nicht mehr still

Stolz präsentierten Piit und Luter Lal, Klôd und Án ihren eigenen kleinen Taucher, eine metallene Kugel mit zwei sich kreuzenden Wülsten. Piit würde mit Lal und seinen Freunden in Kirschkern eintauchen, der Musik und einem neuen Leben entgegen. »Es wird alles gut.« Luter küsste Án auf die Stirn und gab ihr einen Klaps auf den Po. Sie verzog das Gesicht und nun klatschte seine Hand laut auf ihren Arsch. Entschlossen packte sie das Geländer der Gangway und stieg in den Taucher. Vor der Öffnung hielt sie inne und drehte sich zögernd um. Luter lächelte sie aufmunternd an. Abrupt wandte sie sich ab, bückte sich und zwängte sich durch die enge runde Öffnung. Lal und Klôd folgten ihr, zuletzt kam Piit. Ein Gedanke ließ das Schott sich schließen und mit einem lauten Schmatzen die Öffnung versiegeln. Ehe sie in Fleisch und Blut nach Kirschkern gingen, öffnete Piit seinen Geist und flog mit seinen Schützlingen durch das Abbild des Planeten im Datenraum. Ständig waren Datenreisende im Kont über die rätselhafte Musik im Inneren von Kirschkern, von der es nur Berichte und Erlebnisse von Tauchern aber keine Aufnahmen gab. Kaum waren Lal, Án und Klôd zwischen ihnen, evozierten die anderen: Alles Gute.
Ihr werdet es schaffen!
Kommt ganz zurück.
Ich werde für euch beten.
Der Theologiestudent, der das evozierte, würde selbst gern nach Kirschkern gehen, um die Nähe Gottes zu erfahren. Doch es gab etwas, was ihn zurück hielt.
Aber sie sollten es tun.
Ich seh dich im Dunklen, Klôd.
Jemand lachte lautlos und entnervt ging Piit mit ihnen aus dem Datenraum. An so was werdet ihr euch gewöhnen müssen. An Spinner, die den Datenraum mit ihren Machtfantasien fluteten.
Ich war dort gewesen!
Klôd schauderte. Der Typ dachte ihn an, obwohl sie nicht mehr im Datenraum waren.
Ohne Implantat.
Du bist durch eine harte Schule gegangen, Respekt.
Hoffnung wurde für Klôd zur Gewissheit.
Eng an eng waren sie in den Liegen festgeschnallt, ohne Überlebensanzüge, dafür mit einem auf Bereitschaft gestellten Notavenzer in der fensterlosen Kabine. Ein Monitor über dem Steuerpult zeigte Lal, Án und Klôd, wie sie von Kirschblüte abhoben und nach Kirschkern flogen. Piit würdigte ihn keines Blickes, er war im Interface mit dem Taucher. Bald werdet ihr das auch können! Das galt Klôd, dessen sehnlichster Wunsch das Interface mit Maschinen und Computern war.
Der Monitor über dem Steuerpult erlosch und wurde zu einem Teil der gekrümmten gelbgrauen Wand. Sie brauchten ihn nicht mehr. Die Wand erlosch, denn sie brauchten im Taucher kein Licht. Sie sahen nicht mehr mit ihren Augen.
Das Schwerefeld von Kirschkern erfasste den Taucher und zog ihn zum Planeten. Sie erreichten die obersten Ausläufer der Atmosphäre und zogen, von Hüllen aus virtueller Materie geschützt, eine feurige Spur über den endlosen Himmel, zogen eine feurige Furche in das Antlitz der gewaltigen Welt. Sie waren selbst loderndes Plasma. Ionisierte Luft donnerte und jaulte um den Taucher. Er wurde langsamer, von der dichter werdenden Atmosphäre abgebremst.
Um Lal und seine Freunde glomm ein rötlicher Himmel, über den schwarze Schlieren zogen. Ein Pulsieren wie der Schlag eines riesigen Herzens füllte Lal aus. Es legte seine Arme auf die Schultern seiner Freunde und sie taten es ihm gleich. Die Wand um sie löste sich auf, Metall und Kunststoff des Tauchers und Fleisch und Geist der Freunde lösten sich auf. Sie waren drei, die eins waren und eins wurden mit Wolkenwirbeln so groß wie die Erde. Musik erklang, aber sie war nicht wie die aus dem Computer. Es war das Universum selbst. Jeder Raumzeitpunkt schwang hin und her und die Kausalbeziehungen zwischen ihnen bogen und streckten sich, überlappten sich und rissen. All die zehn hoch 240 Atome der Raumzeit lösten sich auf und wurden, was sie schon immer gewesen waren: pure Abstraktion. Der Pfeilraum! Was immer in Kirschkern war, nutzte nicht den Mehrdim-Raum mit n Dimensionen, sondern den abstrakten und den Menschen auch im Zeitalter des Avenzens unzugänglichen Pfeilraum. Klôd hatte alles über dieses Gebiet von Mathematik und Physik gelernt, was es zu wissen gab, auch weil selbst nicht stille Wissenschaftler da schnell an Grenzen stießen und sich Techniker damit trösteten, dass sie n Dimensionen zur Verfügung hatten und sich nicht mit Trennungsaxiomen herumärgern mussten. Keiner von den »harten« Wissenschaftlern und Technikern war nach Kirschkern gegangen, um eine Musik zu ergründen, die Sensoren und Computer nicht nachweisen konnten. Hier wirbelten Raumzeitpunkte und Kausalbeziehungen, Dimensionen und Orthogonalität wild durcheinander. Weshalb sie nicht mehr still waren! Das holografische Ganze dehnte und stauchte sich und verlor Raum und Zeit, Dimension und Kausalität und blieb dennoch ein geordnetes Ganzes. Kein Matsch wie bei den Experimenten menschlicher Wissenschaftler, sondern ganz und heil und sie waren nicht mehr still! Klôd war so überglücklich, dass er selbst das rührte, was sich in dem Planeten befand und der Planet war. Ein Bild zuckte durch Lal: Klôd stand in einer Aula in einer Stadt auf der Erde und machte selbst Musik mit einer Blockflöte. Lal holte ein Bild aus jener Zeit hervor, als es noch einen Schwanz gehabt hatte. Án keuchte geil und ein bisschen neidisch bei dem Bild der Hure, die den jungen Lal so lange zugesetzt hatte, bis er sie fickte. Lal und Klôd wiederum flogen mit Án von der Rotationsachse des Lünett Asimov bis zum Boden. Nur wussten sie, dass sie dieses waghalsige Unternehmen in der Hoffnung gemacht hatte, dabei umzukommen. Weil sie kein Implantat vertrug.
Das ist vorbei!
Der Taucher erreichte den tiefsten Punkt seiner Bahn durch Kirschkern und stieg langsam nach oben. Piit genoss die überirdische Musik und den weihevollen Himmel über den Wolken, doch Lal, Án und Klôd waren so hibbelig, dass der Taucher zu klein für sie wurde. Immerzu dachten sie sich an und als Án auch Piit öffnen wollte, hätte er ihr fast eine gelangt. Diesmal ließ er es beim Gedanken. Diesmal? Was trieb er?
»Du verrätst nichts!« Piit sprach laut.
»Ja, Piit.«
»Klôd, wehe du lässt dich von diesem Idioten ins Dunkle locken.«
Klôd verzog das Gesicht. Der Datenraum hatte ihn darüber informiert, was es mit dem Dunklen auf sich hatte. Und zwar durch einen Kont der Datenraumstation.
»Natürlich gibt es im Datenraum Ordner!«, blaffte Piit. »Das fing schon im Dampfzeitalter an.«
Der Taucher löste sich aus der Hochatmosphäre von Kirschkern und den Rest des Weges avenzte Piit. »Raus jetzt!« Sie waren wieder auf Luters Werkhof. Nichts war wichtig und alles war so schön bunt! Auf dem Weg zum Haus grinste Klôd so bescheuert, dass Lal nicht anders konnte, als zu lachen. Wie besoffen torkelten sie durch den Matsch. Blöde grinsend bekam Klôd Lust, Lal zu ficken und das hielt ihm sein enges Arschloch hin. Ja, sie waren im Gästeraum und die Tür war zu. Es war geil, den harten Stab in sich zu haben und Klôd konnte es ruhig ein bisschen überdehnen. Klôd genoss den Schmerz seiner Stöße ebenso sehr wie Lal und fickte es nun von hinten in den Spalt.
Mehr Schmerz!
Mehr Lust!
Lal war nicht das, der oder die erste, bei dem oder der er das gemacht hatte. Ach, diese perversen Freier, denen machte so etwas auch noch Spaß und sie zahlten dafür!
Kein Spaß mehr.
Nur Schmerz.
Lal schrie.
Klôd kam.
Vorbei.
Erleichterung.
Leere.
Vorbei.
Klôd sah aus dem Fenster, zum blassen Kirsche, der weder richtig rot noch anständig weiß oder richtig hell vor sich hin glomm, und über das öde, flache und grünbraune Land. Die dunkelgrauen Wolken mit ihren rosa Rändern machten das Terrain noch düsterer. Wie der Set für einen Film, der im Dampfzeitalter spielte. Die Leute hier wollten es so. Luft zum Atmen und eine funktionierende Biosphäre, aber nichts, was zu viele Menschen anlockte. Klôd zuckte mit den Schultern. Sein Blick wurde glasig. Klôd! Klôd! Der Datenraum informierte Lal in Gedankenschnelle über Datenraum-Sucht und was es dagegen tun konnte. Es haute Klôd links und rechts eine runter und packte ihn. Schon gut. Nix war gut!
»Sprich mit mir!«, schimpfte Lal. »Laut!« Klôd hatte kein Implantat, das es ausschalten konnte. Lal hob wieder die Hand.
»Schon gut.«
»Besser.« Lal keuchte.
»Wusste nicht, dass du so resolut bist.« Piit stand in der Tür, Án neben sich. »Kommt, Luter wartet mit dem Dritten Mahl. Es wird nur laut gesprochen, nicht angedacht.«
»Ja.«
»Ja, Piit.«
Án sah zu Boden. »Sie hatten mich beide. Als Liebeskissen.«
Luters Abendraum war rechteckig und rustikal eingerichtet, mit hellen Wänden, Fenster- und Türrahmen, Schränken, Tischen und Stühlen aus dunklem Holz in aufeinander abgestimmten Farbtönen. Einmal mehr fiel Lal auf, wie groß und weitläufig hier alles war. Prompt fragte Luter: »Alles in Ordnung mit euch in dem Gästezimmer? Ihr könnt auch einzelne Zimmer haben, wenn ihr wollt.«
»Nein, es geht schon.«
»Sie sind es gewohnt, zusammen zu hocken, Luter. Daran hat sich nichts geändert.«
»Gut.«
Einer der vielen Servos, die Luters großes Haus sauber und instand hielten, servierte ein Mahl aus Bohnen und dunklem Brot. Wenig angetan löffelte Lal und!
»Das macht er mit jedem.« Piit lachte. »Zerdrück die Bohnen auf dem Brot, aber nicht zu viele.«
»Ich werde daran denken«, keuchte Lal. Sein Mund brannte noch immer und es nahm einen großen Schluck Wasser, ehe es Piits Rat befolgte. Nach dem gewöhnungsbedürftigen Mahl lehnte sich Piit zurück. »Jetzt werdet ihr den Rest der Geschichte erfahren.« Andenken war wieder erlaubt und Lal, Án und Klôd öffneten ihren Geist.

Piit schwebte hoch in der Atmosphäre von Kirschkern, über den Wolken und nahe der Grenze zum Weltraum. Die Musik in ihm hatte ihren Klang verändert und er wusste, dass sich zwischen Kirschkern und Kirsche Magnetfeldlinien aufbauten. Durch den Magnetschlauch gelangte Plasma vom Zentralstern zum Gasriesen und das war nur eines von vielen Phänomenen, die das Tauchen gefährlich machten. Die Wechselwirkungen zwischen den Magnetfeldern von Kirschkern und Kirsche induzierten auch heftige Strahlungsausbrüche auf Kirsche.
Es wurde Zeit, zu avenzen, ehe Notretter kamen und der Ärger wegen des Ausstiegs aus dem Taucher noch größer wurde. Piit schlug die behandschuhte Hand auf den roten Knopf des Notavenzers: »!« Schon war er in der Notaufnahme des Hangars in Havas, von wo der Taucher gestartet war.
Piit sah die unbeteiligten oder doch vorwurfsvollen Gesichter der Notretter, Fragen und Überlegungen strömten in ihn: aaaaggggghhhhjjjjj! Jenseits der Wände der Notaufnahme tosten die Gedanken und Gefühle all der Menschen, die in Havas lebten. Kirsche brach aus! Hell loderte der sonst so unscheinbare Zentralstern, blendend hell sahen ihn alle und Piit sah ihn


H
E
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durch ihre Augen!
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loderte Kirsche in seinem Geist.​
Ein Schirm aus virtueller Materie wölbte sich über der Stadt und schützte Menschen, Tiere und Pflanzen vor der Röntgenstrahlung.
Du brauchst keine Angst haben.
Wo ist meine Videobrille?
Nicht hineinsehen.
Ich .. ch .. du ersiees.
Lass uns.
nein!
Eine Katze kreischte, ein Tourist fluchte. HELL! NEIN! Irgendwo fickte immer jemand. Er lag in einem Bett, der Kopf wie Watte. War er doch tot? Früher hatten die Menschen geglaubt, so etwas wie die Stille hätte nur der liebe Gott heilen können und vielleicht hatten sie Recht gehabt. Jemand stand neben seinem Bett, schlank und mit blassen, bartlosem und ebenmäßigem Gesicht. Lange Haare flossen wie geschmolzenes Silber um die Gestalt. Ein Engel?
Das Weder-noch-doch-Alles lachte. »Sie sind im Hier und Jetzt im Insan, wo sich die Menschen manchmal für Götter halten, aber doch nicht alles können.«
Andere schon.
»Herr Jansson, machen Sie sich keine Gedanken wegen der Ordner. Sie haben versucht, Selbstmord zu begehen und das ist nicht strafbar. Ihr unautorisierter Ausstieg aus dem Taucher, nun ja, die betroffene Gesellschaft hat Ihnen Zugangsverbot für all ihre Fahrzeuge und Einrichtungen erteilt.«
Da war noch mehr.
»Sie hatten einen Schock, wie er bei Interface-Überlastung entsteht. Obwohl Sie kein Implantat tragen.«
»Ich war still.«
Piit öffnete seinen Geist und das Arzt ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett plumpsen, als ob nun es einen Interface-Schock hätte. »Entschuldigen Sie.« Piits Zunge fühlte sich noch immer an, als ob sie aus Blei wäre.
»Erstaunlich.« Das Arzt hatte sich schnell gefasst und rasend schnell dachte es einen Krankenbericht ein.
Die Benommenheit wich von Piit. Sein Geist klärte sich und all die Gedanken und Gefühle der Menschen brandeten über ihn zusammen. »Geht schon!« Er biss die Zähne zusammen. »Muss gehen.«
»Sie wissen, was Sie tun können«, sagte das Arzt.
»Ja.«
Das Beruhigungsmittel, das sie ihm im Krankenhaus mitgegeben hatten, warf er nicht sogleich in den Müllavenzer. Er tat es, nachdem er in einem glücklicherweise halb leeren Imbiss Feuerbohnen mit Fleisch in Tomatensoße gegessen hatte. Ein Blick in den Datenraum hatte ihm den Weg zu dem Lokal in einer schattigen Seitengasse gewiesen und Andenken hatte genügt, damit der Koch die Feuerbohnen frisch zubereitete und sie servierte, als Piit durch die Tür trat. Nicht mehr still! NICHT MEHR STILL! Piit lächelte selig.
»Hat es geschmeckt?«, fragte der Koch.
»Wunderbar.« Hastig stand Piit auf, zahlte und ging. In einem Betrieb in der Nähe war Schichtende und Angestellte und Arbeiter machten sich auf, um den Feierabend im Imbiss zu genießen. Sie plapperten wie eine Schar Enten, die durch Piits Kopf watschelten. Watschelten, nicht flogen. Enervierend! Aber er war nicht mehr still!
Piit war nicht mehr still, aber die Menschen um ihn herum waren auch laut, wenn sie es nicht merkten. Je mehr es waren, desto schlimmer wurde es. Die Leute in Havas schienen sich in seinem Kopf versammelt zu haben und mit Hundertfünfzigtausend Einwohnern war das im Vergleich zu den Metropolen im Insan ein Kaff. Am meisten nervte der Mechaniker, der in vier Kilometern Höhe am Mast der Sonnenlampe saß und die beschädigte Leuchtkammer reparierte. »Keinen Plan aber wir schaffen das!« Die andere Hälfte vom »wir« war sein Kollege Mates und der lag mit verdorbenem Magen im Bett und schlürfte Tee. »Schiete!« Mit der Stadt im Dunkeln unter ihm wähnte er sich allein und fluchte nach Herzenslust. Halts Maul! Der Mann zuckte zusammen. Er wäre fast vom Mast gefallen und fluchte um so schlimmer. Nur weg hier!
Luter stand am Portal auf dem Platz Kirschblatt. Weder Worte noch Erklärungen waren nötig. Luter war lange vor Piit in Kirschkern gewesen und wie Piit hatte er mehr bekommen als er erwartet hatte. Weshalb er in große Städte nur für Besuche avenzte und in einem Dorf am Rande der Welt lebte.
»Da lebe ich jetzt auch«, schloss Piit seine Geschichte. »Ich hätte euch vorher sagen können, was euch erwartet. Aber eure Verzweiflung war zu groß. Bei dir«, er machte eine Kopfbewegung zu Án, »war sie noch schlimmer und tiefer vergraben als bei Klôd. Ihr wart Geschöpfe der Stille.«
»Und Luter?«, fragte Lal.
»Luter war nicht still. Er wollte so tief tauchen wie kein Mensch vor ihm. Viele Terapascal tief. Das ist ihm auch gelungen.« Piit lachte. »Er wusste, wie verzweifelt ich war. Als ich auf dem Luftgenerator stand, war er im Interface mit mir. Ich war so durcheinander, dass ich nicht merkte, wie er mir den Entschluss eingab, mich in Kirschkern zu schmeißen. Viel Mühe gehörte auch nicht dazu.« Piit lächelte Luter dankbar an. »Seitdem teile ich seine Neigung zu abgelegenen Wohnorten.«
 



 
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