Marcel und das Blind Date

3,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Dorian

Mitglied
„Wisst ihr was?“, fragte Roland Kurt und Christian.
„Nein“, antwortete Kurt, der es lieber gar nicht wissen wollte.
„Aber du wirst es uns sicher gleich sagen“, meinte Christian, der Roland zumindest in dieser Hinsicht recht gut kannte.
Die drei saßen im „Krone und Szepter“, ihrem Stammlokal. Gustav, der Wirt, hatte ihnen soeben drei Bier und das Körbchen mit Gebäck gebracht.
„Marcel“, sagte Roland und leckte sich grinsend die Lippen, „trifft sich heute mit seiner Maus.“
„Dann wünsch ich ihm viel Glück“, antwortete Kurt.
„Und wie schaut’s mit deinem Liebesleben aus?“, fragte Christian.
„Ich... das tut...“ Roland unterbrach sich. Er war nicht bereit sich das Heft so leicht aus der Hand nehmen zu lassen.
„Er trifft sich mit seiner Internet-Maus!“, rief er.
Die beiden anderen waren plötzlich hellhörig und neigten sich näher zur Mitte des Tisches. Marcel war in den letzten Jahren nicht sexuell auffällig gewesen, was alles mögliche bedeuten konnte. Entweder war er nicht erfolgreich, oder er erzählte niemandem davon, was nicht zu ihm passte. Oder er war schwul geworden, was keiner von ihnen glauben wollte.
Zumindest aber war hier Gesprächsstoff abzugrasen.
„Er hat sie in einem Forum für Comic-Fans kennengelernt“, flüsterte Roland. „Später hatten sie dann Kontakt per E-Mail. Und jetzt haben sie sich zu einem Date verabredet.“
„In einem Forum für Comic-Fans? Wie hässlich ist sie?“, fragte Christian.
„Gar nicht so schlimm. Ich hab schon ein Foto von ihr gesehen und wenn sie hält was die Kamera verspricht...“
„Wo treffen sie sich denn?“, fragte Kurt. Er war das, was man landläufig als einen „netten Kerl“ bezeichnet, seine Nettigkeit beruhte jedoch nur darauf, dass ihm die meisten Angelegenheiten anderer am Arsch vorbei gingen.
„In Wien“, antwortete Roland. „In einem Pub namens ‚Big Show’.“

Das „Big Show“ heißt so, weil es im hinteren Teil des Lokals eine kleine Bühne gibt, auf denen manchmal Künstler aus der Umgebung auftreten. Diese Künstler sind meist nicht besonders gut, bieten aber, ob beabsichtigt oder nicht, oftmals eine gute Gelegenheit für einen Lacher oder zwei.
Marcel war eigentlich kein schadenfroher Mensch, Peinlichkeiten anderer nahm er oft persönlich. Daher konnte er manchmal nur schwer dem Drang widerstehen sich unter dem Tisch zu verstecken, wenn „Josef Glawitschnigg und Beppo“ auftraten, ein Bauchredner mit schlechten Witzen, dessen Lippen sich bewegten. Einmal hatte Josef versucht mit einem Mundvoll Milch bauchzureden. Gegen Ende der Vorstellung musste die Putzkolonne anrücken.
Marcel kannte das Lokal, weil er in dem Gebäude gegenüber einmal gearbeitet hatte und man nach der Arbeit hier recht günstig einen trinken konnte.
Und hier saß er also jetzt und wartete auf „Lady Shiva 1976“.
Die Zahl implizierte, dass sie etwa ein Jahr jünger als Marcel war, der Name wies darauf hin, dass sie ein DC-Fan war. Auch wenn Marcel selbst mehr auf Marvel stand, war er doch zu verzweifelt um wählerisch zu sein. Außerdem... ein hübsches Mädchen, das sich für Comics interessierte und nicht so arrogant wie andere Fans, andererseits aber auch nicht so nichtsahnend, wie die meisten die sich in solchen Foren herumtrieben, war... nun, so jemand konnte nur ein Volltreffer sein.
Obwohl Marcel sicher war, dass er sich sehr gut mit ihr verstehen würde – schließlich hatten sie sehr angeregte Gespräche per Mail und auch über einen Messenger geführt -, so war er doch sehr nervös. Was komisch war. Marcel war wegen einer Frau nur selten jemals nervös gewesen und wenn doch... nun, dann war sie meist nicht die Aufregung wert gewesen.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Er war zwanzig Minuten zu früh dran gewesen, da die Züge natürlich nur zu bestimmten Uhrzeiten fuhren und da er vorhatte etwas zu trinken, hatte er das Auto zu Hause gelassen.
Sollte sich etwas entwickeln, was eine Übernachtung notwendig machte – wovon er nicht ausging - , dann wusste er, dass Lady Shiva in der Nähe wohnte.
Marcels Bier war schon fast zur Neige gegangen und Shiva war fünf Minuten zu spät dran, aber er wollte, dass sie einen guten Eindruck von ihm bekam. Wenn sie ankam und er mit einem fast leeren Bier dasaß und auf sie wartete, musste sie gewisse Schlüsse ziehen. Es war besser, wenn sein Bier voll war, dann sah es so aus, als würde er noch bei seinem ersten Getränk sitzen. Und später, beim bezahlen, würde er Peinlichkeiten vermeiden indem er das allgemeine Zauberwort im Umgang mit Frauen benutzte: „Zusammen, bitte“.
Hastig trank Marcel aus und bestellte ein neues Bier.
Langsam wurde ihm ein wenig langweilig, obwohl die Warterei ihn noch immer nervös machte. Es war wie beim Zahnarzt oder einem Vorstellungsgespräch: Man wartete lange darauf, dass sich jemand Zeit für einen nahm, den man eigentlich nicht allzu oft treffen wollte.
Glücklicherweise hatten Marcel und Shiva verabredet dem jeweils anderen Comics mitzubringen, die dieser noch nicht gelesen hatte. Deshalb trug Marcel einen Rucksack bei sich in dem sich unter anderem die drei „Marvels“, „Kingdom Come“ und „Rising Stars Vol.1“ Trade Paperbacks befanden. Er wartete seinerseits sehnsüchtig auf „Watchmen“, „V for Vendetta“ und „Sin City: That Yellow Bastard“.
Als Marcel „Rising Stars“ aus dem Rucksack nahm, stellte die Kellnerin gerade sein Bier auf den Tisch. Er beschloss mit dem ersten Schluck zu warten, bis Shiva da war und ebenfalls ein Getränk hatte um anstoßen zu können. Er schlug das Buch auf und begann zu lesen.
Marcel hatte das Comic natürlich schon mehrmals gelesen und kannte darum die Handlung, aber es war immer wieder nett ein neues Detail in J. Michael Straczynskis Skript zu finden und obwohl er kein besonderer Fan von Keu Cha oder Christian Zanier war, so gaben auch ihre Zeichnungen manchmal etwas her.
Er stellte gerade die Verbindung der beiden Zeichner zu David Finch her, dessen Stil ihm ebenfalls missfiel, aber aus der gleichen Schule wie die anderen zu kommen schien, als sein Blick auf das Bier fiel. Der Schaum war inzwischen zusammengefallen, trotzdem sah es einladend aus. Die Feuchtigkeit, die sich auf dem Glas niedergeschlagen hatte, vermittelte einen Eindruck von Frische und Marcel gelüstete es nach dem ersten Bier nach einem zweiten. Schuldbewusst sah er noch einmal auf die Uhr.
Shiva war zwanzig Minuten überfällig. Dann konnte sie ihm wohl auch nicht verübeln, wenn er schon mal einen Schluck zu sich nahm. Gerade als Marcel ansetzte, um einen tiefen Zug des goldenen Gerstensaftes seine Kehle hinunterrinnen zu lassen, ging die Tür auf und jemand kam herein. Er hätte sich beinahe verschluckt, aber es war nicht sein Date sondern ein Stammgast. Marcel kannte die Frau vom sehen.
Er vertiefte sich wieder in seine Lektüre und als er das nächste Mal aufsah, war das Glas leer. Aber er musste es wohl selbst ausgetrunken haben, denn in seiner Nähe befand sich niemand.
Marcel bestellte ein weiteres Bier und sah wieder auf die Uhr. Fünfundvierzig Minuten Verspätung.
Er hatte mit Shiva ein Kennzeichen ausgemacht, falls sie sich nicht sofort erkennen sollten: Beide würden einen Button tragen, den sie auf einer Comic-Messe in den USA erstanden hatten. Sie waren beide zu unterschiedlichen Zeiten dort gewesen, aber der Zufall war zu phänomenal um nicht genutzt zu werden. Marcel überprüfte, ob sein Button auch gut zu sehen war, aber er hing groß und bunt auf seinem Revers. Er war rot und blau mit weißen Sternen. „I survived Wizard World Chicago 2002“, stand darauf zu lesen. Dann sah Marcel sich um, ob nicht vielleicht ein Gast mit einem Button an ihm vorbeigeschlüpft war, aber er konnte niemanden entdecken. Er übte sich also in Geduld.
Als Shiva nach zweieinhalb Stunden Verspätung noch immer nicht da war, beschloss Marcel ihr noch eine letzte Chance zu geben. Er würde noch ein achtes Bier bestellen, austrinken und dann gehen.
Die Zeit verging, Marcel trank zügig aus und packte seine Sachen. Er bezahlte, stand auf... und da ging die Tür auf und Lady Shiva 1976 spazierte nonchalant herein und geradewegs auf ihn zu...

„Ja, und?“, drängte Roland. „Weiter, weiter.“
„Gusti, großes Bier, kleine Wartezeit, bitte“, rief Marcel dem Wirten zu.
Es war später an diesem Abend und Marcel hatte sich zu seinen Freunden im „Krone und Szepter“ gesetzt und ein halbes Bier getrunken, bevor er bereit war auch nur einen Ton über sein Rendezvous zu verlieren. Mit schwerer Zunge hatte er von seinem Martyrium während des Wartens gesprochen und in genau dem Moment aufgehört zu reden, als er schilderte, wie Shiva zur Tür hereinkam.
Gustav brachte das Bier und Marcel nahm einen tiefen Schluck.
„Erzähl weiter“, forderte nun auch Kurt.
„Ja, mach’s nicht so spannend“, fiel Christian ein. „Wir wollen wissen, was dich so verstört hat.“
„Der Name“, nuschelte Marcel. „’s war der Name.“
Und er setzte noch einmal zu einem Zug an.
„Rück raus damit.“
„’s war so: Sie kommt zur Tür herein und kommt zu mir herüber, ja?“
„Ja“, sagten die anderen drei im Chor.
„Und sie gibt mir ein dickes Bussi auf den Mund und sagt: ‚Hallo, ich bin Lady Shiva. Bist du Bright?’, ja ?“
„Ja.“
„Und ich sag: ‚Ja, setz dich her.’ Und sie setzt sich her und bestellt sich was zum trinken, ja?“
„Ja!“
„Und ich sag: ‚Komische Sache. Jetzt kennen wir uns schon so gut über E-Mails und so weiter, aber wie du wirklich heißt, weiß ich nicht.’, ja?“
„JA!“
„Und sie... und sie... und sie sagt mir ihren Namen.“
„Ja und?“
„Was soll der Blödsinn? Sag uns endlich, wie sie geheißen hat.“
„Ja, was soll schon so schlimm gewesen sein? Du würdest auch mit einer Crescentia Pimperlhuber vögeln, verzweifelt wie du bist.“
„Sie hat geheißen... sie hat geheißen....“ Marcel war außerstande den Satz zu beenden.
Roland sprang auf und packte Marcel bei den Schultern um ihn zu schütteln.
„Bleib bei uns!“, rief er. „Bleib bei uns!“
Und da endlich konnte Marcel den Namen formen, den Namen, der ihn veranlasst hatte aufzuspringen und das Lokal fluchartig zu verlassen. Den Namen, der ihn des weiteren dazu gebracht hatte sich auf dem Bahnhof noch zwei Dosen Bier zu kaufen und während der zwanzigminütigen Zugfahrt auszutrinken. Den Namen, den er für den Rest seines Lebens nicht vergessen würde.
„Hannes“, sagte Marcel.
 



 
Oben Unten