Haremsdame
Mitglied
Wie ich adoptiert wurde
Genug gelitten. Genug graue Haare bekommen. Genug Tränen vergossen. So dachte ich noch vor ein paar Tagen. Doch dann kam die Muttertagsfeier...
„Nicht vergessen: heute um vier in der Schule!“ ermahnte uns Patrizia morgens beim Verlassen des Hauses. Den Ärger über den vollen Kleiderschrank, in dem angeblich nichts zum Anziehen zu finden war, ließ sie dabei ebenso zu Hause, wie die Briefe, die sie in den Briefkasten werfen sollte...
Ich liebe solche Schulfeiern nicht. In den Jahren, da meine eigenen Kinder klein waren, überstand ich davon schon mehr als mir lieb war. Doch Patrizias Mühe, mit der sie ihr Flötenstück einstudiert hatte, mussten wir selbstverständlich durch unsere Anwesenheit honorieren.
In der tschechischen Schule dient eine mit Kinderstühlen bestückte Turnhalle als Aula. Das unterscheidet sich in nichts von meinem früheren Leben in Bayern. Trotz der vertrauten Umgebung fühlte ich mich zusammen mit meinem Lebensgefährten zwischen all den jungen Müttern und kleinen Kindern als Außenseiterin. Immerhin ist Georg schon Großvater und ich mache ihm mit meinen Falten deutlich Konkurrenz. Unser beider Gesichtszüge sind vom Leben mit Patrizias an Alzheimer erkrankten Mutter gezeichnet. Neben andersgearteten Themen erschwert auch die fremde Sprache unsere Integration.
Als ich Patrizia kennen lernte, war sie vier. Zum ersten Beschnuppern trafen wir uns in einem Freizeitpark. Ihr Vater und ich kannten uns aus dem Internet, wo wir regelmäßig in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alzheimerkranken verkehrten. Er schrieb von der Absicht, zusammen mit seiner Frau, die zwei Jahre zuvor die Diagnose Alzheimer bekommen hatte, zur Kur zu fahren. Dort wollte er lernen, mit der verwirrenden Krankheit umzugehen. Die spätgeborene Tochter dürfe er dorthin jedoch nicht mitbringen. Deshalb bot ich ihm an, sie für die Zeit der Kur in meiner Familie aufzunehmen. Der Besuch im Freizeitpark sollte zeigen, ob sie mich akzeptieren würde.
Schon nach einer halben Stunde schob sich eine kleine Hand vertrauensvoll in die meine. Benjamin, mein jüngster Sohn, war solchen Gesten schon lange entwachsen, deshalb genoss ich diese kindliche Annäherung. Patrizia zog mich begeistert mal in diese, dann in jene Richtung. Wir begegneten zwar keinem Lassowerfer, dafür aber einem nicht wesentlich jüngeren Feuerschlucker im glänzenden orientalischen Gewand. Als er eine Schlange zum Streicheln brachte, flüchtete die kleine Maus in Papas sichere Arme. Der hatte schon lange die Schutzfunktion übernommen, die seine Frau nicht mehr ausfüllen konnte.
***
Drei Wochen Sommerferien genügten Patrizia, um das Leben von acht Menschen grundlegend zu verändern. Sie gab mir wieder das Gefühl, nicht nur beruflich gebraucht zu werden, sondern auch menschlich. Meine Kinder gingen schon weitgehend ihre eigenen Wege. Maximilian absolvierte seinen zivilen Ersatzdienst in einem Behindertenheim, Viktoria arbeitete voller Begeisterung an ihrer Zukunft als Hotelfachfrau und Benjamin wollte nach den Sommerferien auf ein Internat wechseln. Mein Mann hatte seine Arbeit und seine Hobbys und erinnerte sich nur selten daran, dass sich irgendwo zwischen den Möbeln auch noch eine Frau befand.
Seit es mir gelungen war, mein Hobby, das Schreiben, zum Beruf zu machen, war ich nicht unzufrieden. Ganz im Gegenteil, ich genoss mein Leben als freie Lokaljournalistin. So kam ich wenigstens regelmäßig unter mehr oder weniger interessante Zeitgenossen.
Als Patrizia bei uns war, lehnte ich alle angebotenen Termine ab. Ich wollte ein letztes Mal ‚Ferien’ genießen und all die Plätze aufsuchen, an denen ich mit meinem Nachwuchs glücklich gewesen war. Damit Patrizias Kontakt zu ihren Eltern nicht zu lange unterbrochen war, fuhren wir regelmäßig zu ihnen.
Bei einem dieser Besuche in der Kurklinik gelang es Georg, mir direkt ins Herz zu sehen. Mir wurde heiß und kalt und ich wusste nicht, wohin ich hätte fliehen können. Seine Augen verfolgten mich bis in den Traum. Um mich abzulenken, dachte ich an seinen äußerst liebevollen Umgang mit seiner - durch die Krankheit verunsicherten - Frau. Ich bewunderte ihn für seinen Langmut, für seine hingebungsvolle Aufmerksamkeit. Da ich selbst drei Jahre lang meine alzheimerkranke Schwiegermutter zu Hause betreut hatte, wusste ich, wie viel Kraft dieses für-den-anderen-da-sein kostete.
Plötzlich wünschte ich mir das Ende von Patrizias Aufenthalt bei uns herbei. Ich spürte eine versteckte Gefahr, ahnte aber noch nicht, worin die bestand. Damals glaubte ich ernsthaft, dass mein Leben von diesem emotionalen Aufruhr weitgehend unbeeinflusst weiter gehen könnte.
Patrizia und ich blieben in telefonischem Kontakt. Georg verwöhnte mich übers Internet mit lieben Worten. Er war hartnäckig und ich ausgehungert. Innerhalb weniger Wochen erschütterte ein inneres Erdbeben mein bisheriges Dasein. Die schon lange nicht mehr gepflegten Wände meines verborgenen Schutzraumes fielen in sich zusammen. Verzweifelt versuchten wir die entstandenen Scherben zu sortieren.
Schließlich ließ ich mich auf ein Experiment ein. Ich bot Georg an, bis zu seinem - bereits geplanten - Umzug nach Tschechien bei ihm als Haushaltshilfe zu fungieren. Patrizia war von dieser Idee begeistert, ihre Mutter und mein Mann weniger. Es begann eine schwere, aber durch das intensive Erleben auch schöne Zeit.
Die Entfernung zu meinen Kindern machte mich oft traurig. Sie fehlten mir bei unglaublichen vielen Gelegenheiten, obwohl Patrizia mir nicht viel Zeit zum Nachdenken ließ. Georg brachte mir Achtung entgegen und schenkte mir die Zärtlichkeit, die seine Frau aus Krankheitsgründen nicht mehr zu schätzen wusste. Sie schwankte täglich zwischen Selbstüberschätzung, Eifersucht und bester Freundin hin und her.
Einmal fragte sie mich aus heiterem Himmel: „Liebst du Georg?“
Peinlich berührt fragte ich zurück: „Wie kommst du da drauf?“
„Das sieht man“, war die lakonische Antwort, die sie mit „Du kannst ihn haben“ ergänzte. Tage später fragte sie Patrizia: „Sollen wir Hannah mit nach Tschechien nehmen?“
Sechseinhalb Jahre lebten wir – gemeinsam mit Georgs Schwester, die uns anfangs noch fleißig bei der Betreuung unserer Kranken half, dann aber das Weite suchte – in einem Haus. Ein Mann, drei Frauen und ein kleines Mädchen bilden eine Konstellation, die ein gutes Nervenkostüm erfordert. Vor allem, wenn die Mutter des Kindes nach und nach vergisst, wer dieses Kind ist und zur Konkurrentin der eigenen Tochter wird. Während sie anfangs noch darauf beharrte: „Patrizia ist meine Tochter“, ertrug sie später kein Kinderlachen mehr.
Bei Schulveranstaltungen tauchten wir immer als Großfamilie auf, bis sich die Angst unserer Kranken vor Menschenansammlungen ins Unerträgliche steigerte. Patrizias Enttäuschung nahm zu. Sie verstand zwar, dass immer jemand bei ihrer Mama bleiben musste, fühlte sich aber dennoch vernachlässigt.
Was in ihrer Seele vor sich ging, konnten wir nur ahnen. Solange ich mich erinnern kann, hat sie ihre leibliche Mutter nur ein einziges Mal „Mutti“ genannt und das geschah nach langem Betteln an einem Geburtstag. Sonst sprach sie sie hartnäckig mit dem Vornamen an - wie eine Schwester.
Seit unsere Kranke in einem dementengerechten Heim gut untergebracht ist und dort eine ebenfalls kranke „Ersatzmutti“ gefunden hat, blüht Patrizia sichtbar auf. Endlich findet sie in ihrem Vater und seiner Lebensgefährtin die so lange entbehrten Spielkameraden für Kniffel oder Monopoli.
Früher wusste sie bei Schulveranstaltungen oder sonstigen Festtagen nicht, wem sie die selbstgebastelten Geschenke überreichen sollte. Doch bei der diesjährigen Muttertagsfeier kam sie freudestrahlend auf mich zu und drückte mir neben dem selbstbemalten Blumentopf eine vom Taschengeld gekaufte Lilie in die Hand. Plötzlich, in aller Öffentlichkeit, von ihr die Karte mit der Aufschrift „Milá maminko“ in die Hand gedrückt zu bekommen, raubte mir die Fassung.
„Gib doch dem Papa auch was davon“, flüsterte ich ihr ins Ohr. In meinen Augen ist er eindeutig die bessere Mutter. Als Antwort bekam ich nur ein Kopfschütteln, eine liebevolle Umarmung und einen herzhaften Kuss. Die Freude, endlich ebenso wie andere Kinder eine Mutter zu haben, strahlte unverhohlen aus der inzwischen Elfjährigen. Ich dagegen kämpfte vor lauter Rührung (und, wie mir erst später bewusst wurde, auch aus Angst vor weiterer Verantwortung) so sehr mit den Tränen, dass Georg mich nachsichtig aus seinem nie enden wollenden Tempotaschentüchervorrat versorgte.
Nun habe ich also vier Kinder. So viele, wie ich mir schon als junge Frau gewünscht habe. Manchmal dauert es eben etwas länger, bis Träume in Erfüllung gehen. Der Lehrer, der mir vor über vierzig Jahren ins Poesiealbum schrieb: „Man muss im Leben alles erwarten können“, hat wieder einmal Recht behalten.
13.5.2007 © gst
Genug gelitten. Genug graue Haare bekommen. Genug Tränen vergossen. So dachte ich noch vor ein paar Tagen. Doch dann kam die Muttertagsfeier...
„Nicht vergessen: heute um vier in der Schule!“ ermahnte uns Patrizia morgens beim Verlassen des Hauses. Den Ärger über den vollen Kleiderschrank, in dem angeblich nichts zum Anziehen zu finden war, ließ sie dabei ebenso zu Hause, wie die Briefe, die sie in den Briefkasten werfen sollte...
Ich liebe solche Schulfeiern nicht. In den Jahren, da meine eigenen Kinder klein waren, überstand ich davon schon mehr als mir lieb war. Doch Patrizias Mühe, mit der sie ihr Flötenstück einstudiert hatte, mussten wir selbstverständlich durch unsere Anwesenheit honorieren.
In der tschechischen Schule dient eine mit Kinderstühlen bestückte Turnhalle als Aula. Das unterscheidet sich in nichts von meinem früheren Leben in Bayern. Trotz der vertrauten Umgebung fühlte ich mich zusammen mit meinem Lebensgefährten zwischen all den jungen Müttern und kleinen Kindern als Außenseiterin. Immerhin ist Georg schon Großvater und ich mache ihm mit meinen Falten deutlich Konkurrenz. Unser beider Gesichtszüge sind vom Leben mit Patrizias an Alzheimer erkrankten Mutter gezeichnet. Neben andersgearteten Themen erschwert auch die fremde Sprache unsere Integration.
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Als ich Patrizia kennen lernte, war sie vier. Zum ersten Beschnuppern trafen wir uns in einem Freizeitpark. Ihr Vater und ich kannten uns aus dem Internet, wo wir regelmäßig in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alzheimerkranken verkehrten. Er schrieb von der Absicht, zusammen mit seiner Frau, die zwei Jahre zuvor die Diagnose Alzheimer bekommen hatte, zur Kur zu fahren. Dort wollte er lernen, mit der verwirrenden Krankheit umzugehen. Die spätgeborene Tochter dürfe er dorthin jedoch nicht mitbringen. Deshalb bot ich ihm an, sie für die Zeit der Kur in meiner Familie aufzunehmen. Der Besuch im Freizeitpark sollte zeigen, ob sie mich akzeptieren würde.
Schon nach einer halben Stunde schob sich eine kleine Hand vertrauensvoll in die meine. Benjamin, mein jüngster Sohn, war solchen Gesten schon lange entwachsen, deshalb genoss ich diese kindliche Annäherung. Patrizia zog mich begeistert mal in diese, dann in jene Richtung. Wir begegneten zwar keinem Lassowerfer, dafür aber einem nicht wesentlich jüngeren Feuerschlucker im glänzenden orientalischen Gewand. Als er eine Schlange zum Streicheln brachte, flüchtete die kleine Maus in Papas sichere Arme. Der hatte schon lange die Schutzfunktion übernommen, die seine Frau nicht mehr ausfüllen konnte.
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Drei Wochen Sommerferien genügten Patrizia, um das Leben von acht Menschen grundlegend zu verändern. Sie gab mir wieder das Gefühl, nicht nur beruflich gebraucht zu werden, sondern auch menschlich. Meine Kinder gingen schon weitgehend ihre eigenen Wege. Maximilian absolvierte seinen zivilen Ersatzdienst in einem Behindertenheim, Viktoria arbeitete voller Begeisterung an ihrer Zukunft als Hotelfachfrau und Benjamin wollte nach den Sommerferien auf ein Internat wechseln. Mein Mann hatte seine Arbeit und seine Hobbys und erinnerte sich nur selten daran, dass sich irgendwo zwischen den Möbeln auch noch eine Frau befand.
Seit es mir gelungen war, mein Hobby, das Schreiben, zum Beruf zu machen, war ich nicht unzufrieden. Ganz im Gegenteil, ich genoss mein Leben als freie Lokaljournalistin. So kam ich wenigstens regelmäßig unter mehr oder weniger interessante Zeitgenossen.
Als Patrizia bei uns war, lehnte ich alle angebotenen Termine ab. Ich wollte ein letztes Mal ‚Ferien’ genießen und all die Plätze aufsuchen, an denen ich mit meinem Nachwuchs glücklich gewesen war. Damit Patrizias Kontakt zu ihren Eltern nicht zu lange unterbrochen war, fuhren wir regelmäßig zu ihnen.
Bei einem dieser Besuche in der Kurklinik gelang es Georg, mir direkt ins Herz zu sehen. Mir wurde heiß und kalt und ich wusste nicht, wohin ich hätte fliehen können. Seine Augen verfolgten mich bis in den Traum. Um mich abzulenken, dachte ich an seinen äußerst liebevollen Umgang mit seiner - durch die Krankheit verunsicherten - Frau. Ich bewunderte ihn für seinen Langmut, für seine hingebungsvolle Aufmerksamkeit. Da ich selbst drei Jahre lang meine alzheimerkranke Schwiegermutter zu Hause betreut hatte, wusste ich, wie viel Kraft dieses für-den-anderen-da-sein kostete.
Plötzlich wünschte ich mir das Ende von Patrizias Aufenthalt bei uns herbei. Ich spürte eine versteckte Gefahr, ahnte aber noch nicht, worin die bestand. Damals glaubte ich ernsthaft, dass mein Leben von diesem emotionalen Aufruhr weitgehend unbeeinflusst weiter gehen könnte.
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Patrizia und ich blieben in telefonischem Kontakt. Georg verwöhnte mich übers Internet mit lieben Worten. Er war hartnäckig und ich ausgehungert. Innerhalb weniger Wochen erschütterte ein inneres Erdbeben mein bisheriges Dasein. Die schon lange nicht mehr gepflegten Wände meines verborgenen Schutzraumes fielen in sich zusammen. Verzweifelt versuchten wir die entstandenen Scherben zu sortieren.
Schließlich ließ ich mich auf ein Experiment ein. Ich bot Georg an, bis zu seinem - bereits geplanten - Umzug nach Tschechien bei ihm als Haushaltshilfe zu fungieren. Patrizia war von dieser Idee begeistert, ihre Mutter und mein Mann weniger. Es begann eine schwere, aber durch das intensive Erleben auch schöne Zeit.
Die Entfernung zu meinen Kindern machte mich oft traurig. Sie fehlten mir bei unglaublichen vielen Gelegenheiten, obwohl Patrizia mir nicht viel Zeit zum Nachdenken ließ. Georg brachte mir Achtung entgegen und schenkte mir die Zärtlichkeit, die seine Frau aus Krankheitsgründen nicht mehr zu schätzen wusste. Sie schwankte täglich zwischen Selbstüberschätzung, Eifersucht und bester Freundin hin und her.
Einmal fragte sie mich aus heiterem Himmel: „Liebst du Georg?“
Peinlich berührt fragte ich zurück: „Wie kommst du da drauf?“
„Das sieht man“, war die lakonische Antwort, die sie mit „Du kannst ihn haben“ ergänzte. Tage später fragte sie Patrizia: „Sollen wir Hannah mit nach Tschechien nehmen?“
Sechseinhalb Jahre lebten wir – gemeinsam mit Georgs Schwester, die uns anfangs noch fleißig bei der Betreuung unserer Kranken half, dann aber das Weite suchte – in einem Haus. Ein Mann, drei Frauen und ein kleines Mädchen bilden eine Konstellation, die ein gutes Nervenkostüm erfordert. Vor allem, wenn die Mutter des Kindes nach und nach vergisst, wer dieses Kind ist und zur Konkurrentin der eigenen Tochter wird. Während sie anfangs noch darauf beharrte: „Patrizia ist meine Tochter“, ertrug sie später kein Kinderlachen mehr.
***
Bei Schulveranstaltungen tauchten wir immer als Großfamilie auf, bis sich die Angst unserer Kranken vor Menschenansammlungen ins Unerträgliche steigerte. Patrizias Enttäuschung nahm zu. Sie verstand zwar, dass immer jemand bei ihrer Mama bleiben musste, fühlte sich aber dennoch vernachlässigt.
Was in ihrer Seele vor sich ging, konnten wir nur ahnen. Solange ich mich erinnern kann, hat sie ihre leibliche Mutter nur ein einziges Mal „Mutti“ genannt und das geschah nach langem Betteln an einem Geburtstag. Sonst sprach sie sie hartnäckig mit dem Vornamen an - wie eine Schwester.
Seit unsere Kranke in einem dementengerechten Heim gut untergebracht ist und dort eine ebenfalls kranke „Ersatzmutti“ gefunden hat, blüht Patrizia sichtbar auf. Endlich findet sie in ihrem Vater und seiner Lebensgefährtin die so lange entbehrten Spielkameraden für Kniffel oder Monopoli.
Früher wusste sie bei Schulveranstaltungen oder sonstigen Festtagen nicht, wem sie die selbstgebastelten Geschenke überreichen sollte. Doch bei der diesjährigen Muttertagsfeier kam sie freudestrahlend auf mich zu und drückte mir neben dem selbstbemalten Blumentopf eine vom Taschengeld gekaufte Lilie in die Hand. Plötzlich, in aller Öffentlichkeit, von ihr die Karte mit der Aufschrift „Milá maminko“ in die Hand gedrückt zu bekommen, raubte mir die Fassung.
„Gib doch dem Papa auch was davon“, flüsterte ich ihr ins Ohr. In meinen Augen ist er eindeutig die bessere Mutter. Als Antwort bekam ich nur ein Kopfschütteln, eine liebevolle Umarmung und einen herzhaften Kuss. Die Freude, endlich ebenso wie andere Kinder eine Mutter zu haben, strahlte unverhohlen aus der inzwischen Elfjährigen. Ich dagegen kämpfte vor lauter Rührung (und, wie mir erst später bewusst wurde, auch aus Angst vor weiterer Verantwortung) so sehr mit den Tränen, dass Georg mich nachsichtig aus seinem nie enden wollenden Tempotaschentüchervorrat versorgte.
***
Nun habe ich also vier Kinder. So viele, wie ich mir schon als junge Frau gewünscht habe. Manchmal dauert es eben etwas länger, bis Träume in Erfüllung gehen. Der Lehrer, der mir vor über vierzig Jahren ins Poesiealbum schrieb: „Man muss im Leben alles erwarten können“, hat wieder einmal Recht behalten.
13.5.2007 © gst