Nur ein Betriebsunfall
„Stell dir vor, Mama, die Gabi ist schwanger und ihre Mutter hat sie rausgeworfen! Sie hat gesagt: Wer erwachsen genug ist, sich mit einem Mann einzulassen, der ist auch fähig, einen eigenen Haushalt zu führen. Und hat ihre Sachen gepackt und vor die Tür gestellt. Darf die das überhaupt? Gabi ist doch erst siebzehn!“
Frau L. hielt im Schrubben inne. „Ja“, sagte sie dann, „das ist traurig. Wenn dir mal so was passiert wie deine Freundin, brauchst du keine Angst haben, ich werf dich nicht raus, ich machs dir weg.“
Gloria L. stutzte. Wie meinte die Mutter denn das? Sie forschte: „Du meinst abtreiben? Aber da machst du dich doch strafbar!“ Frau L. schnaufte: „Ja, ich mach mich strafbar, die Frau, die es sich machen lässt, macht sich strafbar, nur die Männer, die wild in der Gegend rumficken, die machen sich nich strafbar. Kastrieren sollte man die!“
Gloria kicherte. Dann hakte sie nach: „Machst du wirklich solche Sachen, Mama?“ – „Klar doch. Zuerst habe ich es nur bei mir selber gemacht, sonst hättest du noch viel mehr Geschwister. Dann kam diese und jene und bat mich um Hilfe. Ich bekam gutes Geld dafür. Was meinst du wohl, wer dein Kleid bezahlt hat, das du zum Geburtstag bekommen hast, dein versoffener Vater vielleicht? Mach dir keine Sorgen, Kind, solang du eine Mutter hast, danke Gott und sei zufrieden.“
Ein paar Monate später gestand Gloria ihrer Mutter, dass sie schwanger ist. Auf einer Party nach dem Schulabschluss war es hoch her gegangen und sie konnte sich nicht mehr erinnern, mit wem sie gelegen hatte. Frau L. untersuchte ihre Tochter und entsetzte sich: „Himmel, du bist ja schon Ende vierten Monat! Konnteste denn nich früher zu mir komm? Ich hab dir doch gesagt, dass ich das in Ordnung bringe, aber doch nich so spät!“ Gloria schluchzte: „Ich habs doch nich eher gemerkt! Kannst du es jetze nich mehr?“ Die Mutter antwortete: „Der Mensch kann alles, er muss nur wollen.“ Und machte sich ans Werk.
Leider war alle Mühe vergeblich. Die Frucht saß fest. Das letzte Mittel wäre, die Fruchtblase aufzustechen, aber dazu konnte Frau L. sich nicht durchringen, sie fürchtete, nicht nur das Enkelchen, sondern auch die Tochter zu verletzen.
So kam zum vorausberechneten Geburtstermin ein kleines Mädchen zur Welt. Scheinbar völlig gesund, die Angehörigen atmeten auf. Eines Tages aber ward klar: Klein Amely konnte nicht sehen.
Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Gloria eine eigene Wohnung bekommen, denn es war unzumutbar, dass sie mit dem Säugling in der Zweiraumwohnung blieb, wo sie bisher mit den Eltern und ihren beiden jüngeren Geschwistern gelebt hatte. Nun war sie immer öfter bei den Eltern zu Gast, um sich auszuheulen. Die Mutter hielt ihr vor, dass alles besser verlaufen wäre, wenn sie rechtzeitig zu ihr gekommen wäre. Als das nicht half, versuchte sie zu trösten: „So n kleener Betriebsunfall kann doch schon mal passieren.“, und bekam zur Antwort: „Das hast du nur deswegen vermasselt, damit du mich aus m Haus kriegst!“
Frau L. sah, dass die Tochter mit dem blinden Kind überfordert war, aber sie selber war es auch. Keiner in dieser Familie wusste, wie man mit Behinderten umgeht. Wenn Gloria die Kleine knuffte, mahnte die Mutter zwar: „Eine Mutter liebt ihr Kind!“, doch Gloria zischelte: „N Kind vielleicht, aber so ne Blindschleiche?“
Überhaupt ging man mit Amely ziemlich ruppig um in dieser Familie. Der Opa verließ die Wohnung, sobald das Kind in Sicht kam und die Oma wäre auch gern geflüchtet. Der jugendliche Onkel legte der Kleinen Reißzwecken auf den Stuhl, die Tante spuckte ihr ins Essen. Sie kamen sich sehr klug und überlegen vor, wenn sie etwas „vor den Augen“ der Blinden taten, was ihr nachher zum Verhängnis wurde. Das war ihnen jedes Mal eine herrliche Gaudi, die sie genießen konnten, ohne Eintritt bezahlen zu müssen.
„Besser wie Dick und Doof!“, krähten sie, wenn sie wieder einmal allerlei kleine Gegenstände auf den Fußboden gelegt hatten, über welche Amely unweigerlich stolpern musste und hinfiel.
Gloria knirschte mit den Zähnen: „Kleener Betriebsunfall! Mein ganzes Leben ist versaut durch dir!“ Als sie merkte, dass die Tochter intelligenter war als sie, brachte sie sie nicht mehr zur Blindenschule. Da kam das Kind in ein Heim. Endlich war Gloria die Blage los, aber dafür hatte sie der Alkohol fest im Griff . . .
Geschrieben im Mai 2003, geschehen 1953 in Ost-Berlin
Namen der Personen geändert