Malo Tango

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Die Ritzen zwischen den Gehwegplatten des Hofes sind Krötenwas-ser. Eins – zwei, eins – zwei. Er springt von Insel zu Insel. Die Rück-seiten der Häuser glotzen mit hohlen Augen von beiden Seiten ins Nichts und bezeugen dürftig ehemaliger Bäder, Abstellkammern und Küchen. In der Ferne hocken die grauen Türme des Klärwerkes auf vertrocknetem Laub. Daneben stecken dünne Bäume mit einer Hand voll Blättern in den Zweigen.
Er schlurft zur Straße und fühlt seine Füße nicht mehr, spielt Knieball mit dem Kanister in der rechten Hand. Pock pock hallt es in die Stille. Das rote Bündel in seiner Linken dreht sich.
Beim Nachbarhaus bleibt er stehen und sieht sich um. Gebückt kratzt er leise an der feuchten Pappe vor dem Kellerfenster. Drei Mal schabt er mit den Nägeln und es kommt ihm vor wie Haut, die er kratzt. Er schüttelt sich. Zitternd biegt von drinnen ein schwarzer Stock die Fensterverkleidung nach außen. Er stopft den roten Klum-pen durch den Spalt und rennt; rennt so schnell es ihm seine Bade-latschen erlauben. Der Kanister schlägt ihm hohl ans Bein. Wie ein Taucher schnappt er nach Luft und die Kälte schneidet ihm in den Rachen.

Von Ferne dröhnt ein asthmakranker Pkw. Der Junge steht und horcht. Seine Haut prickelt. Eisiger Wind reißt den Atem in Fetzen. Ein VW-Bus hustet um die Ecke. „Stanite! Molim vas, stanite!“ (An-halten! Bitte halten Sie an!), er wedelt mit den Armen. Der Bus spuckt und bleibt neben ihm stehen. Warme Luft und Fusel hüllen ihn ein, als er die Wagentür öffnet. Der Mann am Steuer knurrt etwas. Er röchelt genauso wie sein Wagen. Mit gelben Händen umklammert er das Lenkrad. Über eingefallenen Wangen spannt sich lederne Haut. Der Alte winkt ungeduldig.
Ein durchgewetzter Sitz empfängt den Jungen warm und entspannt ihn. Er schmiegt sich hinein und haucht Gucklöcher in die Scheibe, um nicht an Essen zu denken. Der Bus schlingert um die Schlaglö-cher im Asphalt. Ab und zu donnert er trotzdem hinein. Dann flucht der Mann.
„Malo puno pio – eh?“ (Bisschen viel getrunken, he?), grinst der Jun-ge.
„Da, malo“ (Ja, ein wenig.), der Mann, lacht und würgt Schleim.
Kurz darauf passieren sie das rote Totenkopfschild: „DANGER! MINES! DRIVE SLOWLY! STAY ON THE ROAD!“. Dann sind sie in Ilidja.

Vor der Einschuss-Schneise hält er an. Frost krallt an welken Gras-büscheln. Schneereste kleben in den ausgelatschten Senken des Trampelpfades und mischen sich mit zerfurchtem Schlamm zu gefro-renen Wunden. Nebel hockt auf der anderen Straßenseite. Ein Hau-fen Sandsäcke schützt die Wasserholer vor Scharfschützen. Am Hahn gibt es ein Handgemenge. Die Leitung ist eingefroren.
Der Junge streift die Latschen von den Füßen und läuft geduckt an dem umgestürzten Bus vorbei. Die Serben schießen auch bei Nebel. Hinter der Schneise zieht er sie wieder an. Drei Blocks weiter beginnt die Brücke, doch sie ist unpassierbar. Alles, was sich rührt, wird er-schossen.
Langsam schiebt er den Kanister vor sich her, robbt bis zur nächsten Anhöhe und horcht an der rostigen Haut des Rohres. Immer noch kein Druck. Vorsichtig tastet er nach dem Loch, dass er letzte Woche mit einem Schraubenzieher ins Metall gebohrt hat und puhlt den Pfropfen ab. Ein Rinnsal Sickerwasser plätschert leise in den Behäl-ter. Eine Stunde liegt er so. Dann ist der Kanister voll.

Daheim verbrennt die Mutter Vaters Bücher. Zwanzig geben spärli-che Wärme für eine halbe Stunde und eine Schüssel Bohnen. Sie ist bei Dostojewski. Mit sparsamer, stiller Behändigkeit reißt sie die Seiten von den Buchrücken und wirft die Einbände hinterher ins Feuerloch. Ein stiller, heimlicherer Tod leckt an rotem Leinen, frisst Wörter, Papier und noch mehr, verschlingt Vergangenes und Zu-künftiges. Es verschwindet mit leisem Knistern auf eine unauffällige, schweigsame und gezähmte Weise.
„Hast du Tante Mila das Brot gebracht?“, fragt die Mutter leise. Der Junge nickt.

Am Abend kommt Onkel Leon mit seinen Freunden. Keiner von ih-nen ist unter sechzig. Sie bringen Feuerholz, Musik und einem Räucherfisch. Nach dem Essen holt der Onkel das Saxophon.
Der Dicke mit langen Haaren und dem Streichholz zwischen den Zähnen streichelt sein Cello. Sein Doppelkinn wackelt, als er ihm zuzwinkert: „Malo Tango, Compadre?“ Der Glatzköpfige gegenüber zieht Luft in sein Akkordeon und nickt. Mit geschlossenen Augen setzt er an, lässt seine Finger über Knöpfe und Tasten fliegen. Er hat nur noch ein Bein. Das andere wippt im 2/4 Takt zu „La Cumparsita“.
Der Junge lächelt und starrt auf die blauen Blumen der Tischdecke. Die Musik verschwimmt. Menschen, Töne und Farben vermischen sich, werden eins und je fröhlicher sie spielen, desto schneller rinnt ihm die Kälte durch den schmalen Körper und gießt ihrer Fröhlichkeit die Schwere ins Lachen.
Onkel Leons Saxophon pfeift. Er hat einen roten Kopf, beugt sich vor und zurück. Ausgebeulte Hosenbeine schlackern um seine Knie. Die dreijährige Milena sitzt auf dem Topf, klatscht in die Händchen und schaukelt hin und her. Mit fliegendem Zopf tanzt die Mutter mit dem kleinen Bruder. Ihre Schürze rutscht übers Knie. Der Junge wirft den Kopf in den Nacken und lacht laut. Die Männer spielen immer schneller und schneller. Schwitzend geigt der Dicke das Finale und lässt seinen Bogen sausen.
In dem Jungen wird es still. Und plötzlich kann er es spüren.
Auf einmal weiß er, dass es Schuld ist, die der fühlt. Das heimliche Sterben seiner kindlichen Welt schmeckt seit Tagen bitter in seinem Gewissen, so als hätte er dieses Fortgehen selbst verschuldet und die Mutter und Geschwister zurück gelassen. Als die Welt wieder-kommt, ist Gavrilo Runijc kein Kind mehr.

In der Nacht holen sie Tante Mila aus dem Keller. Mit verkrüppelten Beinen und offenen Augen liegt sie auf dem gefrorenen Rasen wie ein vertrockneter Vogel. Aus dem Kellerfenster stinkt es nach Müll und Exkrementen. Gavrilo erbricht sein Abendessen ins Gebüsch. Hinter ihm erzählt die Mutter dem kleinen Bruder, dass Tante Mila jetzt die Sterne am Himmel zählt und nach einem Schnaps aus On-kel Leons Flasche singen sie: „Meine Tränen sind noch heiß“.
 

Wolkenreiter

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die trennstriche im text sind aber immer noch vorhanden. die verwendeten adjektive halte ich zum teil für nicht sehr aussagekräftig. du hast nicht weniger als fünfmal ROT verwendet:
graue türme; dünne bäume; rotes bündel; rote klumpen; rotes totenkopfschild; rotes leinen; (...) auf eine unauffällige, schweigsame und gezähmte weise; lange haare; blaue blumen; roter kopf ...

wolkenreiter
 

norge

Mitglied
hallo freifrau

du malst immer wunderbare Bilder - ob im Guten oder schlechten.
Manchmal zu viele - für meinen Geschmack. Dafür bin ich wahrscheinlich nicht tiefsinnig genug ;-)

Die Geschichte hat mich sehr berührt.

vG

norge
 

Inu

Mitglied
Hallo Freifrau

Du schreibst:
[blue]stimmt....
... ich hab wohl die silbentrennung nicht ausgeschaltet :)
[/blue]

Und warum gehst Du nicht hin und bringst das in Ordnung? Ist nur ein kleiner Aufwand, oder? :):):) Es nervt kolossal. Mich zumindest.

LG
Inu
 



 
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