männerstolz

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männerstolz



Sie stand vor dem Spiegel.
Ein letzter prüfender Blick.
Ihre Lippen verzogen sich zum Schmollmund eines kleinen
verwöhnten Mädchens.
In Kontrast dazu stand der melanchocholische Ausdruck der Augen.
Woher diese Traurigkeit kam, war unklar.
Sie war immer aufgefallen.
Vielleicht lag es an den Augen.
Chamäleonartig konnten sie ihre Farbe wechseln.
Sie passten sich ihrer Umgebung an.
Vielleicht lag es an ihrer Stimme.
Immer klang alles, was sie sagte so,
als ob sich hinter jedem Wort,
das sie mehr sang als sprach,
noch ein anderer Sinn verberge.
Vielleicht lag es an ihrer Sprachmelodie,
die immer diesen fremdartigen Unterton hatte,
einen der von ganz fern kam,
vom Ende aller Sehnsucht.
Ihre ganze Erscheinung hatte etwas Fragiles.
Ihr Alter war schwer abzuschätzen.
Sie hatte - ab und an -
diesen Ausdruck eines kleinen naiven Mädchens.



Paul schrie ihr alle Schimpfwörter, die seine Wut fassen
konnten, ins Gesicht, dabei verzog sich sein Mund zu dem
eines Greises. Jede Silbe sollte sie wie ein Pfeil tief treffen.




Sonderbarerweise war die Wirkung auf sie eine völlig andere.

Der Hass, der von ihm ausging, ließ sie immer ruhiger werden.
In ihr stieg diese unerklärliche Traurigkeit auf,
die sie weit wegtrug von ihm, unerreichbar - in Sicherheit.
Sie hatte ihn geliebt.
Leidenschaftlich.
Zärtlich.

Aber seine Art sie an sich zu klammern, hatte diese Angst in
ihr ausgelöst.


Diese Panik!

Weglaufen zu müssen!

Egal wohin - nur weg!


Sie war für ihn ein Teil seines grandiosen Lebensplanes! Eine Trophäe,
die er stolz bei jeder Gelegenheit präsentierte,
um sie dann wieder in die Vitrine zu stellen.
Mehr nicht!


Ja, sie hatte ihm weh getan.

Bewusst!

So sehr, dass er sie endlich losließ.



Sie hatte sich mit Peter eingelassen. Einfach so! Peter war
der Arbeitskollege von Paul. Es war eine banale Geschichte.
Aber erzielte bei Paul die Wirkung, die sie vorhergesehen
hatte. Sein männlicher Stolz war größer als seine Liebe zu
ihr.
*
*
*
*
*
* Nun war sie frei.
 

Willibald

Mitglied
Die Selbstbeobachtung samt Absolution

Offenes Kokettieren und verborgene Melancholie vor dem Spiegel.

Der Klammergriff des Mannes.

Die gedrückte Selbst-Absolution mit dem Hinweis auf die "fremdartige Sprachmelodie" und das Exotische der Frau.

Die seltsame, aufregende Mehrdeutbarkeit vom "Ende aller "Sehnsucht":
- Man sehnt sich nicht mehr, weil man dort alles hat.
- Man sehnt sich nach diesem exotisch, fernen Ort - vom
jetzigen Standort aus -das Ende der Welt.
-Das Leere.

Ganz seltsam der intuitive und raffinierte Schachzug, den verletzten Männerstolz und das Trophäendenken als nahezu skrupelfreien Absprung in die Welt jenseits von Paul zu setzen.

Ein sehr viel anderer, auftrumpfend gedrückter Text, sehr viel anders als die Glasmurmel-Selbstermächtigung, die irgendwo in einem Abseits verharrt, das starke Schwäche birgt.

Jetzt habe ich sehr viel geschrieben, in den Zwischenzeilen des Textes imaginiert. Trotz allem, ich hoffe, dass das Kainsmal des deutschen Mädchens im slavischen Kontext nahe an die Katarakte kommt, welche vital und strömend bange Selbstbezichtigung übertoben und in der Dauer ihrer Fluten demn Verdacht des Verdränges jeglichen Boden entziehen.

Der Schluss-Satz "Jetzt war sie frei" ist sehr ambivalent, er ist trotzdem und deswegen stark.

Übrigens - jenseits von Einfühlung - und mit dem Augenmerk auf die Erzähltechnik und die Struktur: ein dichter, tragender Text für den Leser, ein Floß in der Strömung, kaum zu lenken, aber imstande, den vor dem Ertrinken zu retten, der sich dem Floß anvertraut.

w.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein wundervoller Text und eine wundervolle Antwort von Willibald....
Ein klitzekleiner Einwand. Du lässt viel Spielraum für unsere Gedanken, warum diese Eindeutigkeit...

"Sie hatte sich mit Peter eingelassen. Einfach so! Peter war
der Arbeitskollege von Paul. Es war eine banale Geschichte.
Aber erzielte bei Paul die Wirkung, die sie vorhergesehen
hatte. Sein männlicher Stolz war größer als seine Liebe zu
ihr"

Ich würde diesen Absatz komplett streichen und mit
"Nun war sie frei" enden.

Schön, wirlich schön lg Otto
 
thanx für eure aufmunternde worte. seelenbilder zu verbalisieren finde ich äußerst spannend.
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lieber w.

"Der Schluss-Satz "Jetzt war sie frei" ist sehr ambivalent, er ist trotzdem und deswegen stark."

so empfinde ich es auch! im frei-sein kann auch einsam-keit liegen.
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lieber o.,
deinen vorschlag den letzten absatz zu streichen, finde ich gut -
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liebe r.,
leider ist es hier nicht möglich mit verschieden schrifttypen und größen zu "spielen. die stellen, an denen
die protonistin "spricht", müssten kursiv gedruckt sein, um das fragile auch optisch im text mitschwingen zu lassen.
(die wut pauls dagegen fett)
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so long
*lg*
 



 
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