Menü des Lebens

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gox

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Zwei Sorten von Spitzenköchen bevölkern die Restaurantküchen. Da arbeiten die Dicken, gemütlichen, denen jede Mahlzeit einen Jahresring mehr um den Bauch beschert. Und dort werkeln dürre, hektische Köche, die Unmengen vertilgen und dennoch immer schlank bleiben werden. Körperliches Mittelmass ist im Sterne-Kochbereich selten anzutreffen.

Helmut gehörte zur dünnen Sorte. Als magerer, innovativer Koch mit Leib und Seele liebte er verrückte Kochkreationen. Manchmal ersann Helmut opulente 14-Gänge-Menüs und verwarf sie als zu langweilig, um an noch filigraneren Schöpfungen zu feilen. Seine Ideen durchspielte er bis zur Erschöpfung.

Helmut hatte den schönsten Beruf der Welt. Er durfte nach Gutdünken schalten und walten und kochte für Menschen, die edles Essen liebten. Seine Phantasie bekam Flügel, wenn er sein Küchenreich betrat. Essen bedeutete Sinnlichkeit.
Zu seinem Kummer litt er unter Sodbrennen. Nach üppigen Tafelrunden meldete sich sein Magen, die Säure schoss über.

Für talentierte Köche ist Freizeit eine Rarität. Wenn andere feiern, stehen sie in der Küche.
Helmuts Privatleben gestaltete sich daher ähnlich chaotisch wie sein Berufsalltag. Feste Beziehungen pflegte er nicht, schätzte aber regelmäßige Abenteuer. Im Laufe der Jahre hatte Helmut sein dickes Adressbuch mit weiblichen Namen gefüllt. Er nannte das Büchlein "Schlemmerliste".
Nach getaner Arbeit wollte er sich ein Naturprodukt namens "Weib" gönnen.

Furios werkelte Helmut an seiner mise-en-place, dem Heiligtum eines jeden Kochs.
Schlag auf Schlag reichte der Kellner Bestellzettel in die Küche, daher mussten Grundzutaten wie Schnittlauch, Brotwürfelchen, Tomaten und klein geschnittene Zwiebeln schnell einsatzbereit sein. Jeder Handgriff musste sitzen, darum bereitet jeder Koch seine kleinen Schubladen persönlich vor.

Helmut dachte an seine Schlemmerliste. Welche Köstlichkeit würde er heute verkosten ?
Voller Vorfreude lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Hatte er Lust auf Coq au vin ? Hühnchen im Wein.
Er nannte sie Kiki, eigentlich hieß sie Cordula. Sie war blond, blauäugig, talentiert und ein wenig hohl im Kopf.
Cordulas kurze Haare standen wie ein Busch in alle Richtungen ab.
Ihr Wesen entsprach dem eines Hühnchens. Aufgeregt, immer plappernd und selten unmotiviert. Trank sie Wein, nahm ihre eigentlich kaum steigerungsfähige Aufregung noch zu. Cordula hüpfte dann in der Wohnung und manchmal auf ihm herum. Er befürchtete ein Durchbrechen des Bettgestells oder ein Abbrechen edler Körperteile. So manch blauer Fleck erinnerte ihn an seine Eskapaden mit Kiki.
Nein, für heute wollte er es ruhiger angehen lassen.

Er dachte an Gemüseflamenco mit Oliven.
Sinnigerweise hieß das Geschöpf tatsächlich Carmen. Ein warmherziger, rothaariger und bemerkenswert feuriger Käfer. Carmen wohnte fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Nach anstrengender Arbeit fand Helmut einen so weiten Weg nicht verlockend. Andererseits würde Carmen ihn mit lustvoller Umarmung und neckischen Spielen entschädigen.
Carmen passte gut zu ihm. Er kochte gern und sie aß mit Leidenschaft. Champagner zum Nachtisch führte immer dazu, dass er sie in der Küche lieben musste. Sobald Carmen Oliven sah, verlangte sie, dass er die grünen Früchte mit der Zunge aus ihrem Bauchnabel angelte. Oliven und Champagner - seine Magensäure freute sich überschäumend über diese Kombination.
Nein, heute also kein Gemüseflamenco mit Oliven. Ein Nachtisch sollte genügen.

Mohr im Hemd - eine österreichische Süßspeise.
Köstlich, mit lippenwarmer Schokolade übergossen.
Allein die wunderschönen schwarzen Haare der Österreicherin Karin, einer Bekanntschaft aus dem letzten Urlaub, waren es wert, den heutigen Abend mit ihr zu verbringen. Er erinnerte sich an seinen Besuch vor vier Wochen, als ihre tiefschwarzen Haare hingegossen wie dunkle Schokoladenseen auf dem weißen Satinlaken lagen.
Die süße Karin hatte einen wesentlichen Nachteil: Sie klebte. Karin erhoffte mehr an Zukunft und Gemeinsamkeit, als er zu geben bereit war. Keine gute Wahl für heute. Helmut kräuselte nachdenklich die Stirn.

Spinat mit Ei war gerade im Anmarsch und riss ihn aus seinen Gedanken. Seine unfreundliche Chefin machte ihren stündlichen Kontrollgang durch die Küche. Immer mit Blick darauf, ob er den Abfalleimer verdreckt und ohne Deckel herumstehen ließ oder ob er die Wischtücher unter Verletzung der Hygienevorschriften zu selten wechselte. Helmut hatte nichts von ihr zu befürchten, doch ihre Gegenwart tötete seine Kreativität . Zwar hatte sie nicht wirklich etwas gemein mit Spinat mit Ei, war weder grün noch eiförmig. Aber alle hassenswerten Menschen erschienen ihm wie Spinat mit Ei: Auch seine zuständige Finanzbeamtin, die ihn und seine Einkommensteuererklärung immer ungläubig anschaute.

Helmuts Gedanken drehten sich erneut um die Schlemmerliste. Er strich
Milchzicklein im Rotweinsud, Venusmuscheln, Seezunge, Gänsebrust in zweierlei Variationen – alles nicht das Richtige.

Manchmal wünschte Helmut sich ein geregeltes Leben.
Immer dann, wenn er nach Hause kam und die leere Wohnung mit leeren Tellern vorfand.
Einsamkeit bewältigte er mit einem Glas Whisky. Wenn Alkohol auch keine Lösung war, verschaffte ihm die alkoholische Lösung doch kurzfristig ein wärmendes Gefühl.
Mit zunehmendem Alter spürte Helmut die Lücken in seinem Leben deutlicher. Eine Dauerfrau könnte zwar die Leere füllen, der Preis dafür wäre ein trostloses Liebesleben, öde und langweilig. Welcher gesunde Mann mag schon jeden Tag Eintopf essen?
Er wäre schnell geschieden, seine winzigen Zeitfenster würden jeder Frau zu klein erscheinen. Ehe ist ein Souffle. Dem besten Patissier fällt irgendwann ein Souffle zusammen.

Helmut entwarf das Menü seines Lebens.
Seine Erwählte sollte ein charaktervolles Drei-Gänge-Menü sein. Als Vorsuppe eine Mulligatawny, ein scharfer und exotischer Auftakt.
Der Hauptgang - krosse Ente auf Variationen von Pilzen an grünem Spargel. Eine solide, durch die Pilze erdverbundene Hauptmahlzeit mit Spargel als Aphrodisiakum.
Um Langeweile mit seiner Auserwählten zu vermeiden, käme als Nachspeise nur ein Omelett Surprise in Frage.
Vielleicht Petits fours im Nachgang. Aus dem französischen übersetzt heißt petit four sinnigerweise 'kleiner Backofen'. Die eigentlich überflüssige Nachspeise. Viele süße kleine Kinder.

Helmut ließ lächelnd das Lebensmenü Revue passieren, wissend, dass er ein solches Leben niemals bewältigen könnte. Wie ein Kopfsprung vom Zehn-Meter-Brett einen Nichtschwimmer überfordern würde.

Sein Sodbrennen meldete sich unerbittlich und er beschloss, nach Hause zu fahren, um eine Magentablette einzunehmen.
Heute war 'Teller-Leer' mit Sicherheit das therapeutisch beste Rezept für ihn. Aber 'Teller-Leer' musste nicht heißen 'Flasche-Leer'. Wenigstens ein guter Freund, der die Leere in seinem Leben vertrieb, wartete auf Helmut.
Die Flasche "Jonny Walker" war immer für ihn da und durfte sein Einsamkeitsgefühl ausbaden. Leise erklang in Helmuts Kopf der Refrain des Lieds von Marius Müller-Westernhagen:

Johnny Walker, ich glaub nicht an den Quatsch
Johnny Walker, Du wärst 'ne Teufelsfratz
Johnny Walker, von mir aus röste mich
Johnny, ich fühl mich königlich
Johnny Walker, Du hast mich nie enttäuscht
Johnny, Du bist mein bester Freund...
 

Inu

Mitglied
Eine interessante Idee. Zu viele Erotik-gerichte verderben dem Koch den Brei! Und am Schluss hilft nur noch der alkoholische Seelentröster. Die Geschichte gefällt mir.

Zwei kleine Flüchtigkeitsfehler:

Sobald Carmen Oliven sah, verlangte sie, dass er die grünen Früchte mit der Zunge aus ihrem Bau[blue]ch[/blue]nabel angelte... Nein,[red][strike] also [/red][/strike]heute also kein Gemüseflamenco mit Oliven.

Ein schönes, sonniges Wochenende wünsch ich Dir

Inu
 

gox

Mitglied
Hello Inu +
Herzlichen Dank für die nette Kritik - die Patzer habe ich natürlich sofort beseitigt.
Aber ich kann Dich nur mit streng erhobenem Zeigefinger warnen: Alkohol ist keine Lösung ! ;-)

Viele Grüsse + Schönen Restsonntag vom gox
 
S

Stoffel

Gast
grüß Dich Gox,

gefällt mir gut. Und mir läuft nun auch das Wasser im Mund zusammen, ehrlich:)

Allerdings..dieses Spitzenköche sind doch wie Heilige. Ich kannmir nicht so Recht vorstellen, dass er unter der Fuchtel eines solchen , sagen wir mal.."Lapskauses" ist :D

Aber gut geschrieben..:)

lG
Stoffel
 

gox

Mitglied
Hello Stoffel,
ich danke Dir - allerdings ist gerade der für Dich unglaubwürdige Teil der Realität entlehnt, ich kenne einen Koch in solch' unschöner Position. Er bleibt aber dort, weil er ansonsten alle Freiheiten hat.
Und: Wenn schon Labskaus, dann mit Hering ;-)

Wenn Du Dich für's Dasein von Köchen interessierst, empfehle ich die 'Geständnisse eines Küchenchefs' von Anthony Bourdain. Wirklich scheußlich! ;-)

Grüsse vom gox
 
F

filechecker

Gast
Hallo gox,

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ein fantasievoller Streifzug durch die "Köstlichkeiten des Lebens", sehr gut erzählt.

Mein Lieblingssatz:
[Ehe ist ein Souffle. Dem besten Patissier fällt irgendwann ein Souffle zusammen]

Apropos:
Bist Du eigentlich Hobbykoch?

Viele Grüße von
filechecker
 
S

Stoffel

Gast
Ehe und Soufflee....

"selbst dem besten Patissier KANN sie zusammenfallen" finde ich treffender.
Ja, die Ehe ist wohl solches, aber auch ohne Trauschein passiert so was;)
Patisserie hat doch was mit Süssem zu tun, Konfekt. Fällt da eigentlich Soufflee drunter??*grübel*

lG
schönen Tag
Stoffel
*schonwiederhungerhat*!
 

gox

Mitglied
@ filechecker,

ich danke Dir, freut mich, dass Dir mein Koch samt Soufflé gefallen hat.
Du solltest Psychologe werden: In der Tat kann ich kaum die Finger von Töpfen und Pfannen lassen ;-)

@ Stoffel,

naja, es ist anders:
Jedem, wirklich jedem Spitzenkoch ist schon ein Soufflé zusammengefallen, denn da genügt ein leichter Lufthauch. Soufflé (von franz. blasen) ist letztlich heiße Luft, hergestellt aus Eischnee in gebutterten Förmchen. Das ist immer eine süsse Nachspeise, die aber nichts mit Konfekt zu tun hat und die höchste Anforderungen an den Pâtissier stellt.

Viele Grüsse vom Bocuse der Leselupe: gox ;-)
 

knychen

Mitglied
klasse geschichte, hat mich am anfang stark an "erbärmlicher fugu" von boyle erinnert. dort sind die seelennöte eines meisterkoches auch sehr treffend mit viel kompetenz beschrieben.
besonders hat mir die charakterisierung der süßen karin gefallen. sie klebte ist gut.
knychen
 



 
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