Nichtlineare Patchworkprosa

abstrakt

Mitglied
Ein potentieller Leser zum Autor:
"Du schreibst einen Roman!? Das ist ja interessant. Gib mir dich schonmal die ersten Kapitel, damit ich die lesen kann."

Nervig oder naiv?

Nichts wäre für mich abwegiger, als Prosa linear zu verfassen. Wer erzählt schon Geschichten von A bis Z? Meine "Technik": schreiben, was durch den Kopf rauscht, die derart verfaßten Text-Bausteine dann collagieren, beim Collagieren aber so einander angleichen, daß insgesamt trotzdem eine "einheitliche" Geschichte entsteht.

Oder schreibt doch jemand vom Anfang zum Ende ohne nachträglich großartige Korrekturen am "bereits" Geschehenen vorzunehmen? Das würde mich mal interessieren. Ist der Gedanke vielleicht doch nicht so naiv: Geschichten zu schreiben, wie man sie liest.
 
M

Monfou

Gast
Hi, abstrakt,

mir scheint das Thema interessant, es ist ja ein typisches Werkstattgesprächsthema. Ich habe – im Laufe der Zeit – die Schreibweise einiger von mir geschätzter Autoren verfolgt. Natürlich auch die anderer Autoren, wobei mich überwiegend die Erzählung und der Roman interessierten. Lyrik verfasst man sicherlich anders. Szenische Werke womöglich auch.

Fast alle Autoren schrieben zuerst die Geschichte „herunter“. Also mehr oder weniger chronologisch entwickelten sie den Faden. Ließen die Figuren, die Handlung laufen. So entsteht ein ziemlicher Wust. Der wird dann nach und nach - in mehreren Fassungen – geglättet. Es gibt sehr schöne Beispiele von Martin Walser, der seine erste handschriftliche Fassung der Endfassung gegenüberstellt. Auch er folgt in der ersten Fassung spontan (ja fast bewusstlos) der Eingebung. So kann die Geschichte sich ohne Zwänge und allzu rigide Vorgaben künstlerisch entwickeln. Diese Phase braucht meist weniger Zeit als die spätere Korrektur. Ich glaube Fontane sprach von 1 zu 4. Wolfgang Koeppen von 1 zu 6.

Dieses Verfahren ist mir ähnlich bekannt bei Böll, Henry Miller, E.T.A. Hoffmann, Kafka, Robert und Martin Walser, Thomas Mann… Thomas Mann schrieb eigentlich fast immer nur eine Fassung, zwar mehr oder weniger chronologisch, aber er schrieb so, dass er später nicht viel korrigierte. Eine halbe Seite pro Tag. Henry Miller schrieb manchmal 40 Seiten pro Tag. Korrigierte diesen Erguss dann später intensiv. Aber fast immer schrieben die Autoren chronologisch, entwickelten mithin die Geschichte so, wie der Leser sie später liest.

Von Camus weiß ich, dass er manchmal wichtige Kapitel, von denen er noch keine genauere Vorstellung hatte, ausließ, also andere Stellen schrieb und diese Kapitel später ergänzte. Ich denke, dass beim Schreiben eines Krimis, wo ja der Schluss und das Zusammenlaufen aller Fäden besonders wichtig ist, dass beim Krimi also oft der Schluss zuerst da ist. Mag sein, dass dann vom Schluss aus zurückgeschrieben wird. Von Dürrenmatt weiß ich das.

Bei E.T.A. Hoffmann war das chronologische Schreiben sogar zwingend Voraussetzung, weil manche Geschichten als „Serie“ in Zeitschriften publiziert wurde, und wenn zwei oder drei Teile einer längeren Erzählung bereits erschienen waren, schrieb er eben erst am vierten Teil. Es ist ja auch so, dass jeder nach und nach seinen Arbeitsstil entwickelt. Bei Gedichten läuft es natürlich seltener „chronologisch“. Manchmal hat man einen Vers, der in der Mitte oder am Ende steht und sucht das Davor oder Danach.

Ja, und was ist mit dem Leser, der den Anfang des Romans lesen will? Auch der chronologisch schreibende Autor muss hier also meist abwinken, weil seine erste Fassung nur Entwurf ist, selbst wenn der Entwurf quasi schon alles enthält.
Liebe Grüße
Monfou
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein potentieller Leser zum Autor:
"Du schreibst einen Roman!? Das ist ja interessant. Gib mir dich
schonmal die ersten Kapitel, damit ich die lesen kann."

Nervig oder naiv?
Das ist weder nervig noch naiv. Ich las mal irgendwo über die drei Stufen des Lobes:

1. Ich habe ein Buch von dir gelesen.
2. Ich habe alle Bücher von dir gelesen.
3. Hast du nicht was für mich, was noch nicht veröffentlicht ist?

Es ist also höchste Anerkennung.

Beim Lesen gehe ich meist chronologisch vor -- aber manchmal schieben Autoren irgenwelche Sachen ein, die die Handlung (scheinbar) verzögern, da übersprang ich schon mal ein Kapitel, um zu sehen, wie es weiter geht, oder ich las gar erst mal den Schluss --- und fühlte mich schlecht.

Bis ich die "Sterntagebücher" von Lem gelesen habe. Zum ersten Mal begriff ich, dass das ganz normal ist. Er beschrieb indirekt diesen Effekt in seinen Zeitreisegeschichten.

Bei allem Patchwork: Man sollte den Leser nicht betrügen. Z.B. darf sich eine SF-Geschichte nicht als Traum herausstellen. (Ja sagen wir, als Ausnahme doch, wenn Ijon Tichy sie auf seiner Reise zum Mond träumt ...)

Grüße von Bernd

PS: Wenn man eine längere Erzählung "durcheinander" schreibt, und sie nicht aus Fragmenten bestehen soll, ist es wahrscheinlich günstig, eine Art "Drehbuch", ein Expose anzufertigen.
 
M

Monfou

Gast
Hi abstrakt, hi Bernd,

ich glaube, ich habe einen Punkt anders verstanden, als er womöglich gemeint war.
Mir ging es um das "linerare Verfassen" als SchreibAKT.
Aber offenbar geht es um die "Konstruktion" des fertigen Werks.
Stimmt natürlich, dass es hier viele, viele Beispiele für schöne, kluge, rasante Kompositionsformen gibt. (Ich musste in der Schule noch Gerd Gaisers Schlussball lesen. Hier wird der Roman von wechselnden Stimmen vorgetragen)

Ein Kapitel aus dieser Perspektive, eins aus jener. Arno Schmidts Mare Crisium ist so ein Büchlein, aber selbst E.T.A. Hoffmann hat ja schon bei den Ansichten des Katers Murr das Manuskript durcheinander geworfen.
William Burroughs hat wohl als einer der Konsequentesten "Patchwork" produziert.

Ich habe auch einige Texte geschrieben, in denen die Perspektive ständig wechselt. (Also ein Wechsel kürzester Szenen, oft nur wenige Zeilen) Ich habe es sogar zu meinem Schreibprinzip werden lassen, allerdings sind die Text schwieriger zu lesen.

Eigentlich sind viele der schönsten Romane im 20Jahrhundert nichtlineare Romane. Selbst Henry Miller, der eigentlich nicht experimentiert, komponiert nicht eigentlich linear, weil er sich die Freiheit nimmt, Erzählfäden abreißen zu lassen, neue zu beginnen ohne Rücksicht auf das "Gesamtwerk"
Gruß

Monfou
 

abstrakt

Mitglied
Das Rausch-Prinzip

Hallo monfou!

Du hast mich schon richtig verstanden, ich habe mich aber nicht ganz vollständig geäußert: die einzelnen Text-Bausteine schreibe ich auch linear runter, geradezu rauschhaft: in einem Rutsch, in maximal 1 oder 2 Stunden. Das sind dann kurze Szenen oder auch richtige Kurzgeschichten, deren Längen zwischen einer und 15 Seiten variieren. Natürlich ist das alles sehr grob und muß daher noch mehr oder minder stark überarbeitet werden, aber solche Texte haben halt einen "Beat". Jedoch schreibe ich gerade auch einen richtig langen Roman, bei dem ich den roten Faden über die Gesamt-Handlung einfach nicht unter Kontrolle habe (und das ist auch bestimmt gut so): ich collagiere dauernd solche kürzeren Rausch-Text rein bzw. lasse mich vom bereits Geschriebenen "inspirieren", so daß die Handlung dauernd in andere Richtungen abschweift, als geplant war. Das ist nicht weiter schlimm, denn immer wenn ich die Handlung "kontrollieren" will, schreibe ich nur Müll. Umgekehrt habe ich alle Texte, für die ich gelobt wurde, in einem solchen Schreib-Rausch runtergetextet. - Außerdem gibt es in meinem Roman einige Lücken, weil ich eben an allen Enden zeitgleich schreibe.

(Burroughs' Cut-Up-Methode. Das ist mir aber zu radikal. Kerouac hat es immerhin geschafft, rauschhaft ganze Romane zu schreiben.)

Tschau,
abstrakt
 

mc poetry

Mitglied
hallo abstract,

also, ich muss sagen, ich ziehe vor
jedem den hut vor bewunderung, der
irgendwas laengeres komplett von oben
bis unten durchschriebt ohne etwas
korrigieren zu muessen (sagen wir außer
rechtschreibfehlern).

das funktionier hoechstens, wenn man
von anfang an die ganze geschichte im kopf
hat.

ich korrigiere sogar bei kurzen gedichten
noch haeufig die wortstellung, nehme eine
silbe weg oder fuege eine hinzu.

ciao, michael
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Michael,

ich glaube, das ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Es kann durchaus sein, dass man eine Geschichte sich einfach entwickeln lässt, ohne am Anfang das ganze zu kennen. Das kann zu guten Ergebnissen führen, muß es aber nicht.
Ebensowenig und ebenso sehr, wie die anderen Wege.
Wenn mehrere zusammen an einer Serie arbeiten, dann allerdings müssen bestimmte Randbedingungen gesetzt sein, damit es konsistent wird.

Viele Grüße von Bernd
 

abstrakt

Mitglied
@mc poetry:

es geht nicht darum, ob jemand eine erzählung in einem rutsch PERFEKT runterschreibt. es ist keine frage, daß fast jeder autor nachträglich seinen Text überarbeitet, korrekturen vornimmt, formulierungen verbessern muß etc. die frage war die, ob es die Regel ist, daß man die Geschichte (im großen und ganzen) so runterschreibt, wie sich später liest: Also ob die Handlung als solche von Anfang da ist oder ob es nicht vielmehr die Regel ist, daß sich die Handlung beim Schreiben "verselbständigt". Nichtlineares Patchwork ist ja nur eine Methode von mir, um überhaupt eine längere Geschichte zustande zu bekommen.
 

itsme

Mitglied
.....

@abstrakt

Wie lang ist eine "längere" Geschichte für dich?

Ich kann einen vollständigen Faden für eine auch längere Kurzgeschichte, sagen wir von 4-6 Seiten haben. Wird es länger, mache ich mir Skizzen oder ich beschreibe den Plot Kapitel für Kapitel. Aber selbst dann verselbständigt sich die Handlung gelegentlich.

Mir ist es nicht gegeben einige Seiten einfach so runter zu schreiben. Es ist immer masochistische Quälerei, und bevor ich halbwegs, vorerst zufrieden bin, habe ich einen Text mindestens zehn mal gelesen und verändert.

J.M. Simmel sagte von sich in den späteren Jahren, er würde niemals eine getippte Seite ein zweites mal lesen. Der schrieb Romane von 250 Seiten linear, bis zu 15 Seiten pro Tag - Serienproduktion.

Grüßlinge
itsme
 

abstrakt

Mitglied
Re: .....

Ursprünglich veröffentlicht von itsme

...
Ich kann einen vollständigen Faden für eine auch längere Kurzgeschichte, sagen wir von 4-6 Seiten haben. Wird es länger, mache ich mir Skizzen oder ich beschreibe den Plot Kapitel für Kapitel. Aber selbst dann verselbständigt sich die Handlung gelegentlich.
...
So gehe ich im Prinzip auch vor, nur bin ich meistens ziemlich unfähig, die Skizzen dann auch wirklich mit Leben zu füllen, weil mir oft die sprachlichen Mittel fehlen, diese eher abstrakten Handlungsideen zu konkretisieren. Daher bin ich gezwungen, die skizzierte Handlung immer wieder zu verändern. Allerdings habe ich auch häufig rauschhafte Schreibexzesse, wo ich auch schonmal um die 10 Seiten in einem Rutsch runterschreibe. Das ist zwar meistens recht holprig und grob, läßt sich aber nachträglich gut überarbeiten. Gewissermaßen das Rohmaterial.
 
S

Sansibar

Gast
Schreiben

Ein Hallo in die Runde
ich weiß nicht ob ihr hier Ansprechpartner sein könnt oder wollt. Ich habe einen Roman, den ich schon lange im Kopf mit mir herumtrug quasie wie im Rausch innerhalb 4 Wochen gescrieben. Inhalt, der rote Faden bis zum Schluss, mit allem bin ich noch im nachhinein sehr zufrieden. Doch nun kommt das Problem: Der gesammte Text muss natürlich korrigiert, verbessert, ergänzt werden. Die Figuren müssen noch lebendiger werden. Ich weiss was geschehen muss, dennoch bin ich nicht in der Lage das Manuskript in die Hand zu nehmen. Es ist als würde ich das nicht"dürfen" Als wenn ich etwas verbotenes tun wollte, ein Tabu brechen oder so ähnlich. Bin ich ein Fall für den Psychater? Andere Texte, schreibe ich täglich ohne Probleme, kann mich auch zu ihren Schwächen bekennen, oder auch ihre Stärken sehen. Nur dieses verdammte Manuskript liegt wie Blei. Ich habe mir eine Frist gesetzt, ist das sinnvoll? Was mache ich mit einem "Kind" das unbedingt auf die Welt wollte und nun vernachläßigt wird?
Ich bin ziemlich tatlos (Herr Freud lässt grüßen) ich wollte ratlos schreiben.
Bitte helft mir weiter.
Sansibar
 

abstrakt

Mitglied
@Sansibar:

Wie soll man Dir denn helfen? Eigentlich bist Du doch in einer bequemen Situation: Du hast Ausgangsmaterial, das Dir selbst gefällt. Wie oben bereits geschrieben: ich korrigiere meine rauschhaft runtergeschriebenen Texte ganz gerne und muß es auch tun, weil sich immer eine Menge Ungereimtheiten verstecken. Wenn Du also keine Lust hast, Deinen Roman fertigzustellen, dann laß es doch einfach. Wow, was für ein toller Tip.
 
S

Sansibar

Gast
Bequem?

Hallo abstrakt,
ich bin alles andere als bequem in jeder Lebensweise immer flott am Ball, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Ich habe die "Problematik" wohl nicht verständlich genung rüber gebracht.Ich glaube das ich Angst vor meinen eigen Gedanken und Gefühlen habe, denn ich muß mich beim Ausarbeiten ja noch einmal zwangsweise mit dem Inhalt auseinandersetzen. Innhaltlich ist es ein in seiner Tiefe wohl eher ein Drama, große und kleine Gefühle usw.Wenn ich z. B. ein Bild gemalt habe, drehe ich es auch um und weg und schaue es mir nach einem Zeitabstand wieder an Nur bei diesem Text gelingt es mir nicht. Er liegt wie eine verbotene Frucht - und das beschäftigt mich. Natürlich kann ich es einfach liegen lassen und vergessen, doch so einfach ist es nicht. Daher empfinde ich deine Aussage eher oberflächlich. Sorry, damit ist mir leider nicht geholfen.
Gruß Sansibar
 

abstrakt

Mitglied
Natürlich ist meine Aussage oberflächlich und keine wirkliche Hilfe. Aber wenn Du schreibst, daß Du den Text nicht anrühren kannst, dann kannst Du halt nur warten, bis es wieder geht.
 

itsme

Mitglied
....

Sansibar ...

Wieviel Zeit ist denn vergangen seit du den Text heruntergeschrieben hast? Ich denke es kann nicht schaden, wenn ein heiß geschriebener Text ablagert. Wenn du kein Genie bist, wird eine Menge zu verändern sein ... nach Monaten oder auch einem Jahr.

Grüßlinge
itsme
 
S

Sansibar

Gast
Lagerung

Hallo istme,
langsam glaube ich auch, ich muss ähnlich einem guten Stück Rindfleisch, den Text lagern. Er liegt seit Januar 2002 auf "Halde".Vielleicht lasse ich ihn ein Jahr lang liegen. In so einem großen Zeitraum wird sich manches setzen, sich wandeln. Aber das Fundament steht, dekorieren kann ich immer noch.. Danke für deine Antwort
Sansibar
 



 
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