Oleg
Die Ostsee ist kalt, Ende September bei Turku. Aber so soll sie sein, wenn man abends aus der Sauna kommt, nackt ins Wasser springt und beim Schwimmen die Sterne betrachtet. Wie Oleg und ich.
Es ist einem wärmer, wenn man danach auf einer gezimmerten Bank sitzt, den Duft von Tannelnnadeln und feuchtem Holz in der Nase, auf die leichten Bewegungen des Wassers schaut und eine Wodkaflasche teilt.
Wie es komme, dass ich mit einem solchen Namen Deutschland repäsentiere, hatte Oleg mich am Tag zuvor gefragt. Er war gezielt auf mich zugekommen, als wir alle uns kennenlernten, Vertreter studentischer Gruppierungen aus ganz Europa, die sich diesmal in Finnland trafen. "Ganz Europa", so sagten wir damals, obwohl wie immer die Osteuropäer fehlten, aber das störte mich nicht, denn irgendwie zählten sie nicht dazu.
Russen allerdings nahmen teil an dem Treffen in Finnland, das war ungewöhnlich und natürlich war es mir schon beim Lesen der Teilnehmerliste aufgefallen: Vertreter des Komsomol sind da, der Nachwuchsorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Von den Finnen dazugeladen. Vermutlich wegen dieser Sonderbeziehung zur UdSSR. "Russen" dachte ich übrigens tatsächlich, denn wer aus der Sowjetunion kam, war für mich damals Russe.
Woher er Portugiesisch könne, fragte ich zurück, denn in dieser Sprache hatte Oleg seine Frage gestellt. Für einige Sekunden schoss mir durch den Kopf: er ist ein Agent und will sich in mein Vertrauen schleichen. Er studiere Portugiesisch, sagte er, in Moskau, seiner Heimatstadt, sei auch schon fünf Mal in Angola gewesen, als Dolmetscher, und einmal auf São Tomé. Leider aber noch nie in Portugal und auch nicht in Brasilien.
"Ich glaube, wenn Russen Sprachen lernen, lernen sie sie gut!", antwortete ich, anerkennend, denn Oleg sprach fast akzentfrei. Sprachen zu sprechen sei eine Chance, ins Ausland zu kommen, meinte er und fügte hinzu, São Tomé sei der schönste Ort, den er auf der Welt kenne.
"Mein Vater hat seinen Wehrdienst in Angola geleistet.", erzählte ich, als verbinde uns das, "Anfang der Sechziger. Vierundsechzig ist er aus Portugal nach Deutschland gekommen. Meine Mutter kam nach und ich bin in Deutschland geboren. Was Deine Frage beantwortet, wie man mit einem portugiesischen Namen Vertreter einer Studentengruppe aus Deutschland sein kann."
Wir unterhielten uns viel an diesem und dem nächsten Tag und immer auf Portugiesisch, während uns die Finnen nicht nur ein Seminar, sondern auch ein Kulturprogramm organisierten. Die Tage wurden in der Sauna beendet, das gehörte dazu, und ich muss gestehen, dass es für mich die ersten Saunabesuche überhaupt waren. Am meisten beeindruckte mich dabei, dass die Russen ihre Wodkaflaschen mitnahmen in die Sauna und einige Finnen auch, und sie tranken dort daraus, wie ich aus einer Bierflasche trinke. Ich dachte an den Satz, dass man in einem Land mit diesen Temperaturen, dessen Namen im Portugiesischen klinge, als sei es eine Satire, das Land am Ende, am Ende der Welt vermutlich, eben Finnland, wahrscheinlich einfach nichts Sinnvolleres tun könne, als eben zu trinken. Eigentlich ungerecht, denn zumindest Turku war eine sehr schöne Stadt. Aber vielleicht doch auch irgendwie wahr.
"Wissen wollen, was auf der anderen Seite des Meeres ist..." sagte ich Oleg, als wir auf der Holzbank saßen und auf die dunkle Ostsee schauten. Eigentlich fühlte ich mich inzwischen oft mehr als Deutscher, aber dieser Gedanke habe mich immer fasziniert. Dass sie sich in ihre kleinen Karavellen gesetzt hätten, Nussschalen aus heutiger Sicht, und losgefahren seien. Und das Wasser sei immer wärmer geworden, so dass einige glaubten, sie führen in die Hölle, aber sie seien trotzdem weitergefahren, vor fünfhundert Jahren, weil ihre Neugier zu ergründen, was da wohl liege, auf der anderen Seite des Meeres, größer gewesen sei als ihre Angst.
"Die Ungarn haben es richtg gemacht." antwortete Oleg. "Nicht nur, dass sie die Deutschen gehen lassen. Sondern vor allem ihre eigenen Leute." Er nahm einen weiteren Schluck, "Wer wissen muss, was dort ist, auf der anderen Seite des Meeres, auch wenn manche sagen, es gehe dort in die Hölle, den kann man nicht festhalten." Er reichte mir den Wodka, ich nippte an der Flasche. "Es gibt kein Zurück!" fuhr er fort. "Alle werden ihre Grenzen öffnen. Sie müssen! Anders geht es nicht. Du wirst sehen: auch die Mauer in Berlin wird verschwinden. Und wenn alle Grenzen offen sind, kann es ja auch eine DDR nicht mehr geben. Es wird schneller gehen, als wir denken, viel schneller."
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden so reden hörte. Ein Russe, der in Finnland mit mir Portugiesisch sprach! Den Kalender von damals habe ich noch. An jenem Tag schrieb ich: "Die Mauer wird verschwinden und die DDR wird es dann nicht mehr geben. Schneller als wir glauben. Sagt Oleg, der Komsomolze. Kann das sein?" Manchmal schaue ich mir den Eintrag an, als müsste ich mich davon überzeugen, dass es dort wirklich so steht, geschrieben am 26. September 1989.
Das Seminar ging zuende, wir reisten nachhause und ich habe im den Monaten danach oft an Oleg gedacht. Eigentlich denke ich bis heute an ihn.
Die Ostsee ist kalt, Ende September bei Turku. Aber so soll sie sein, wenn man abends aus der Sauna kommt, nackt ins Wasser springt und beim Schwimmen die Sterne betrachtet. Wie Oleg und ich.
Es ist einem wärmer, wenn man danach auf einer gezimmerten Bank sitzt, den Duft von Tannelnnadeln und feuchtem Holz in der Nase, auf die leichten Bewegungen des Wassers schaut und eine Wodkaflasche teilt.
Wie es komme, dass ich mit einem solchen Namen Deutschland repäsentiere, hatte Oleg mich am Tag zuvor gefragt. Er war gezielt auf mich zugekommen, als wir alle uns kennenlernten, Vertreter studentischer Gruppierungen aus ganz Europa, die sich diesmal in Finnland trafen. "Ganz Europa", so sagten wir damals, obwohl wie immer die Osteuropäer fehlten, aber das störte mich nicht, denn irgendwie zählten sie nicht dazu.
Russen allerdings nahmen teil an dem Treffen in Finnland, das war ungewöhnlich und natürlich war es mir schon beim Lesen der Teilnehmerliste aufgefallen: Vertreter des Komsomol sind da, der Nachwuchsorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Von den Finnen dazugeladen. Vermutlich wegen dieser Sonderbeziehung zur UdSSR. "Russen" dachte ich übrigens tatsächlich, denn wer aus der Sowjetunion kam, war für mich damals Russe.
Woher er Portugiesisch könne, fragte ich zurück, denn in dieser Sprache hatte Oleg seine Frage gestellt. Für einige Sekunden schoss mir durch den Kopf: er ist ein Agent und will sich in mein Vertrauen schleichen. Er studiere Portugiesisch, sagte er, in Moskau, seiner Heimatstadt, sei auch schon fünf Mal in Angola gewesen, als Dolmetscher, und einmal auf São Tomé. Leider aber noch nie in Portugal und auch nicht in Brasilien.
"Ich glaube, wenn Russen Sprachen lernen, lernen sie sie gut!", antwortete ich, anerkennend, denn Oleg sprach fast akzentfrei. Sprachen zu sprechen sei eine Chance, ins Ausland zu kommen, meinte er und fügte hinzu, São Tomé sei der schönste Ort, den er auf der Welt kenne.
"Mein Vater hat seinen Wehrdienst in Angola geleistet.", erzählte ich, als verbinde uns das, "Anfang der Sechziger. Vierundsechzig ist er aus Portugal nach Deutschland gekommen. Meine Mutter kam nach und ich bin in Deutschland geboren. Was Deine Frage beantwortet, wie man mit einem portugiesischen Namen Vertreter einer Studentengruppe aus Deutschland sein kann."
Wir unterhielten uns viel an diesem und dem nächsten Tag und immer auf Portugiesisch, während uns die Finnen nicht nur ein Seminar, sondern auch ein Kulturprogramm organisierten. Die Tage wurden in der Sauna beendet, das gehörte dazu, und ich muss gestehen, dass es für mich die ersten Saunabesuche überhaupt waren. Am meisten beeindruckte mich dabei, dass die Russen ihre Wodkaflaschen mitnahmen in die Sauna und einige Finnen auch, und sie tranken dort daraus, wie ich aus einer Bierflasche trinke. Ich dachte an den Satz, dass man in einem Land mit diesen Temperaturen, dessen Namen im Portugiesischen klinge, als sei es eine Satire, das Land am Ende, am Ende der Welt vermutlich, eben Finnland, wahrscheinlich einfach nichts Sinnvolleres tun könne, als eben zu trinken. Eigentlich ungerecht, denn zumindest Turku war eine sehr schöne Stadt. Aber vielleicht doch auch irgendwie wahr.
"Wissen wollen, was auf der anderen Seite des Meeres ist..." sagte ich Oleg, als wir auf der Holzbank saßen und auf die dunkle Ostsee schauten. Eigentlich fühlte ich mich inzwischen oft mehr als Deutscher, aber dieser Gedanke habe mich immer fasziniert. Dass sie sich in ihre kleinen Karavellen gesetzt hätten, Nussschalen aus heutiger Sicht, und losgefahren seien. Und das Wasser sei immer wärmer geworden, so dass einige glaubten, sie führen in die Hölle, aber sie seien trotzdem weitergefahren, vor fünfhundert Jahren, weil ihre Neugier zu ergründen, was da wohl liege, auf der anderen Seite des Meeres, größer gewesen sei als ihre Angst.
"Die Ungarn haben es richtg gemacht." antwortete Oleg. "Nicht nur, dass sie die Deutschen gehen lassen. Sondern vor allem ihre eigenen Leute." Er nahm einen weiteren Schluck, "Wer wissen muss, was dort ist, auf der anderen Seite des Meeres, auch wenn manche sagen, es gehe dort in die Hölle, den kann man nicht festhalten." Er reichte mir den Wodka, ich nippte an der Flasche. "Es gibt kein Zurück!" fuhr er fort. "Alle werden ihre Grenzen öffnen. Sie müssen! Anders geht es nicht. Du wirst sehen: auch die Mauer in Berlin wird verschwinden. Und wenn alle Grenzen offen sind, kann es ja auch eine DDR nicht mehr geben. Es wird schneller gehen, als wir denken, viel schneller."
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden so reden hörte. Ein Russe, der in Finnland mit mir Portugiesisch sprach! Den Kalender von damals habe ich noch. An jenem Tag schrieb ich: "Die Mauer wird verschwinden und die DDR wird es dann nicht mehr geben. Schneller als wir glauben. Sagt Oleg, der Komsomolze. Kann das sein?" Manchmal schaue ich mir den Eintrag an, als müsste ich mich davon überzeugen, dass es dort wirklich so steht, geschrieben am 26. September 1989.
Das Seminar ging zuende, wir reisten nachhause und ich habe im den Monaten danach oft an Oleg gedacht. Eigentlich denke ich bis heute an ihn.