Ji Rina
Mitglied
Ich dachte daran, Miriam anzurufen. Das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, war am Freitagabend gewesen. Ich hatte sie in München zum Hauptbahnhof gebracht, wo sie den Zug nach Hamburg nehmen wollte. Dort würde ihre Mutter sie abholen und mit dem Auto nach Hause fahren.
Was hatten wir noch gelacht, als wir uns über die Italiener unterhielten; zwei Brüder aus Cagliari, die aus Italien angereist waren, um in der Pizzeria ihres Onkels zu arbeiten. Drei Wochen zuvor hatten wir sie in einer Kneipe kennengelernt. Der eine war groß und kräftig mit einem markanten Gesicht; der andere kleiner und zarter mit schüchternem Blick. Wie die Dinge halt so kommen, war Miriam mit dem großen und ich mit dem Bruder gegangen. Niemand hatte niemanden gewählt, sondern es hatte sich so ergeben.
Nach ein paar Tagen beschwerte Miriam sich bei mir. Sie sagte, der Große sei zwar okay – lieb und nett , aber zu aufdringlich. Ständig würde er sie küssen wollen. Sie sagte, seine Küsse würden sie bedrängen. Zwar küsse sie gern, aber nicht so. Nicht so, wie er es tat. Ich lachte und sagte dazu nichts. Wir redeten ein wenig über dies und das, und dann ging das Gespräch wieder über zu ihrer Mutter. Über ihre Mutter wusste ich bereits so einiges. Zwar kannte ich sie nur vom Sehen, aber Miriam hatte mir schon unzählige Geschichten über sie erzählt. Auch von ihr fühlte sie sich bedrängt. Ihre Mutter, so Miriam, leide an zwanghafter Eifersucht und Kontrollsucht. Ständig würde sie sie fragen: Wo gehst du jetzt hin? Wo warst du? Wer hat dich vorhin angerufen? Miriam sagte, ihre Mutter stünde immer unter Strom, als könne sie krank werden, wenn sie ihre Tochter nicht unter ständiger Aufsicht habe. Aus diesem Grund war Miriam damals auch von Hamburg nach München gezogen. Wir begannen zur gleichen Zeit einen Kurs als Maskenbildnerinnen.
»Wenn ich am Wochenende nach Hause komme«, erzählte Miriam oft, »bombardiert sie mich mit Fragen. Was hast du die ganze Woche über gemacht? Mit wem warst du unterwegs? Hast du jemanden kennengelernt?«
Ihre Mutter lebte in ständiger Angst, ihrer Tochter könne irgendetwas zustoßen: an die falschen Leute geraten, sich in fragwürdigen Gegenden aufhalten oder an den Wochenenden nicht nach Hause kommen. Ja, das war ihre größte Angst. Denn jeden Freitagmorgen rief ihre Mutter sie an und sagte: »Heute Abend kommst du, nicht wahr? Du nimmst den Abendzug?«
Aus ihrem Privatleben erzählte Miriam ihr grundsätzlich nichts. »Wenn du ihr einen Finger reichst, reißt sie dir die ganze Hand ab«, sagte Miriam verbittert. Ihre Mutter würde sogar in ihr Zimmer gehen und ihre Sachen kontrollieren, selbst ihre Handtasche untersuche sie, heimlich, während Miriam im Bad war, falte dann jedes Papierchen auseinander und lese es. Das Handy trug Miriam aus Sicherheitsgründen nur bei sich, in einer Jacken- oder Hosentasche.
»Ich bin jetzt 23 Jahre alt«, klagte Miriam. »Soll das ein Leben lang so weitergehen?«
»Warum bleibst du nicht einfach in München?«, fragte ich. »Fahr doch mal ne Zeit lang nicht nach Hause!«
Aber diese Sätze kamen bei Miriam nie an.
»Sie würde es nicht dulden«, antwortete sie. »Sie würde herkommen und mich mit dem Auto holen. Sie würde sonst wo hinfahren, um mich zu holen.«
Bei diesen Gesprächen wechselte ich oft das Thema. Ich öffnete dann eine kleine Flasche Wein, redete über anderes und riss Witze. Aber ich merkte, dass es mir nur sehr selten gelang; Miriam wirkte dann verbittert und distanziert.
»Echt. Wenn ich irgendwie könnte, würde ich ihr alles heimzahlen«, sagte sie einmal. »Seit meiner Kindheit macht sie mir mein Leben zur Hölle.«
Dazu sagte ich nichts. Ich schätzte es als die üblichen Mutter-Tochter-Probleme ein. Irgendwann würde Miriam ihr Elternhaus verlassen, ein eigenes Leben führen, vielleicht heiraten, Kinder kriegen. Wie diese Dinge halt kommen.
An jenem Morgen also wollte ich Miriam anrufen. Ich wollte wissen, wie es ihr ging, und ob sie zu dieser Party gegangen war, zu der man sie eingeladen hatte. Außerdem wollte ich sie fragen, ob ich sie bei ihrer Rückkehr wieder am Hauptbahnhof abholen solle. Mit den Italienern hatte ich vereinbart, dass wir uns in der Pizzeria ihres Onkels treffen würden.
Ich wählte Miriams Handynummer, aber da es abgestellt war, rief ich bei ihr zu Hause an. Es meldete sich ihre Mutter.
»Hallo!«, sagte ich so kurz und bündig wie möglich, weil ich jede Fragerei ihrerseits vermeiden wollte. »Könnte ich mal kurz Miriam sprechen?«
Einige Sekunden herrschte Stille. Ich dachte, sie würde mich jetzt fragen, wer ich sei und was ich wolle. Aber sie sagte nichts. Und als ich schon dachte, sie würde einfach auflegen, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme:
»Miriam ist tot.«
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ihre Worte bebten in meinem Kopf nach, und ich war unfähig zu irgendeiner Reaktion. Ich hielt den Hörer an meinem Ohr und spürte das Zittern meiner Hand.
»Gestern Nacht …«, stammelte sie, »bei einem Autounfall … auf dem Heimweg … von einer Party …«
Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich schluckte und horchte, während ich den Hörer fest gegen mein Ohr presste. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ging über in ein Schluchzen.
»Wie … wie ist es passiert?«, war alles, was ich herausbrachte.
Ich hörte ein Knacksen. Und dann machte es Klick.
Sie hatte aufgelegt.
Was hatten wir noch gelacht, als wir uns über die Italiener unterhielten; zwei Brüder aus Cagliari, die aus Italien angereist waren, um in der Pizzeria ihres Onkels zu arbeiten. Drei Wochen zuvor hatten wir sie in einer Kneipe kennengelernt. Der eine war groß und kräftig mit einem markanten Gesicht; der andere kleiner und zarter mit schüchternem Blick. Wie die Dinge halt so kommen, war Miriam mit dem großen und ich mit dem Bruder gegangen. Niemand hatte niemanden gewählt, sondern es hatte sich so ergeben.
Nach ein paar Tagen beschwerte Miriam sich bei mir. Sie sagte, der Große sei zwar okay – lieb und nett , aber zu aufdringlich. Ständig würde er sie küssen wollen. Sie sagte, seine Küsse würden sie bedrängen. Zwar küsse sie gern, aber nicht so. Nicht so, wie er es tat. Ich lachte und sagte dazu nichts. Wir redeten ein wenig über dies und das, und dann ging das Gespräch wieder über zu ihrer Mutter. Über ihre Mutter wusste ich bereits so einiges. Zwar kannte ich sie nur vom Sehen, aber Miriam hatte mir schon unzählige Geschichten über sie erzählt. Auch von ihr fühlte sie sich bedrängt. Ihre Mutter, so Miriam, leide an zwanghafter Eifersucht und Kontrollsucht. Ständig würde sie sie fragen: Wo gehst du jetzt hin? Wo warst du? Wer hat dich vorhin angerufen? Miriam sagte, ihre Mutter stünde immer unter Strom, als könne sie krank werden, wenn sie ihre Tochter nicht unter ständiger Aufsicht habe. Aus diesem Grund war Miriam damals auch von Hamburg nach München gezogen. Wir begannen zur gleichen Zeit einen Kurs als Maskenbildnerinnen.
»Wenn ich am Wochenende nach Hause komme«, erzählte Miriam oft, »bombardiert sie mich mit Fragen. Was hast du die ganze Woche über gemacht? Mit wem warst du unterwegs? Hast du jemanden kennengelernt?«
Ihre Mutter lebte in ständiger Angst, ihrer Tochter könne irgendetwas zustoßen: an die falschen Leute geraten, sich in fragwürdigen Gegenden aufhalten oder an den Wochenenden nicht nach Hause kommen. Ja, das war ihre größte Angst. Denn jeden Freitagmorgen rief ihre Mutter sie an und sagte: »Heute Abend kommst du, nicht wahr? Du nimmst den Abendzug?«
Aus ihrem Privatleben erzählte Miriam ihr grundsätzlich nichts. »Wenn du ihr einen Finger reichst, reißt sie dir die ganze Hand ab«, sagte Miriam verbittert. Ihre Mutter würde sogar in ihr Zimmer gehen und ihre Sachen kontrollieren, selbst ihre Handtasche untersuche sie, heimlich, während Miriam im Bad war, falte dann jedes Papierchen auseinander und lese es. Das Handy trug Miriam aus Sicherheitsgründen nur bei sich, in einer Jacken- oder Hosentasche.
»Ich bin jetzt 23 Jahre alt«, klagte Miriam. »Soll das ein Leben lang so weitergehen?«
»Warum bleibst du nicht einfach in München?«, fragte ich. »Fahr doch mal ne Zeit lang nicht nach Hause!«
Aber diese Sätze kamen bei Miriam nie an.
»Sie würde es nicht dulden«, antwortete sie. »Sie würde herkommen und mich mit dem Auto holen. Sie würde sonst wo hinfahren, um mich zu holen.«
Bei diesen Gesprächen wechselte ich oft das Thema. Ich öffnete dann eine kleine Flasche Wein, redete über anderes und riss Witze. Aber ich merkte, dass es mir nur sehr selten gelang; Miriam wirkte dann verbittert und distanziert.
»Echt. Wenn ich irgendwie könnte, würde ich ihr alles heimzahlen«, sagte sie einmal. »Seit meiner Kindheit macht sie mir mein Leben zur Hölle.«
Dazu sagte ich nichts. Ich schätzte es als die üblichen Mutter-Tochter-Probleme ein. Irgendwann würde Miriam ihr Elternhaus verlassen, ein eigenes Leben führen, vielleicht heiraten, Kinder kriegen. Wie diese Dinge halt kommen.
An jenem Morgen also wollte ich Miriam anrufen. Ich wollte wissen, wie es ihr ging, und ob sie zu dieser Party gegangen war, zu der man sie eingeladen hatte. Außerdem wollte ich sie fragen, ob ich sie bei ihrer Rückkehr wieder am Hauptbahnhof abholen solle. Mit den Italienern hatte ich vereinbart, dass wir uns in der Pizzeria ihres Onkels treffen würden.
Ich wählte Miriams Handynummer, aber da es abgestellt war, rief ich bei ihr zu Hause an. Es meldete sich ihre Mutter.
»Hallo!«, sagte ich so kurz und bündig wie möglich, weil ich jede Fragerei ihrerseits vermeiden wollte. »Könnte ich mal kurz Miriam sprechen?«
Einige Sekunden herrschte Stille. Ich dachte, sie würde mich jetzt fragen, wer ich sei und was ich wolle. Aber sie sagte nichts. Und als ich schon dachte, sie würde einfach auflegen, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme:
»Miriam ist tot.«
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ihre Worte bebten in meinem Kopf nach, und ich war unfähig zu irgendeiner Reaktion. Ich hielt den Hörer an meinem Ohr und spürte das Zittern meiner Hand.
»Gestern Nacht …«, stammelte sie, »bei einem Autounfall … auf dem Heimweg … von einer Party …«
Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich schluckte und horchte, während ich den Hörer fest gegen mein Ohr presste. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ging über in ein Schluchzen.
»Wie … wie ist es passiert?«, war alles, was ich herausbrachte.
Ich hörte ein Knacksen. Und dann machte es Klick.
Sie hatte aufgelegt.