwischen ihnen wandern, von Klôd zu Án und zu Lal, wieder zu Lal. Sie war auf Lal scharf! Es griff hinter den Rücken und zog das Kleid zu einer schmalen Stoffbahn zusammen, die von der flachen Brust bis zu den Füßen reichte. Sein übriger Leib war nackt und bloß und der Verwalterin traten fast die Augen aus den Höhlen. Lautloses Kichern erfüllte den Geist der drei Freunde. Klôd erbarmte sich: »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»O ja, gern!«
Tisch und Stühle entfalteten sich aus dem Boden. »Solide Materie«, erklärte die Verwalterin, »keine virtuellen Möbel.« Sie setzte sich in einen Stuhl, Lal nahm auf seiner Lehne Platz. Es warf das zusammen gezogene Vorhangkleid wie einen Schal über die nackte Schulter und schlug die Beine übereinander. Auf seiner Wange saß ein frisches Pflaster mit dem Hemmer. Die Verwalterin legte ihren Arm auf seinen samtigen Schenkel und ließ sich von Klôd und Án bedienen. Schwer und duftend strich Lals Haar wie flüssige Nacht über ihre knochigen Schultern. Sie lächelte. Wie ein heißes Messer stach Begehren durch Lal. Ihr Begehren, ihr Verlangen. Lal brauchte einen Moment, bis es das begriff.
Nicht mehr still.
Nicht mehr im eigenen Gehirn eingesperrt.
Freude und Dankbarkeit hielten es nicht in Lal. Tiefe Röte überzog das Gesicht der Verwalterin. Lal hatte ihr ihre Geschichte evoziert. Irgendwann hatte sie eine Dokumentation über Stille gesehen und nicht glauben können, dass es sie wirklich gab.
Nun ja, sie waren nicht mehr still.
Geplauder und Begrabschen folgte und endlich wusste Lal von Geist zu Geist, was seine Freier an ihm fanden. Lange Haare. Samtige Haut spannte sich über Rippen und Schlüsselbeinen. Wohl geformte Schultern. Es massierte ihre Schultern und den Halsansatz. Langsam glitt es von der Lehne und begleitete sie zur Tür. Die drei waren wieder allein. In ihrem Geist schien sich ein Knoten zu lösen. Schon die fordernde Präsenz eines einzigen Menschen konnte sie belasten. »Datenraum ist einfacher.« Lal und Án sahen Klôd warnend an. »Ja, ich weiß.«
Blau und weiß, grün, braun und grau schimmerte die Erde über endlosen Getreidefeldern. Hohe Bäume säumten schmale Feldwege und warfen lange Schatten in das fahle Erdlicht. Bis zum eng gekrümmten Horizont gab es keine größeren Siedlungen. Auch das war ein Grund, warum die drei Freunde nun hier lebten. Lal überlegte, dass sie nicht mehr still waren, aber Geschöpfe der Stille bleiben würden.
 



 
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