ENachtigall
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Schade, dass ich sie nicht mehr fragen kann, meine Großmutter von der Wasserkante, die vor geraumer Zeit gestorben ist. Sie verließ uns, als ich gerade schwanger geworden war, getreu der Regel: wenn einer geht aus der Familie, wird bald jemand neues geboren! Kurz nach der Geburt meiner Tochter starb dann Oma mit dem Vogelnamen. Darauf folgend wurde ich erneut schwanger, entgegen ärztlicher Prognosen übrigens. Heute hätte ich mich getraut, sie zu fragen, nach den Geschichten, die sie erlebt haben musste. Geschichten, die Nervenkitzel hervorrufen, wenn man sich daran erinnert, weil sich die Bilder ins Gedächtnis gebrannt haben wie Narben in die Haut. Geschichten, die Grundsteine gelegt haben, auf denen Vorlieben wachsen, und solche, auf deren Nährboden Abneigungen wuchern.
Wer war sie, meine Oma, deren Name mich seit eh und je an Kaffee erinnert? Den mahlte sie in einer Mühle, die seitlich an ihren Küchenschrank geschraubt war, und die bediente an Sonntagen, mit seinem schelmischen Lachen in den Mundwinkeln, mein Opa.
„Ein zurückhaltendes Wesen, das einen gewissen Hauch von Noblesse trug, selbst wenn sie im Garten mit dem Spaten das Land umgrub“, sagte ich manchmal zu meinen Schwestern, wenn wir über sie sprachen.
„Das hatte sie bestimmt aus der Zeit, als sie in Hamburg bei den feinen Leuten das Dienstmädchen spielte“, überlegte dann meine Therapeutenschwester, die gern die Hintergründe analysierte. „ Wisst ihr, ob sie auch vom Hausherrn belästigt wurde? Das war doch eigentlich so üblich damals, oder nicht?“
„Was weiß ich, da hat sie nie was von erzählt. Ich hab nur mal ´ne Geschichte von einem Exhibitionisten im Hausflur gehört, der da öfter stand, wenn sie die Treppe rauf musste“, erinnerte sich das kleine rothaarige Mädchen, das die jüngste von uns ist.
„Ja, aber…..“, unterbrach ich sofort, „das hat nicht Oma sondern Mama erzählt“.
Was blieb ihr übrig, als die Hoffnung auf ein feines eigenes Heim in einen tüchtigen Gesellen des Ofensetzerhandwerks und der Fliesenlegerei zu legen? Er wuchs, wie auch sie, in einer zusammen gewürfelten Familie auf. Das gemeinsame Schicksal, verband sie, auch wenn es nicht die große Liebe zwischen ihnen gewesen zu sein schien. (Es hieß, er habe sie lange Zeit nicht heiraten wollen!) Und hätte sie geahnt, wie viel Arbeit und wie viel Kinderkriegen dazugehörte, hätte sie vielleicht rechtzeitig bei der „guten Fee“ ihre Wünsche storniert. Wer weiß, wo ich dann „gelandet“ wäre?
Ja, auch Oma mit dem Vogelnamen sagte mal zu mir: „Das mit dem Heiraten war ja ganz gut, aber dass man so viele Kinder kriegen musste, hat mir nicht gefallen!“ Sie hatte es in der Tat auf eine stattliche zweistellige Kinderzahl gebracht, in 20 Jahren.
„Einmal hat sie mir eine dunkelblaue Flasche Parfüm geschenkt, bestimmt zum Geburtstag. Das hieß Soir de Paris und roch traumhaft gut. Ich habe es geliebt! Weißt Du noch? Du wolltest es immer von mir ausleihen, und wir hatten dauernd Streit deswegen, weil ich es Dir nicht geben wollte.“
„Ja, Du warst schon immer so geizig mit Deinen Sachen. Du hast es Dir ja selbst nicht gegönnt, es zu benutzen. Und dann hat es irgendwann angefangen zu stinken! “
„Ich wollte es nur nicht so vergeuden wie Du“, immer ärgerte ich mich darüber, dass ich wie automatisch versuchte, mich zu rechtfertigen, „und nicht so riechen wie diese Frisösen.“
Tatsächlich hatte ich es Jahre später in der Bahnhofsparfümerie erspäht und eine Flasche davon gekauft, um noch einmal das geliebte Geruchserlebnis zu wiederholen. Ich wollte es riechen aber nicht danach riechen!
Der Duft war quasi verwoben mit meinem ersten amourösen Abenteuer, das ich ausgerechnet mit einem Franzosen aus Paris hatte, den das Schicksal mir gnädigerweise in unsere Vorstadtidylle hineingezaubert hatte.
„Ach ja, und dann kam doch noch der Zwillingsbruder seines Freundes hinterher gereist. Dieser unverschämt gut aussehende Typ, der so auf mich stand“, flötete die Therapeutin. „Faire l´amour dans la petite chambre. War das nicht so?“
„Was ihr so gemacht habt, hat mich nicht sonderlich interessiert“, gab ich zurück.
„Und ich hing sowieso noch an Mamas Rockzipfel und wurde mit Süßigkeiten voll gestopft. Deshalb bin ich auch so dick“, schmollte die Kleine, die gerade eine Phase hatte, wo sie allen vorrechnete, wie viel Kalorien sie gerade zu sich nahmen, wenn sie was aßen. „Können wir nicht mal von was reden, das ich auch mitgekriegt habe?“
„Wisst ihr eigentlich, wie Mama zu ihrem Vornamen kam?“ fiel es mir ein, zu fragen, damit die Kleine mitreden konnte.
„Bestimmt hieß die Patentante so. Wie bei mir mit dem zweiten Vornamen. Den habe ich doch, weil Tante Gerda unbedingt Taufpatin werden wollte. Aber dann durfte sie nicht, weil sie noch nicht konfirmiert war, und zum Trost für sie musste ich dann ihren komischen Namen kriegen. Der ist mir heute noch peinlich!“
„Quatsch! Da kommt ihr nie drauf! Oma hat ihn wegen der Piaf ausgesucht. Das hat Ma mir selbst erzählt.“
„Wie meinst Du das? War Oma etwa Piaf Fan? Ich habe nie ihre Musik da gehört!“
„Wenn wir da waren, lief da sowie so keine Musik. Aber erinnert Ihr Euch nicht an das Radio im Wohnzimmer? Da hörten sie abends Sendungen. Fernsehen gab es doch noch nicht. Ma hat es mir erzählt. Die muss es ja wissen.“
„Hätte ich nie gedacht, dass Oma die Piaf hörte, sie verstand doch auch gar kein Französisch.“
„Bei der Piaf brauchst Du kein Französisch zu verstehen. Das geht auch so.“
„Ist ja lustig; da nennt sie ihre Tochter nach einer berühmten Sängerin, und die heiratet auch noch Willi mit dem Vogelnamen.“
„Na ja, ist aber auch das einzig Musikalische in unserer Familie.“
„Wieso, ich kann doch gut singen“, meinte die Therapeutin etwas beleidigt.
„Das meinst Du auch nur “, konterte ich leicht bissig, diesem alten Instinkt unserer Rivalität gehorchend.
„Außerdem können wir Blockflöte, “fiel dem kleinen rothaarigen Mädchen ein.
„Aber wir lassen es lieber“, empfahl ich.
Wo, weshalb und warum meine Oma auf die Piaf kam, ist mir rätselhaft geblieben. Meine eigene Vorliebe für diese wunderbare Person mit der grandiosen Stimme, die ihren kleinen Körper gern in schlichte schwarze Kleider steckte, und deren Lebensgeschichte wie erfunden klang, sei nur nebenbei erwähnt. Jedenfalls tat Oma sicher gut daran, die Piaf zu lieben, die in ihren Liedern die Liebe, den Schmerz und den Tod so besang, dass im Leiden dessen Schönheit erkennbar wurde. Ich hätte in jenen Jahren, da ich mich mit dieser Musik umgab, meinen Liebeskummer nicht halb so sehr genießen können,…..oder den Appetit auf Erdbeeren, den ich verspürte bei ihren Chansons - wir pflückten sie immer im Frühjahr bei der Oma mit dem Vogelnamen, die eine ganze Plantage voll davon hatte!
Einmal saß ich eine ganze laue Frühsommernacht lang auf der Treppe vor dem Haus eines Galans, der mich nach kurzem heftigen Abenteuer fallengelassen hatte wie eine lästige Bananenschale. Es war überhaupt das erste mal in meinem Leben, dass mich jemand verlassen hatte, und ohne die Lieder der Piaf im Kopf hätte ich wahrscheinlich nicht ein Jahr gebraucht, sondern mindestens zwei, um diese Wut, Erniedrigung, Enttäuschung und Kränkung, das Selbstmitleid und die als gerecht empfundene Strafe für all die gebrochenen Herzen, die ich zuvor auf der Strecke gelassen hatte zu überwinden.
Omas Ältester starb an einer simplen Blutvergiftung nach der Teilnahme an einer Wehrübung für Jugendliche gegen Ende des Krieges. Er war gerade 15 Jahre alt, und es gab keine Ärzte mehr im Dorf, die hätten helfen können. Am Tag darauf war Mamas Konfirmation, ein Fest ohne den Bruder, den großen Jungen, der immer schon da gewesen war.
„Weinen durfte man da doch nicht, obwohl alle diesen Kloß im Hals hatten und unheimlich lange auf Toilette blieben“, sagte Mama. „Wie gut, dass es die Piaf gab, bei deren Liedern man unweigerlich weinen musste, selbst wenn gerade keiner gestorben war. Zum Weinen hatte man immer was. Im Krieg, da starb ohnehin dauernd jemand. Zum weinen brauchte man immer ein Alibi, und ein Toter war nicht Alibi genug! Also brauchte man die Piaf. So muss es wohl gewesen sein.“
„Erinnert ihr Euch noch an ihr Lachen? Ich sehe es noch vor mir, ihr Lachen. Ja, dieses große Lachen, kein lautes, ein großes eben, wie es jemand lacht, der sich freut, dass ihm nicht mehr zum heulen zu mute ist.“
„Ich weiß noch, wie wir mit ihr Pochbrett gespielt haben, immer um echtes Geld. Sie hat es voll ernst genommen und wollte immer gewinnen. Nie hat sie uns absichtlich einen Vorsprung gegönnt.“
„Sie konnte tolle Geschenke machen. Ich fand alle Geschenke klasse, die sie mir gemacht hat: die Puppe, die ich nach ihr benannte, war fast so groß wie ich, als ich sie bekam, und da ich damals noch alles in den Mund nahm und darauf herum biss, hat sie heute einen Finger zu wenig; ob ich ihn wohl verschluckt haben mag? Das feine Stempelkissen der Deutschen Bundespost in elfenbeinfarbenem Kunststoffkästchen mit Namens- und Adressenstempel, den ich jahrelang stolz für meine zahlreichen Korrespondenzen mit Freundinnen, Jungs und „meinem Knacki“ verwendete und einen Stapel Briefe, die sie mir schrieb, in ihrer feinen verschnörkelten Handschrift. Soll ich mal was von ihr vorlesen?“ hatte ich die Idee.
Ich kramte in einer riesigen Kiste, in der ich, alphabethisch nach Absendern sortiert, die Briefe und Karten aufbewahre, die mir in der Vergangenheit in den Postkasten gelegt worden waren.
„Wie wäre es hiermit? Der ist von 1997.“
„Na los! Lies schon vor!“
„Liebe E…!
…Vorige Woche hat Onkel W… die große dicke Zeder an der Grenze zu Pott umgeschlagen und auch gleich zersägt. Es war für mich sehr interessant als Zuschauer. Sie lag auf dem freien Platz, wo der Gärtner Tiedemann in diesen Tagen seine Dahlien einpflanzen wird. Ich freue mich auf das Blühen und Gedeihen. Leider hat heute das schlechte Wetter wieder angefangen. Es regnet und ist noch kalt.
Sonst weiß ich nichts weiter zu berichten. Ich bedaure nur, dass meine Familie so weit auseinander lebt und nur selten ein Wiedersehen gibt.
Ich grüße somit Dich und A…
Deine Oma an der Wasserkante.“
So musste sie sich wohl oft gefühlt haben: als Zuschauerin, ein wenig fröstelnd - und sehr weit weg.
„Hast Du noch mehr?“
„Ja, so einige. Meistens Karten zum Geburtstag. In den letzten Jahren schrieb ich ihr gelegentlich Briefe. Ich kann anhand der Adressen nachvollziehen, wo ich überall gewohnt habe.“
„Zeig mal ihre Handschrift!“
„Schade, dass Opa nie geschrieben hat.“
„Gibt es eigentlich noch Soir de Paris? Ich glaube, ich brauche den Duft noch mal….“
„Es gibt Dinge, die holst Du nicht zurück.“
„Zum Glück! So behalten sie wenigstens ihren Zauber!“
Vererbt hat sie mir die Vorliebe für französisches Parfüm, die Piaf und Menschen mit großem Lachen.
Faire l´amour dans la petite chambre / Im kleinen Zimmer Liebe machen
Wer war sie, meine Oma, deren Name mich seit eh und je an Kaffee erinnert? Den mahlte sie in einer Mühle, die seitlich an ihren Küchenschrank geschraubt war, und die bediente an Sonntagen, mit seinem schelmischen Lachen in den Mundwinkeln, mein Opa.
„Ein zurückhaltendes Wesen, das einen gewissen Hauch von Noblesse trug, selbst wenn sie im Garten mit dem Spaten das Land umgrub“, sagte ich manchmal zu meinen Schwestern, wenn wir über sie sprachen.
„Das hatte sie bestimmt aus der Zeit, als sie in Hamburg bei den feinen Leuten das Dienstmädchen spielte“, überlegte dann meine Therapeutenschwester, die gern die Hintergründe analysierte. „ Wisst ihr, ob sie auch vom Hausherrn belästigt wurde? Das war doch eigentlich so üblich damals, oder nicht?“
„Was weiß ich, da hat sie nie was von erzählt. Ich hab nur mal ´ne Geschichte von einem Exhibitionisten im Hausflur gehört, der da öfter stand, wenn sie die Treppe rauf musste“, erinnerte sich das kleine rothaarige Mädchen, das die jüngste von uns ist.
„Ja, aber…..“, unterbrach ich sofort, „das hat nicht Oma sondern Mama erzählt“.
Was blieb ihr übrig, als die Hoffnung auf ein feines eigenes Heim in einen tüchtigen Gesellen des Ofensetzerhandwerks und der Fliesenlegerei zu legen? Er wuchs, wie auch sie, in einer zusammen gewürfelten Familie auf. Das gemeinsame Schicksal, verband sie, auch wenn es nicht die große Liebe zwischen ihnen gewesen zu sein schien. (Es hieß, er habe sie lange Zeit nicht heiraten wollen!) Und hätte sie geahnt, wie viel Arbeit und wie viel Kinderkriegen dazugehörte, hätte sie vielleicht rechtzeitig bei der „guten Fee“ ihre Wünsche storniert. Wer weiß, wo ich dann „gelandet“ wäre?
Ja, auch Oma mit dem Vogelnamen sagte mal zu mir: „Das mit dem Heiraten war ja ganz gut, aber dass man so viele Kinder kriegen musste, hat mir nicht gefallen!“ Sie hatte es in der Tat auf eine stattliche zweistellige Kinderzahl gebracht, in 20 Jahren.
„Einmal hat sie mir eine dunkelblaue Flasche Parfüm geschenkt, bestimmt zum Geburtstag. Das hieß Soir de Paris und roch traumhaft gut. Ich habe es geliebt! Weißt Du noch? Du wolltest es immer von mir ausleihen, und wir hatten dauernd Streit deswegen, weil ich es Dir nicht geben wollte.“
„Ja, Du warst schon immer so geizig mit Deinen Sachen. Du hast es Dir ja selbst nicht gegönnt, es zu benutzen. Und dann hat es irgendwann angefangen zu stinken! “
„Ich wollte es nur nicht so vergeuden wie Du“, immer ärgerte ich mich darüber, dass ich wie automatisch versuchte, mich zu rechtfertigen, „und nicht so riechen wie diese Frisösen.“
Tatsächlich hatte ich es Jahre später in der Bahnhofsparfümerie erspäht und eine Flasche davon gekauft, um noch einmal das geliebte Geruchserlebnis zu wiederholen. Ich wollte es riechen aber nicht danach riechen!
Der Duft war quasi verwoben mit meinem ersten amourösen Abenteuer, das ich ausgerechnet mit einem Franzosen aus Paris hatte, den das Schicksal mir gnädigerweise in unsere Vorstadtidylle hineingezaubert hatte.
„Ach ja, und dann kam doch noch der Zwillingsbruder seines Freundes hinterher gereist. Dieser unverschämt gut aussehende Typ, der so auf mich stand“, flötete die Therapeutin. „Faire l´amour dans la petite chambre. War das nicht so?“
„Was ihr so gemacht habt, hat mich nicht sonderlich interessiert“, gab ich zurück.
„Und ich hing sowieso noch an Mamas Rockzipfel und wurde mit Süßigkeiten voll gestopft. Deshalb bin ich auch so dick“, schmollte die Kleine, die gerade eine Phase hatte, wo sie allen vorrechnete, wie viel Kalorien sie gerade zu sich nahmen, wenn sie was aßen. „Können wir nicht mal von was reden, das ich auch mitgekriegt habe?“
„Wisst ihr eigentlich, wie Mama zu ihrem Vornamen kam?“ fiel es mir ein, zu fragen, damit die Kleine mitreden konnte.
„Bestimmt hieß die Patentante so. Wie bei mir mit dem zweiten Vornamen. Den habe ich doch, weil Tante Gerda unbedingt Taufpatin werden wollte. Aber dann durfte sie nicht, weil sie noch nicht konfirmiert war, und zum Trost für sie musste ich dann ihren komischen Namen kriegen. Der ist mir heute noch peinlich!“
„Quatsch! Da kommt ihr nie drauf! Oma hat ihn wegen der Piaf ausgesucht. Das hat Ma mir selbst erzählt.“
„Wie meinst Du das? War Oma etwa Piaf Fan? Ich habe nie ihre Musik da gehört!“
„Wenn wir da waren, lief da sowie so keine Musik. Aber erinnert Ihr Euch nicht an das Radio im Wohnzimmer? Da hörten sie abends Sendungen. Fernsehen gab es doch noch nicht. Ma hat es mir erzählt. Die muss es ja wissen.“
„Hätte ich nie gedacht, dass Oma die Piaf hörte, sie verstand doch auch gar kein Französisch.“
„Bei der Piaf brauchst Du kein Französisch zu verstehen. Das geht auch so.“
„Ist ja lustig; da nennt sie ihre Tochter nach einer berühmten Sängerin, und die heiratet auch noch Willi mit dem Vogelnamen.“
„Na ja, ist aber auch das einzig Musikalische in unserer Familie.“
„Wieso, ich kann doch gut singen“, meinte die Therapeutin etwas beleidigt.
„Das meinst Du auch nur “, konterte ich leicht bissig, diesem alten Instinkt unserer Rivalität gehorchend.
„Außerdem können wir Blockflöte, “fiel dem kleinen rothaarigen Mädchen ein.
„Aber wir lassen es lieber“, empfahl ich.
Wo, weshalb und warum meine Oma auf die Piaf kam, ist mir rätselhaft geblieben. Meine eigene Vorliebe für diese wunderbare Person mit der grandiosen Stimme, die ihren kleinen Körper gern in schlichte schwarze Kleider steckte, und deren Lebensgeschichte wie erfunden klang, sei nur nebenbei erwähnt. Jedenfalls tat Oma sicher gut daran, die Piaf zu lieben, die in ihren Liedern die Liebe, den Schmerz und den Tod so besang, dass im Leiden dessen Schönheit erkennbar wurde. Ich hätte in jenen Jahren, da ich mich mit dieser Musik umgab, meinen Liebeskummer nicht halb so sehr genießen können,…..oder den Appetit auf Erdbeeren, den ich verspürte bei ihren Chansons - wir pflückten sie immer im Frühjahr bei der Oma mit dem Vogelnamen, die eine ganze Plantage voll davon hatte!
Einmal saß ich eine ganze laue Frühsommernacht lang auf der Treppe vor dem Haus eines Galans, der mich nach kurzem heftigen Abenteuer fallengelassen hatte wie eine lästige Bananenschale. Es war überhaupt das erste mal in meinem Leben, dass mich jemand verlassen hatte, und ohne die Lieder der Piaf im Kopf hätte ich wahrscheinlich nicht ein Jahr gebraucht, sondern mindestens zwei, um diese Wut, Erniedrigung, Enttäuschung und Kränkung, das Selbstmitleid und die als gerecht empfundene Strafe für all die gebrochenen Herzen, die ich zuvor auf der Strecke gelassen hatte zu überwinden.
Omas Ältester starb an einer simplen Blutvergiftung nach der Teilnahme an einer Wehrübung für Jugendliche gegen Ende des Krieges. Er war gerade 15 Jahre alt, und es gab keine Ärzte mehr im Dorf, die hätten helfen können. Am Tag darauf war Mamas Konfirmation, ein Fest ohne den Bruder, den großen Jungen, der immer schon da gewesen war.
„Weinen durfte man da doch nicht, obwohl alle diesen Kloß im Hals hatten und unheimlich lange auf Toilette blieben“, sagte Mama. „Wie gut, dass es die Piaf gab, bei deren Liedern man unweigerlich weinen musste, selbst wenn gerade keiner gestorben war. Zum Weinen hatte man immer was. Im Krieg, da starb ohnehin dauernd jemand. Zum weinen brauchte man immer ein Alibi, und ein Toter war nicht Alibi genug! Also brauchte man die Piaf. So muss es wohl gewesen sein.“
„Erinnert ihr Euch noch an ihr Lachen? Ich sehe es noch vor mir, ihr Lachen. Ja, dieses große Lachen, kein lautes, ein großes eben, wie es jemand lacht, der sich freut, dass ihm nicht mehr zum heulen zu mute ist.“
„Ich weiß noch, wie wir mit ihr Pochbrett gespielt haben, immer um echtes Geld. Sie hat es voll ernst genommen und wollte immer gewinnen. Nie hat sie uns absichtlich einen Vorsprung gegönnt.“
„Sie konnte tolle Geschenke machen. Ich fand alle Geschenke klasse, die sie mir gemacht hat: die Puppe, die ich nach ihr benannte, war fast so groß wie ich, als ich sie bekam, und da ich damals noch alles in den Mund nahm und darauf herum biss, hat sie heute einen Finger zu wenig; ob ich ihn wohl verschluckt haben mag? Das feine Stempelkissen der Deutschen Bundespost in elfenbeinfarbenem Kunststoffkästchen mit Namens- und Adressenstempel, den ich jahrelang stolz für meine zahlreichen Korrespondenzen mit Freundinnen, Jungs und „meinem Knacki“ verwendete und einen Stapel Briefe, die sie mir schrieb, in ihrer feinen verschnörkelten Handschrift. Soll ich mal was von ihr vorlesen?“ hatte ich die Idee.
Ich kramte in einer riesigen Kiste, in der ich, alphabethisch nach Absendern sortiert, die Briefe und Karten aufbewahre, die mir in der Vergangenheit in den Postkasten gelegt worden waren.
„Wie wäre es hiermit? Der ist von 1997.“
„Na los! Lies schon vor!“
„Liebe E…!
…Vorige Woche hat Onkel W… die große dicke Zeder an der Grenze zu Pott umgeschlagen und auch gleich zersägt. Es war für mich sehr interessant als Zuschauer. Sie lag auf dem freien Platz, wo der Gärtner Tiedemann in diesen Tagen seine Dahlien einpflanzen wird. Ich freue mich auf das Blühen und Gedeihen. Leider hat heute das schlechte Wetter wieder angefangen. Es regnet und ist noch kalt.
Sonst weiß ich nichts weiter zu berichten. Ich bedaure nur, dass meine Familie so weit auseinander lebt und nur selten ein Wiedersehen gibt.
Ich grüße somit Dich und A…
Deine Oma an der Wasserkante.“
So musste sie sich wohl oft gefühlt haben: als Zuschauerin, ein wenig fröstelnd - und sehr weit weg.
„Hast Du noch mehr?“
„Ja, so einige. Meistens Karten zum Geburtstag. In den letzten Jahren schrieb ich ihr gelegentlich Briefe. Ich kann anhand der Adressen nachvollziehen, wo ich überall gewohnt habe.“
„Zeig mal ihre Handschrift!“
„Schade, dass Opa nie geschrieben hat.“
„Gibt es eigentlich noch Soir de Paris? Ich glaube, ich brauche den Duft noch mal….“
„Es gibt Dinge, die holst Du nicht zurück.“
„Zum Glück! So behalten sie wenigstens ihren Zauber!“
Vererbt hat sie mir die Vorliebe für französisches Parfüm, die Piaf und Menschen mit großem Lachen.
Faire l´amour dans la petite chambre / Im kleinen Zimmer Liebe machen