Naturgedichte

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mara

Mitglied
In jedem Herbst gilt wieder die Marotte,
dass jedermann ein Herbstgedicht sich bau.
Der Zuckmayer erwähnte schon im Spotte
"der reinen Wolken unverhofftes Blau"*.

Auch dass die Blätter, die vom Baume fallen,
die Farben wechseln, gilt es zu erwähnen,
dass Sturm und Regen auf uns niederprallen
und sich die Menschen nach dem Frühling sehnen.

Naturgedichte sind so alte Hüte
und dennoch - jedes Jahr zur selben Zeit -
erleben sie in Reimform ihre Blüte.

Ich bin dieses Naturgesülzes müde
und werd in dieser Angelegenheit
nun - ebenfalls in Reimform - einmal rüde!


*Zitat aus Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick. III. Akt, 16. Szene
 
G

gitano

Gast
Hallo mara!
Speziell für diesen Herbstexkurs: *Daumen hoch*,
hat mich amüsiert!
...vielleicht mehr Dein Mut, Deinen Unmut gekonnt in einen Text zu setzen.
Schön, die wiederholte Nennung/Aufzählung der "Langweilerbilder" - unter anderem Vorzeichen ;) schöne Idee!
und auch den "Einbau" des Zitates finde ich sehr gelungen!
...ja , ja die blauen Wolken *lach*...

subtil bemerke ich noch die etwas konstruiert wirkenden Reime auf "üde" im Schlußteil - die ich aber als Teil der Ironie verstehe....nebst dem sprachlichen Einschub (Figur)...

Formalia fügen sich (ganz Sonett) der inhaltlichen Gedankenaufbereitung und der Argumentation. Mehr möchte ich dazu eigentlich nicht sagen. Im Einzelnen habe ich jetzt aber nicht nach der Metrik geschaut. Beim Lesen scheint es stimmig. Der einfache, schlichte "Bau" wo Sprech- /Sinnsentenzen identisch sind mit dem Zeilenende - keine akrobatischen Sprechkonstruktionen / Enjambements etc. - hier kommt es dem Gegenstand des Textes zugute.

Ich bemerke noch etwas Zurückhaltung des LI im Text. Aus meiner Sicht dürfte es noch etwas mehr Pepperoni sein ;)...schafft vielleicht auch noch mehr den Eindruck von "Identifikation" und Zustimmung....weniger relativ und lieb sein ;)
"ich werde nun mal rüde"...hat eher wenig pepp und klingt für mich eher wie das "Du,Du Du!" zu kleinen Kindern.

natürlich bräuchten wir ähnliche Statements für den kommenden Winter: Advent, Weihnachten, dann wieder für die Säfte des Frühlings...
Das LI kann ich nur allzu gut verstehen.

Ein Freund wies mich nach meinem Fluchen über die alljährlichen Blätterfallgedichte auf mathematisches Phänomen dazu hin:

Zitat:
"Die "Normalverteilung" des Autorengeschickes besagt anscheinend, daß wir zu jeder Jahreszeit mit ca. 95 % von Wiederholungstexten zu rechnen haben. ...und: sie werden auch von den allermeisten der 90 bzw. 95% Glocke bejubelt.
was letztlich nur etwas über ihre Zustimmung bei den lesern aussagt - nicht aber ihre innere Qualität!

danach war ich "etwas beruhigt".
und nun bin ich sogar amüsiert,einen Text der anderen 5% hier zu finden ;)

Da mich vor einiger Zeit der gleiche Aspekt zwackte (gereimte, *schlichte* Frühlingstexte)beschäftigte hier nochmal ein grüßender Rückgriff zum Frühling
(nur S1 und 2):

einsicht

vielleicht
sind sie ein wunder
oder längst verblüht
vielleicht
gibt es sie ja nicht
geziemt in reimen
vielleicht
sind blümchenwiesen
im frühling
wirklich schön
vielleicht
bleiben sie
wo sie sind
unbetreten

vielleicht
werden dort schenkel benetzt
und der Atem gehetzt
vielleicht
taumelte man im schlupf
vom lippenmond
vielleicht
hat man ja
ungeahnte höhen erklommen
in worten
fortgenommen

gern habe ich Deinen Text gefunden und kommentiert!
gitano
 

mara

Mitglied
Herzlichen Dank, gitano! Ich muss jetzt leider weg, darum ausführliche Antwort heute im Verlauf des Abends. Bis dann!
 

mara

Mitglied
Hallo gitano,

herzlichen Dank für eine ausführliche und sehr durchdachte Auseinandersetzung mit meinem kleinen Gedicht. :)

Formalia fügen sich (ganz Sonett) der inhaltlichen Gedankenaufbereitung und der Argumentation. Mehr möchte ich dazu eigentlich nicht sagen. Im Einzelnen habe ich jetzt aber nicht nach der Metrik geschaut. Beim Lesen scheint es stimmig. Der einfache, schlichte "Bau" wo Sprech- /Sinnsentenzen identisch sind mit dem Zeilenende - keine akrobatischen Sprechkonstruktionen / Enjambements etc. - hier kommt es dem Gegenstand des Textes zugute.
Das war erst mein zweiter Sonett-Versuch – so sehr vertraut, dass ich virtuell damit jongliere, bin ich mir der Form also noch nicht. Deshalb ehrt mich dein Lob sehr. Dankeschön. Mein erstes Sonett habe ich erst vor wenigen Tagen geschrieben und es ist – genau wie dieses hier – Metadichtung. (Es heißt „Klagelied des Kritikus“)

subtil bemerke ich noch die etwas konstruiert wirkenden Reime auf "üde" im Schlußteil - die ich aber als Teil der Ironie verstehe....nebst dem sprachlichen Einschub (Figur)...
Hm… Ich mag das „müde/rüde“ recht gern. Den ersten Vers dieses Terzetts hat eine Freundin heute sogar schon als ihre Lieblingsstelle im Gedicht deklariert.

...vielleicht mehr Dein Mut, Deinen Unmut gekonnt in einen Text zu setzen.
Ich bemerke noch etwas Zurückhaltung des LI im Text. Aus meiner Sicht dürfte es noch etwas mehr Pepperoni sein ...schafft vielleicht auch noch mehr den Eindruck von "Identifikation" und Zustimmung....weniger relativ und lieb sein
"ich werde nun mal rüde"...hat eher wenig pepp und klingt für mich eher wie das "Du,Du Du!" zu kleinen Kindern.
Ich denke, dass hast du ganz gut erfasst. Es ist eher mit einem Augenzwinkern als in wirklicher Rage geschrieben. Denn die Autorin gibt freimütig zu, selbst hin und wieder solche „Naturgedichte“ geschrieben zu haben. Eines davon – der "Spinnenfädenabend" – ist das am meisten kommentierte und favorisierte auf meiner deviantart-Seite. Passt also perfekt in die von dir erwähnte Statistik. :D

Die Natur zu beobachten und aus dem Verlauf der Jahreszeiten Rückschlüsse auf die eigene Vergänglichkeit zu ziehen, scheint den Menschen ein wichtiges Bedürfnis zu sein. Und es gibt ja auch sehr schön formulierte, kluge Gedanken solcher Art – heute genauso wie vor vierhundert Jahren. Aber anhand der Inflation dieser Naturbetrachtungen in den Lyrikforen im Herbst (und ja, natürlich auch im Frühling), stellte sich bei mir doch irgendwann eine gewisse Übersättigung ein.

Obwohl sicherlich an deinen „zu brav“ Argumenten etwas dran ist. Ähnliches hörte ich nämlich vor einiger Zeit, als ich (ebenfalls selbstironisch gestimmt) das „Klagelied des mäßigen Poeten“ verfasste. Der wäre mir viel zu anständig geraten, hieß es da und so schrieb ich die letzten Strophen noch einmal neu.

Das Problem hängt vielleicht damit zusammen, dass die Autorin im Grunde ihres Wesens gar nicht „böse“, sondern eher zurückhaltend und freundlich ist. Dem LI hier und da etwas mehr Pepp zu geben, fällt mir daher zuweilen noch etwas schwer. Aber ich arbeite dran. ;)

natürlich bräuchten wir ähnliche Statements für den kommenden Winter: Advent, Weihnachten, dann wieder für die Säfte des Frühlings...
Winkt da gar ein ganzer Sonettenkranz? Von mir höchstwahrscheinlich nicht, ich brauche immer einen „Pieks“, um so etwas zu schreiben. Und diesmal kam dieser Stich tatsächlich durch den „Hauptmann von Köpenick“ zustanden, den ich zum Zweck der Unterrichtsvorbereitung gerade noch einmal las. Als ich zu der Szene im Park von Sanssouci kam, in der die jungen Leute verzückt über den roten Ahorn und das Blau der Wolken deklamierten, musste ich sofort an die Gedichte in den Foren denken und die Idee zu diesem Sonett war geboren. :D


Vielen Dank auch für den Auszug aus dem Gedicht, das sich mit Frühlingsversen beschäftigt. Das hat mir gefallen und macht Lust auf mehr.

Herzliche Grüße!

mara
 
G

gitano

Gast
Lieben Dank für Deine offenen Worte!
Ich bin erfreut, daß es Dir gelungen ist eher intuitiv den richtigen Sonettton getroffen zu haben...vielen gelingt dies nicht - auch nach jahrelanger Bemühung.
Typisch ist auch die "zündende Idee".
Erstaunlich wie sich manchmal die Autorenpersönlichkeit in Texten widerspiegelt ;)...geht mir auch so - ich kann meine "Äderchen" kaum verstecken.
Es freut mich, dass Du an dieser Form Gefallen findest.
Die Art und Weise der Inhaltsaufbereitung bestimmt vielmehr darüber ob ein Text ein Sonett ist - als denn die Formalia ;)
...die sind eher easy...und man vergesse nicht dass es mehr als 16 (italienisch stämmige)Sonett-Typen gibt...und viele weitere Variationen.
Einen Sonettkranz für -oder besser wider- der stetigen Wiederholungen von Jahreszeitbildern in Lyriktexten...nein,...ich glaube dies ist kein angemessenes Thema für einen Sonettkranz. ich habe nicht vor einen solchen zu verfassen. Mein Augenmerk liegt eher auf den alten (autentischen) italienischen Formen...manchmal auch auf den frühen deutschen Formen (mit Alexandrinern).
Wenn man sich damit befaßt, lernt man eine Menge...
Viel Spaß und weiterhin schöne Ideen!
 
D

Dominik Klama

Gast
Mir war unbekannt, dass sich in Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" ein Spott aufs "unverhoffte Blau" finden sollte. Dagegen dachte ich gleich, dies sei doch von George. Wusste aber nicht mehr, was bei ihm blau gewesen war, dachte eigentlich, irgendwelche Blumen... Also habe ich versucht, die Zuckmayer-Stelle zu ergooglen. Ist mir aber nicht gelungen.

Dagegen existiert offenbar bei Hugo von Hofmannsthal eine Stelle, wo er Georges blaue Wolken gut findet für ein Herbstgedicht.
CLEMENS. Es ist schön. Es atmet den Herbst. Obwohl es kühn ist, zu sagen, »der reinen Wolken unverhofftes Blau«, da diese Buchten von sehnsuchterregendem sommerhaften Blau ja zwischen den Wolken sind. Aber freilich nur an den Rändern reiner Wolken. Nirgends sonst auf dem ganzen verschlissenen rauhen Gefilde des herbstlichen Himmels. Goethe hätte dies »reiner Wolken« geliebt. Und »unverhofftes Blau« ist tadellos. Es ist schön. Ja, es ist der Herbst.
http://www.zeno.org/Literatur/M/Hof...s,+Reden,+Vorträge/Das+Gespräch+über+Gedichte
 

mara

Mitglied
Ist mir bekannt, Dominik. Also sowohl, dass das Zitat ursprünglich auf ein Gedicht von Stefan George zurück geht (Komm in den totgesagten Park...), als auch, dass selbiges von dessen jugendlichem Verehrer Hofmannsthal gelobt worden ist.

Die Stelle, in der Zuckmayer sich über das George-Gedicht lustig macht, findet sich im Hauptmann von Köpenick, 3. Akt, 16. Szene mit dem bezeichnenden Titel "Allee im Park von Sanssouci". Ich fand die Anspielung so herrlich, dass sie zur Inspiration für mein Gedicht wurde (nebst der üblichen "fallende Blätter"-Inflation, die sich in jedem Oktober über sämtliche Lyrikforen ergießt ;)). :D

Danke dir fürs Finden und Kommentieren meines Gedichts. :)
 



 
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