Gibt es einen größeren Schelm als den Nachtwind? Er, der mit lauer Zärtlichkeit über unser Land streicht und dabei gewissenhaft die Wolken schiebt? Hier und da bläst er schon mal mit wildem Ordnungssinn. Doch am liebsten lauscht er mit unschuldiger Miene den Nachtgeschichten, hebt sie auf seine Strömungen und trägt sie fort. Schon vermengt er das Gebimmel letzter Straßenbahnen mit leisem Schnarchen, webt das Flüstern der Verliebten mit dem Turmschlag zum Bilderlauf unserer Träume und lässt so vermischtes Leben neu entstehen. Kürzlich lauschte er einem Streit. Die aufgeregten Worte drangen aus dem Holzhaus, welches schon seit vielen Jahren da am Waldrand steht. Sanft legte sich der Wind aufs Fensterbrett, niemand sollte ihn und seine Neugier bemerken.
„Sie wollen uns doch nicht schon wieder eines Ihrer Märchen erzählen! Jede Nacht die gleiche Leier. Ich frage Sie, wen interessiert denn noch die Geschichte von Ihrem alten Kloster? Vielleicht haben Sie es ja noch nicht gemerkt, verehrte Dame, aber wir leben im Zeitalter der ungebremsten Geschwindigkeit! Meinen Sie im Ernst, dass Ihnen da noch einer zuhört? Außerdem kann ich sie inzwischen auswendig daher beten. Gleich zieht dieser Protestant in die Lüneburger Heide, singt der Äbtissin seine Liebeslieder, und nur weil diese nicht erhört wurden, beraubte er in Wienhausen mit seiner Bande im Namen der Reformation gleich das ganze Kloster.“
„Ja, ja, natürlich. Nur weil Sie als Herrenzimmermöbel auf die Welt gekommen sind und sich nicht vorstellen können, wie es in einem Frauenkloster des Zisterzienserordens zuging, halten sie meine Geschichten für altmodisch. Dieser Protestant war niemand anderes als Ernst der Bekenner, ein Studienfreund von Martin Luther immerhin. Außerdem gab es da noch diese Dirne, die sich vor den heranrückenden Unholden in das Kloster flüchtete. Ein reizendes Mädchen. Freilich, das Lotterleben war nun vorbei. Früh um 4:00 Uhr musste sie nun jeden Morgen aufstehen. Ihre Sachen legte sie in meinen Bauch. Nun ja, viel hatte sie ja nicht. Doch glauben sie mir, dieses Mädchen hatte eine feine Art, die man nicht oft trifft. Manchmal strich sie mit ihrer Hand über mein Holz und erzählte wilde Geschichten von ihrer Flucht in das Kloster und von ihrem Leben davor. Aber solche Geschichten kennen Sie ja nur vom Hörensagen. Damals in Wienhausen haben Dutzende meinesgleichen nebeneinander gestanden und waren geachtete Möbelstücke der Nonnen. Ach, wäre ich doch nur da geblieben und nicht vor kurzem für ein paar Brote eingetauscht worden.“
„Dass ich nicht lache! So eine ungehobelte Truhe und möchte ein geachtetes Möbelstück sein. Und außerdem, das mit dem Brottausch ist nun auch schon bald sechzig Jahre her. Ein halbes Leben!“
„Das wiederum glaube ich gern. Ihr Leben als Kommode wird bestimmt keine sechshundert Jahre dauern. Solange hat Ihr Holzwurm nicht an Ihnen zu nagen. Wie nennen Sie sich gleich? Herrenzimmer? Das ich nicht lache!“
„Unverschämtheit, das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen.“
„So hören Sie doch auf zu streiten“, rief da ein junger schwedischer Schwingsessel aus der Raummitte dazwischen. „Erzählen Sie uns doch lieber von diesem Mädchen! Ach bitte, seien Sie so gut.“
„Von Brunhilde?“ Die alte Holztruhe holte tief Luft, nach einer Weile begann sie leise zu erzählen:
„Aufgereiht standen wir, ich und die anderen Truhen, vor den Verschlägen der winzigen Dachkammern. In diese lausigen Verschläge zogen sich die Nonnen nach der Complet zurück. Keine Heizung wärmte im Winter, nichts vertrieb die Hitze eines Sommertages. Viele Frauen hatte ich inzwischen kommen sehen. Manche blieben nur für kurze Zeit, starben früh, zogen mit neuen Aufgaben in andere Klöster oder flohen, wenn sie die harten Ordensregeln nicht ertrugen. Manche waren länger da. Alt wurde selten jemand.
An dieses Mädchen erinnere ich mich gern. In einer kleinen zugigen Kammer am Ende des Flurs wohnte sie. Und was war Brunhilde für eine Frohnatur, trotz allem! Den ganzen Tag freute sie sich an den kleinsten Dingen. Oft sang sie bei der Arbeit und ihre Stimme war so klar und rein, dass man einfach lächeln musste, wenn man sie hörte. Doch es gab auch Neid. Manche konnten es einfach nicht ertragen, dass die Schwere des Klosterlebens scheinbar an dieser jungen Frau vorüberging. Zum Neid mischte sich Gift. Brunhilde erhielt die unangenehmsten und schwersten Aufgaben – doch scheinbar nichts konnte ihre Fröhlichkeit zerstören. Man durchsuchte arglistig mich und ihre Kammer, stöberte in den Sachen nach ihrem Geheimnis. Doch sie fanden nichts und zogen ratlos wieder ab.
Wenn das Nachtgebet beendet war und das Schnarchen durch die dünnen Bretterwände den Schlaf der anderen Nonnen anzeigte, kam lautlose Bewegung in die Kammer von Schwester Brunhilde. In einer Ritze der dünnen Holzwand verbarg sie einen schönen Kamm und begann ein immer wiederkehrendes Ritual. Schwester Brunhilde saß auf ihrem Holzschemel und kämmte ihr Haar. Jede Nacht, im Sommer wie im Winter. Und immer wieder. Es glitt durch ihre Hände und jede einzelne Strähne wurde begrüßt. Nach einiger Zeit legte sie den Kamm zur Seite, stand auf, öffnete ihre Kleider und trat in das einfallende Licht der Nacht. ‚Sieh, wie schön ich bin’, flüsterte sie, und ich hörte aufgeregt immer wieder: ‚Sieh, wie schön ich bin.’ Oft atmete es dann heftig, dann wurde es wieder still. Das also war ihr Geheimnis: Sie füllte sich ganz bewusst mit Musik, mit Zärtlichkeit und mit Licht. Immer wieder. Es waren die wenigen Augenblicke des bewussten Genießens, die ihr eine kleine Überlebensfreude schenkten. Und so wurde sie für andere zur sprudelnden Lebensquelle.“
Es war still im Raum.
„Ja, alte Geschichten sind das“, begann die Truhe versöhnlich das Gespräch. „Vielleicht taugt sie nicht für diese Zeit. Doch in diesen alten Geschichten liegen unsere Erfahrungen. In ihnen sehen wir, was passieren wird.“
Das Herrenzimmer drehte an seinen Säulen und ließ sie gegeneinander laufen. Etwas gelangweilt fragte es: „Wollen Sie uns damit etwa andeuten, dass Sie deshalb für sich in Anspruch nehmen, in die Zukunft blicken zu können, nur weil Sie älter sind als wir? Ich werte das als eine Art Überheblichkeit uns gegenüber. Was können der schwedische Schwingsessel und ich schließlich dafür, dass Ihr zugegebenermaßen gesegnetes Alter von uns noch nicht erreicht wurde?
„Aber, aber!“ Aufgeregt wippte der Schwingsessel hin und her. „Warum suchen Sie denn immerzu Streit. Mir gefallen die alten Geschichten. Wie sonst würden wir etwas aus dieser Zeit erfahren. Und manches Mal wünschte ich einige Kollegen aus dieser Zeit zu treffen. Gab es denn damals Schwingsessel wie mich überhaupt?“
Die alte Truhe räusperte sich. „Um zu überleben, mussten die Menschen damals hart arbeiten. Die einfachen Leute wählten ihre Möbel nach der Zweckmäßigkeit aus. Auch im Kloster ging es einfach zu. Bequemlichkeit, so wie wir es heute kennen, gab es nur für die Reichen. Aber schwedische Schwingsessel? Ich kann mich nicht erinnern…“
Erste Sonnenstrahlen ahnte der Himmel und füllte sich mit silbriggoldenem Licht. Die Herrenzimmerkommode gähnte: „Und morgen Nacht erzählen Sie uns endlich mal eine Männergeschichte! Von mir aus auch über diesen bekennenden Ernst, oder wie hieß er noch?“. Die alte Truhe seufzte, dann wurde es still.
Der Nachtwind jedoch schob, bevor er sich legte, eilig ein paar dicke Wolken zusammen und entließ sie ins aufkommende Morgenrot.
„Sie wollen uns doch nicht schon wieder eines Ihrer Märchen erzählen! Jede Nacht die gleiche Leier. Ich frage Sie, wen interessiert denn noch die Geschichte von Ihrem alten Kloster? Vielleicht haben Sie es ja noch nicht gemerkt, verehrte Dame, aber wir leben im Zeitalter der ungebremsten Geschwindigkeit! Meinen Sie im Ernst, dass Ihnen da noch einer zuhört? Außerdem kann ich sie inzwischen auswendig daher beten. Gleich zieht dieser Protestant in die Lüneburger Heide, singt der Äbtissin seine Liebeslieder, und nur weil diese nicht erhört wurden, beraubte er in Wienhausen mit seiner Bande im Namen der Reformation gleich das ganze Kloster.“
„Ja, ja, natürlich. Nur weil Sie als Herrenzimmermöbel auf die Welt gekommen sind und sich nicht vorstellen können, wie es in einem Frauenkloster des Zisterzienserordens zuging, halten sie meine Geschichten für altmodisch. Dieser Protestant war niemand anderes als Ernst der Bekenner, ein Studienfreund von Martin Luther immerhin. Außerdem gab es da noch diese Dirne, die sich vor den heranrückenden Unholden in das Kloster flüchtete. Ein reizendes Mädchen. Freilich, das Lotterleben war nun vorbei. Früh um 4:00 Uhr musste sie nun jeden Morgen aufstehen. Ihre Sachen legte sie in meinen Bauch. Nun ja, viel hatte sie ja nicht. Doch glauben sie mir, dieses Mädchen hatte eine feine Art, die man nicht oft trifft. Manchmal strich sie mit ihrer Hand über mein Holz und erzählte wilde Geschichten von ihrer Flucht in das Kloster und von ihrem Leben davor. Aber solche Geschichten kennen Sie ja nur vom Hörensagen. Damals in Wienhausen haben Dutzende meinesgleichen nebeneinander gestanden und waren geachtete Möbelstücke der Nonnen. Ach, wäre ich doch nur da geblieben und nicht vor kurzem für ein paar Brote eingetauscht worden.“
„Dass ich nicht lache! So eine ungehobelte Truhe und möchte ein geachtetes Möbelstück sein. Und außerdem, das mit dem Brottausch ist nun auch schon bald sechzig Jahre her. Ein halbes Leben!“
„Das wiederum glaube ich gern. Ihr Leben als Kommode wird bestimmt keine sechshundert Jahre dauern. Solange hat Ihr Holzwurm nicht an Ihnen zu nagen. Wie nennen Sie sich gleich? Herrenzimmer? Das ich nicht lache!“
„Unverschämtheit, das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen.“
„So hören Sie doch auf zu streiten“, rief da ein junger schwedischer Schwingsessel aus der Raummitte dazwischen. „Erzählen Sie uns doch lieber von diesem Mädchen! Ach bitte, seien Sie so gut.“
„Von Brunhilde?“ Die alte Holztruhe holte tief Luft, nach einer Weile begann sie leise zu erzählen:
„Aufgereiht standen wir, ich und die anderen Truhen, vor den Verschlägen der winzigen Dachkammern. In diese lausigen Verschläge zogen sich die Nonnen nach der Complet zurück. Keine Heizung wärmte im Winter, nichts vertrieb die Hitze eines Sommertages. Viele Frauen hatte ich inzwischen kommen sehen. Manche blieben nur für kurze Zeit, starben früh, zogen mit neuen Aufgaben in andere Klöster oder flohen, wenn sie die harten Ordensregeln nicht ertrugen. Manche waren länger da. Alt wurde selten jemand.
An dieses Mädchen erinnere ich mich gern. In einer kleinen zugigen Kammer am Ende des Flurs wohnte sie. Und was war Brunhilde für eine Frohnatur, trotz allem! Den ganzen Tag freute sie sich an den kleinsten Dingen. Oft sang sie bei der Arbeit und ihre Stimme war so klar und rein, dass man einfach lächeln musste, wenn man sie hörte. Doch es gab auch Neid. Manche konnten es einfach nicht ertragen, dass die Schwere des Klosterlebens scheinbar an dieser jungen Frau vorüberging. Zum Neid mischte sich Gift. Brunhilde erhielt die unangenehmsten und schwersten Aufgaben – doch scheinbar nichts konnte ihre Fröhlichkeit zerstören. Man durchsuchte arglistig mich und ihre Kammer, stöberte in den Sachen nach ihrem Geheimnis. Doch sie fanden nichts und zogen ratlos wieder ab.
Wenn das Nachtgebet beendet war und das Schnarchen durch die dünnen Bretterwände den Schlaf der anderen Nonnen anzeigte, kam lautlose Bewegung in die Kammer von Schwester Brunhilde. In einer Ritze der dünnen Holzwand verbarg sie einen schönen Kamm und begann ein immer wiederkehrendes Ritual. Schwester Brunhilde saß auf ihrem Holzschemel und kämmte ihr Haar. Jede Nacht, im Sommer wie im Winter. Und immer wieder. Es glitt durch ihre Hände und jede einzelne Strähne wurde begrüßt. Nach einiger Zeit legte sie den Kamm zur Seite, stand auf, öffnete ihre Kleider und trat in das einfallende Licht der Nacht. ‚Sieh, wie schön ich bin’, flüsterte sie, und ich hörte aufgeregt immer wieder: ‚Sieh, wie schön ich bin.’ Oft atmete es dann heftig, dann wurde es wieder still. Das also war ihr Geheimnis: Sie füllte sich ganz bewusst mit Musik, mit Zärtlichkeit und mit Licht. Immer wieder. Es waren die wenigen Augenblicke des bewussten Genießens, die ihr eine kleine Überlebensfreude schenkten. Und so wurde sie für andere zur sprudelnden Lebensquelle.“
Es war still im Raum.
„Ja, alte Geschichten sind das“, begann die Truhe versöhnlich das Gespräch. „Vielleicht taugt sie nicht für diese Zeit. Doch in diesen alten Geschichten liegen unsere Erfahrungen. In ihnen sehen wir, was passieren wird.“
Das Herrenzimmer drehte an seinen Säulen und ließ sie gegeneinander laufen. Etwas gelangweilt fragte es: „Wollen Sie uns damit etwa andeuten, dass Sie deshalb für sich in Anspruch nehmen, in die Zukunft blicken zu können, nur weil Sie älter sind als wir? Ich werte das als eine Art Überheblichkeit uns gegenüber. Was können der schwedische Schwingsessel und ich schließlich dafür, dass Ihr zugegebenermaßen gesegnetes Alter von uns noch nicht erreicht wurde?
„Aber, aber!“ Aufgeregt wippte der Schwingsessel hin und her. „Warum suchen Sie denn immerzu Streit. Mir gefallen die alten Geschichten. Wie sonst würden wir etwas aus dieser Zeit erfahren. Und manches Mal wünschte ich einige Kollegen aus dieser Zeit zu treffen. Gab es denn damals Schwingsessel wie mich überhaupt?“
Die alte Truhe räusperte sich. „Um zu überleben, mussten die Menschen damals hart arbeiten. Die einfachen Leute wählten ihre Möbel nach der Zweckmäßigkeit aus. Auch im Kloster ging es einfach zu. Bequemlichkeit, so wie wir es heute kennen, gab es nur für die Reichen. Aber schwedische Schwingsessel? Ich kann mich nicht erinnern…“
Erste Sonnenstrahlen ahnte der Himmel und füllte sich mit silbriggoldenem Licht. Die Herrenzimmerkommode gähnte: „Und morgen Nacht erzählen Sie uns endlich mal eine Männergeschichte! Von mir aus auch über diesen bekennenden Ernst, oder wie hieß er noch?“. Die alte Truhe seufzte, dann wurde es still.
Der Nachtwind jedoch schob, bevor er sich legte, eilig ein paar dicke Wolken zusammen und entließ sie ins aufkommende Morgenrot.