Lycanthropulus
Ein widerwärtiger Tag war das. Kalt, grau und nass - wie eine tote Ratte in der Regentonne. Kemmetmüller stand mit hochgeschlagenem Kragen unter dem Vordach des Bibliotheksportals. Hin und wieder schaute er auf die Uhr, dann die Straße hinab, die Straße hinauf … wieder auf die Uhr. Und wenn er das einmal durch hatte, seufzte er tief. Er hätte ja lieber geflucht, aber vielleicht tat er ihr damit Unrecht. Vielleicht konnte sie ja gar nichts dafür - war aufgehalten worden oder so …
Andererseits: so lange hatte Ricarda ihn noch nie warten lassen. Fast eine Stunde jetzt. Er presste die Lippen zusammen und schlenkerte ein wenig mit der Aktentasche. Nicht zu wild, damit die Leute nicht guckten - oder Anlass zum Gucken haben könnten. Er stand sowieso schon viel zu lange hier draußen. Mit Sicherheit sah das merkwürdig aus für jemanden, der ihn beobachtete.
Sollte er noch einmal hineingehen und dort warten? Besser nicht. Ricarda würde sicher nicht anhalten, wenn sie ihn nicht vor der Tür stehen sah. Und er würde nicht schnell genug wieder draußen sein, um ihr zu winken.
Kemmetmüller drehte sich um, schaute steil nach oben und las zum x-ten Mal die Goldschrift über dem Eingang: "Der Kunst und dem Volke". Er lächelte schwach. Das war doch was - oder?
Die große Glastür unter der Schrift öffnete sich. Kotlewsky kam heraus und tänzelte leichtfüßig die Treppe hinunter. Kotlewsky war sein Büronachbar. Er betreute die Slavistik-Abteilung und Kemmetmüller die Altgriechische Literatur.
"Na Bruno, hat dich deine Frau vergessen?"
Kemmetmüller spürte wie er leicht errötete – und sich plötzlich unbehaglich zu fühlen begann. Wenn er auch nicht genau wusste, warum.
"Nee nee, Gerhard, hat sich wohl nur ein bisschen verspätet. Die kommt schon noch", rief er und nickte betont zuversichtlich.
Kotlewsky hielt inne, schien einen Moment lang zu überlegen und trat zu Kemmetmüller hin. Er stellte seine Aktentasche zwischen die Beine und zündete sich eine Zigarette an.
"Eine rauch ich noch mit dir. Dann musst du nicht so alleine hier rum stehen."
"Ja danke, ist ganz schön nervig bei dem Wetter."
Kotlewsky nahm einen tiefen Zug, pustete den Rauch rücksichtsvoll nach oben und sagte:
"Passiert immer öfter in letzter Zeit, was?"
"Was?"
"Na, dass deine Frau sich verspätet, wenn sie dich abholen soll."
Kemmetmüller zuckte verlegen die Achseln. Kotlewsky hatte recht, aber das gab man natürlich nicht gerne zu.
"Och joh, eigentlich … ich meine, ich führ da nicht Buch drüber. So was kommt schon mal vor - oder?"
"Und jedesmal lässt sie dich länger warten, stimmts?", forschte Kotlewsky weiter.
"Pffh", Kemmetmüller blies die Backen auf und breitete die Arme aus. "Weiß nicht, kann schon sein. Was…".
"Und heut hat sie dich sogar ganz vergessen." Es klang wie eine sichere Feststellung und fühlte sich an wie ein Dolchstoß zwischen die Rippen der Seele. Kemmetmüller schwieg und sah aus, als wolle er jeden Moment davonrennen. Aber Kotlewsky legte ihm in einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter.
"Hast du dir schon mal Gedanken drüber gemacht, warum das so ist?", fragte er ernst.
"Gedanken…? Ich weiß nicht. Wir sind jetzt acht Jahre verheiratet. Da ist es natürlich nicht mehr so wie am Anfang. Da schleift sich manches ab. Moment, ich glaub ...", er drehte sich nach einem vorbeikommenden roten Kombi um und schaute so, als ob es Ricarda hätte sein können.
"Blödsinn! Und das weißt du!", knurrte Kotlewsky barsch. Er bohrte sich den Daumen in die eigene Brust und sagte: "Ich! Ich hab mir Gedanken gemacht. Und weißt du warum?"
Kemmetmüller schüttelte zaghaft den Kopf.
"Weil's mir genauso ging! Darum. Weil ich immer mit dem Bus fahren musste, wenn meine Frau das Auto zum Spazierenfahren brauchte und weil ich meinen Geburtstagskuchen selber backen musste und … und ich sag dir, es liegt an uns selbst!"
"An uns?"
"Mensch Bruno, hast du denn gar keine Ahnung vom Leben? Sieh uns doch mal an. Was sind wir? Bibliothekare! Blasse, schwächliche, blutarme Bücherwürmer. Leisetreter, Waschlappen! Nur ein Buchhalter ist noch fader als ein Bibliothekar. Das einzig Interessante an uns ist, dass wir jeden Monat unser Gehalt nach Hause bringen. Meinst du, dass sich irgendeine Frau so einen richtigen Mann vorstellt? Einen der sie beschützt? Der ihr überlegen ist? Zu dem sie aufschauen kann? Der sie begehrt und einfach nimmt, wenn ihm danach ist?"
"Gerhard, ich weiß nicht, ob das …", begann Kemmetmüller, aber Kotlewsky war richtig in Fahrt gekommen:
"Ich hab mir den Typ genau angesehen, mit dem ich Liselotte damals im Schuppen erwischt hab. Ein versoffener, ungepflegter Paketdienstfahrer war das. Unrasiert und mit einem karierten Hemd an, das wie ein alter Turnschuh gestunken hat. Aber er hat's ihr besorgt, dass sie die halbe Nachbarschaft zusammen geschrieen hat. Und sie ist zu ihm in sein Dreckloch gezogen und hat ihm acht Wochen lang die Unterhosen waschen dürfen, bevor er sie achtkantig wieder rausgeschmissen hat." Vom Rand des Vordachs tröpfelte Regenwasser und löschte seine Zigarette. Mit einer rabiaten Geste pfefferte er sie in die Blumenrabatten und schaute sich hastig um, als ihm bewusst wurde, dass er fast geschrieen hatte. Dann drehte er sich wieder zu Kemmetmüller, machte schmale Augen und hob den Zeigefinger.
„Und als Bärmeyers Frau dann das Kind von ihrem Fitness-Trainer gekriegt hat, da ist mir klar geworden, wo's bei mir gefehlt hat. Und bei dir übrigens auch."
"Wo denn?", fragte Kemmetmüller schüchtern. Kotlewskys Ausbruch machte ihm ein bisschen Angst.
"Der animalische Faktor! Das Tier im Mann! Das ist es, was die Frauen wirklich beeindruckt. Sie wollen den Wolf heulen und den Löwen brüllen hören, nicht das Piepsen eines Bücherwurms", er spuckte das letzte Wort aus wie eine ranzige Pistazie. "Männer wie uns verachten sie und benutzen uns nur als Dienstboten und Hofnarren."
"Aber du hast doch erzählt, dass Liselotte wieder bei dir ist und ihr euch prima versteht. Und du bist immer noch Bibliothekar."
"Das stimmt schon. Aber ich hab auch was getan dafür. Und wie du siehst, geht's mir jetzt blendend. Liselotte frisst mir aus der Hand; und wenn sich mal wieder jemand im Schuppen vergnügt, dann bin ich das und Liselotte ist stolz drauf, dass ich so einen Schlag bei den Frauen hab. So muss das gehen."
Kemmetmüller biss sich auf die Unterlippe und nickte zögernd. Da war was dran. Kotlewsky hatte sich verändert in letzter Zeit. Er wirkte irgendwie freier, dynamischer, männlicher. Die Art wie er sprach und sich bewegte, wie er immer im Mittelpunkt stand - souverän und dominant, locker und doch voller Spannkraft. Das war ein anderer Kotlewsky, als der, den er noch vor einem halben Jahr gekannt hatte.
"Und … was hast du getan?"
"Weißt du, ich beobachte dich schon eine ganze Weile, wie du immer hier stehst und wartest und von deiner Frau ignoriert wirst. Ich hab auch mitgekriegt, dass sie nie zu Hause ist, wenn du Mittags anrufst. Und du hast mir leid getan. Deshalb hab ich beschlossen, dir zu helfen und dich dran teilhaben zu lassen." Er bückte sich zu seiner Aktentasche hinunter nahm ein schmales, in brüchiges Leder gebundenes Buch heraus und reichte es Kemmetmüller.
"Hier, das hab ich letzten Winter im Bibliothekskeller gefunden. War ein reiner Zufall aber seitdem ist alles anders geworden."
"De Re Bestialica", las Kemmetmüller laut vor. Die Buchstaben auf dem Deckel waren in das Leder eingeprägt, aber von dem Gold, mit dem sie einst ausgelegt waren, konnte man nur noch Spuren erkennen. Das Buch musste sehr alt sein. "Sieht mir nach Alchimie oder Okkultismus aus", sagte er und verstaute es rasch in seiner eigenen Tasche - immerhin musste es sehr wertvoll sein, und so etwas durfte auch ein Bibliothekar nicht einfach mit nach hause nehmen.
"Weisheit!", verbesserte ihn Kotlewsky. "Uralte, vergessene Weisheit. Älter als der Quatsch, den einem die Eheberater erzählen. Ich hab dir an die entsprechende Stelle ein Lesezeichen gesteckt."
"Und um was geht's da?"
"Befreiung durch Verwandlung", sagte Kotlewsky geheimnisvoll. "Es ist ein Rezept, ein Ritus, um sich in jenes Wesen zu verwandeln, das eigentlich in einem selbst steckt. Es von seinen Ketten zu befreien und loszulassen … für eine kurze Zeit."
"Du spinnst."
"Wenn ich's doch sage. Seh ich aus wie jemand der phantasiert?“
"Und wenn … was soll das helfen?"
"Hast du eine Ahnung! Ich hab mich in einen riesigen Wolf verwandelt. Das Gefühl war unbeschreiblich, nachts durch den Wald zu stürmen, das Wild vor sich her zu hetzen. Dieses Gefühl von Macht und Kraft und Wildheit … ah, zu fühlen, dass man Muskeln hat und töten kann … könnte. Das Hetzen, das Jagen, diese pure ungebärdige Freiheit. Schon als ich nach dem ersten Mal heimgekommen bin, hat Liselotte es gespürt - gespürt, dass ich ein Sieger war, ein Leittier. Ich konnte sie mit ein paar Worten um den Finger wickeln. Und seitdem …", er breitete vielsagend die Arme aus.
"Du hast dich wieder zurück verwandelt?", sagte Kemmetmüller langsam.
"Ja klar, siehst du doch. Nach einer halben Stunde ist alles wieder vorbei. Aber eine Nacht im Monat reicht völlig aus, um den Zustand stabil zu halten und sich frei und stark zu fühlen"
"Und du bist zu einem Werwolf geworden?"
"Ja, weil es genau das Tier war, welches in mir verborgen lag. Schröder und Bärmeyer haben’s auch gemacht. Schröder war ein Luchs und Bärmeyer - du wirst's nicht glauben - ein Bär. Es kommt eben ganz drauf an, was in dir drin steckt."
"Hm."
"Man muss natürlich ein bisschen vorsichtig sein, wenn noch nicht klar ist, in was man sich verwandelt. Stell dir vor, du machst es zu Hause im Garten und wirst zu einem Tiger. Es wäre nicht so gut, wenn du die Nachbarskinder vor dir her hetzt", Kotlewsky lachte scheppernd. "Am Besten du fährst dazu ein Stück weit raus, in den Wald oder so, wo dir niemand begegnen kann. Man hat sich während der Transmutation nicht ganz so gut unter Kontrolle wie sonst, weißt du?"
Kemmetmüller sah ihn von unten herauf an. Er hatte immer noch den Verdacht, dass Kotlewsky ihn ganz gehörig verarschte. Aber warum? Sie waren immer die besten Freunde gewesen. So gute Freunde, wie Arbeitskollegen es nur sein konnten. Irgendwie musste es also schon ernst gemeint sein.
"Hm. Weißt du, so unzufrieden bin ich gar nicht mit meiner Situation. Ich meine, Ricarda ist eine sehr starke, selbstbewusste Frau, das stimmt schon. Aber das hat auch seine guten Seiten und man muss natürlich aufeinander eingehen, den anderen so nehmen wie er ist und…"
Kotlewsky legte den Kopf schief, als hätte er nicht richtig gehört. Und sein Blick triefte vor Mitleid und Verachtung. Kemmetmüller erkannte blitzartig, dass er gerade dabei war, seinen – wenn auch noch so unbedeutenden – Platz in der Gesellschaft aller richtigen Männer zu verlieren.
„Naja, ich kann ja mal rein gucken“, sagte er schnell und versuchte ein kerniges Lächeln.
"Und ich muss dann los", sagte Kotlewsky fröhlich. "Lies dir's durch, denk drüber nach und versuch's einfach mal. Würde mich freuen, wenn es dir auch hilft. Bis dann!", er drehte sich um und ging mit wehendem Mantel hinüber zum Bibliotheksparkplatz, wo er in sein Auto stieg und davon fuhr. In sein Auto … Kemmetmüller nickte nachdenklich.
Da war was dran.
Ein hektisches Hupen ließ ihn herumfahren. Ricarda war doch noch gekommen. Sie stand in der Schlange vor der roten Ampel und deutete energisch nach oben.
"Beeil dich, die wird gleich grün!", konnte er von ihren Lippen ablesen.
Kemmetmüller beeilte sich.
***
"Vun denen Man-Thyren unth Vaerewulfen…", begann das Kapitel, wo Kotlewsky das Lesezeichen eingelegt hatte. Kemmetmüller hatte einige Mühe den Text zu entziffern. Zum Einen waren die lateinischen Minuskeln nicht besonders kunstgerecht ausgeführt, zum Anderen war der Text im 16. Jahrhundert von einem irischen Mönch aus dem Altslawischen ins Deutsche übersetzt worden - zumindest in etwas, was der Mönch für Deutsch gehalten hatte. Aber der Inhalt war überraschend einfach: Ein Rezept für eine Tinktur und die Beschreibung eines Rituals, in dem diese angewendet wurde – obwohl das Ritual eigentlich nur darin bestand, dass das Zeug im Freien bei Vollmond eingenommen werden musste.
"Sintemalen er eyn starck und reysick Man sey, so mecht er transmuthiren in eyn wesenhaftt Kreatur vun nehmlicher Gestallth."
Aha, da hatte Kotlewsky schon drauf hingewiesen. In jedem Menschen steckte natürlich ein anderes animalisches Prinzip, das befreit werden konnte. Was würde aus ihm werden, wie sah die animalische Seite seines eigenen Selbst aus? Er horchte in sich hinein und versuchte zu erfühlen, welches Wesen da in ihm verborgen sein mochte.
Ein Panther vielleicht? War er nicht wie ein Panther, der träge und unbeteiligt in seinem Versteck ruhte und sich schließlich geschmeidig und lautlos erhob, um zuzuschlagen? Ja, ein Panther! Er fühlte, wusste förmlich, dass er ein Panther war.
Kemmetmüller schrieb sich alles im Klartext auf einen alten Briefumschlag und zog los, um die Sachen zu besorgen. Gottseidank hatte er das ganze Wochenende für sich. Ricarda war mit den Kindern zu ihrer Cousine gefahren und würde erst Sonntag abend wieder zurück kommen. Naja, selbst wenn sie da gewesen wäre, hätte es sie wahrscheinlich nicht die Bohne interessiert, was er da in der Garage wurstelte. Jawohl wurstelte. Genau diesen Audruck hätte sie benutzt. Kemmetmüllers Blick wurde immer finsterer und entschlossener.
Die verschiedenen Bestandteile waren recht einfach zu beschaffen, auch wenn er ein gutes Dutzend Gärtnereien und Apotheken abklappern musste, bevor er alles beisammen hatte. Adlerfarn, Bärlapp, Rauwolfia und eine ganze Menge anderer Kräuter und Salze - nur der indische Hanf hätte sich beinahe als unlösbares Problem herausgestellt. Aber dann erinnerte er sich daran, dass seine Frau bei den Kaffeekränzchen mit ihren Freundinnen hin und wieder mal ein "Tütchen" herumgehen ließ, und er fand einen kleinen Vorrat in ihrem Schminktäschchen.
Das Ganze musste zu Pulver zerrieben und eine Nacht lang mit Schwarzbier angesetzt werden. Als er dir Brühe abfiltriert hatte, roch sie ein wenig nach Pferdestall, aber nicht so stark, dass er sich davor geekelt hätte. Er gab aber sicherheitshalber noch einen Löffel Honig hinzu, denn das war in dem Rezept ausdrücklich erlaubt und sollte keinen Einfluss auf die Wirksamkeit haben.
Als letzte Vorbereitung schlug er seinen Autoatlas auf, um nach einem Platz zu suchen, der abgelegen und einsam genug war. Auch das war kein Problem. Zwanzig Kilometer weiter östlich begann die Heide. Kaum Dörfer, wenige Straßen und außerdem Naturschutzgebiet. Bis auf den einen oder anderen Einsiedlerhof gab es dort nichts als roten Sand, Wacholder und Birkenwäldchen. Das war der Platz, wo er seine Persönlichkeit neu erschaffen würde!
***
Alles war wie es sein sollte. Die Nacht war klar und kalt und der Vollmond goss ein fahles, mystisches Licht über die Heidekrautteppiche. Es war still, nur hin und wieder zirpte eine einsame Grille und ganz in der Ferne hörte man das Blöken einer Schafherde.
Kemmetmüller hatte den Wagen auf einem Feldweg fernab der Landstraße geparkt und ging ein Stück weit in die Heide hinein.
‚Zum letzten Mal’, dachte er grimmig. ‚Zum letzten Mal einen Leihwagen!’
Er drang in einen kleinen Birkenbestand ein und zog den Sakko aus. Ein wenig beklommen war ihm doch zumute. Kotlewsky hatte zwar gesagt, dass die Verwandlung nur etwa eine halbe Stunde anhalten würde, aber was konnte in einer halben Stunde alles passieren. Ein Panther konnte in dieser Zeit erstaunliche Strecken zurücklegen. Ach was, das nächste Dorf war fünfzehn Kilometer entfernt, das musste als Sicherheitsabstand genügen. Er zog die kleine braune Flasche mit der Tinktur aus der Tasche, entfernte den Stöpsel und schnüffelte daran. Gar nicht mal so schlecht. Roch ein bisschen wie Aquavit mit Honig. Ein letztes Mal holte er tief seufzend Atem und setzte das Fläschchen an die Lippen. Fast die Hälfte trank er auf einen Zug aus und Ah! … das Zeug rann wie brennendes Öl in seinen Magen. Fast augenblicklich brach ihm der Schweiß aus. Er begann zu zittern und fühlte einen leichten Schwindel. Egal! Kotlewsky hatte gesagt, das sei normal.
Er schaute auf seine Hände. Gütiger Gott - sie begannen, sich zu verändern. Die Finger bildeten sich zurück, wurden kurz und knubbelig, derweil die Nägel krumm und kräftig aus ihnen heraustrieben.
Und auf den Handrücken bildete sich ein schütterer Flaum, der mit jedem Augenblick dichter und struppiger wurde und im Mondlicht silbrig schimmerte.
Es klappte! Es klappte wahrhaftig. Die Verwandlung hatte begonnen. Jetzt rasch runter mit den Klamotten, bevor alles in Fetzen ging. Er schlüpfte aus der Hose, schleuderte die Schuhe von sich und warf das Hemd zur Seite. Nur die Krawatte konnte er nicht mehr lösen. Seine Finger waren schon zu klobig und verweigerten die notwendigen feinen Bewegungen. Er fühlte, wie sich in seinem Bewusstsein die wilde alte Flamme entzündete und alles wegsengte, was für Bruno Kemmetmüller einmal wichtig gewesen war. In einer kraftstrotzenden Geste hob er die Augen zum Himmel, blickte den Mond an und stieß ein langgezogenes Heulen aus. Die Reize, die auf ihn einstürmten und die ungenutzte Kraft, die durch seine Muskeln pulste, ließen ihn fast wahnsinnig werden. Die Macht wollte nach draußen, wollte ausgeübt werden. Das Rascheln der Blätter, das böse, stechende Licht des Mondes, die aufreizende Witterung der Schafe … er musste sich bewegen … losstürmen … hetzen und jagen … reißen und schlagen … heulen und …
Mit einem gewaltigen Satz brach er aus dem Birkendickicht und raste los …
***
Im "Heidekrug" ging es hoch her an diesem Abend. Schon draußen auf der Straße konnte man das Gröhlen und Gelächter hören. Ansgar Behnsen, der gerade vorbeikam, blieb neugierig stehen und lauschte, ob er was verstehen konnte. Behnsen war eigentlich kein Kneipengänger, aber dieser Lärm machte ihn doch neugierig. Er nahm die Hände aus den Taschen, stieg die drei Stufen zur Wirtshaustür empor und drückte diese auf. Drinnen war es proppenvoll. Durch einen dicken bläulichen Tabaksdunst sah er den alten Willemsen an der Theke stehen, umringt von einer Traube roter Gesichter, die sich schier ausschütten wollten vor Lachen.
"Nee", brüllte Willemsen mit überkippender Stimme. "Tollwütig war der nich - der war raderkastendoll!" Und wieder brandete rauhes Gelächter auf. Behnsen schob sich ganz durch die Tür und drängte sich zwischen die Zuschauer, die an der Theke keinen Platz mehr gefunden hatten.
"Um was geht's denn da?", fragte er Willi Gutwirth, der neben ihm stand und mit dem Kopf schüttelte. Gutwirth winkte ab.
"Ach, Willemsen zieht mal wieder mächtig vom Leder. Erzählt jedem, er hätte gestern Nacht in seinem Schafspferch einen Pudel erschossen, der auf zwei Beinen lief und eine Krawatte um den Hals hatte…"
© 2004 Achim Hildebrand