Willi Corsten
Mitglied
Es war immer ein Freudenfest, wenn wir Oma Lenchen besuchen durften. Dort wartete ein perlenverziertes Kästchen auf uns, in dem wundersame Kindergeschenke versteckt waren. Nein, keine klebrigen Bonbons und auch keine Schokolade. Unzählige Sagen und Märchen waren es, die tief unten dort schlummerten.
Wir setzten uns an den Küchentisch und sahen zu, wie Oma das Kästchen öffnete und daraus ein Bündel Wollfäden hervor kramte. Jeder Faden hatte eine andere Farbe, und in jeder Farbe steckte ein anderes Märchen. Keiner wusste vorher, welche Geschichte sich in dem blauen Faden versteckte, oder in dem roten oder in dem goldfarbenen. Die Märchen waren ja nicht auf Papier geschrieben, sondern geheimnisvoll in die Wollfäden eingewebt. Und nur Oma Lenchen konnte die Zeichen deuten und die unsichtbaren Worte lesen.
Ungeduldig rückten wir die Stühle zurecht. Dann durfte einer mit geschlossenen Augen den ersten Faden ziehen. Die Märchenstunde fing mit einem weißen Wollfaden an. Oma trank ein Schlückchen Pfefferminztee, tupfte mit dem Taschentuch den Mund ab und sagte: „Weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz. Ob Schneewittchen auf uns wartet.“
Sie beugte sich über den Faden, schnupperte mit ihrer feinen Nase daran und flüsterte: „Schneewittchen schläft noch, aber Frau Holle meldet sich. Sie bittet euch, aufmerksam zu lauschen.“
Mit leiser Stimme erzählte Oma das Märchen, und als sie fertig damit war, zupften wir einen roten Faden aus dem Wollknäuel. Meine Schwester jubelte, weil Rot doch ihre Lieblingsfarbe war. Sie schaute Oma mit großen Augen an und fragte: „Besucht uns heute Schneeweißchen und Rosenrot?“
Oma Lenchen nahm den Faden behutsam in die Hand, rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelte bedauernd den Kopf: „Leider nein. Es sind feine Kuchenkrümel in der Wolle, und es duftet nach Wein, nach Rotkäppchen und ein wenig nach bösem Wolf.“
Mit diesem Märchen war meine Schwester auch einverstanden, denn es war einfach alles schön, was Oma erzählte.
Als wir in der Schule lesen und schreiben gelernt hatten, überraschte uns Oma Lenchen mit einem anderen Spiel. Sie holte Malblätter aus dem Kästchen, legte Buntstifte dazu und ließ uns Märchenfiguren zeichnen. Dann stellte sie eine Rechenaufgabe, und wer sie am schnellsten gelöst hatte, durfte beginnen. Seine Figuren erzählten nun, was sich in ihrem Leben zugetragen hatte.
Irgendwo in der Geschichte sagte Oma ‚Simbalo, Simbalo‘. Nun war das nächste Kind an der Reihe und fügte Erlebnisse seiner Helden hinzu. Heraus kam ein buntgewürfeltes Märchen, bei dem die Bösewichte gehörig bestraft und die Guten reichlich belohnt wurden.
Nach dem Spiel nahm Oma Lenchen uns liebevoll in den Arm und nannte uns ‚Kleine Fantasie-Träumer‘. Und wir waren sehr stolz auf dieses Lob.
An eines der erdachten Märchen erinnere ich mich und erzähle es gerne für alle, die noch an geheimnisvolle Zauberwelten glauben.
Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald. – Simbalo, Simbalo - Da gesellte sich der böse Wolf zu ihnen und fragte mit unschuldiger Miene, wo denn hier das Haus der sieben Geißlein sei. – Simbalo, Simbalo - Dort triffst du keinen mehr an, lieber Wolf, denn vorhin kam das tapfere Schneiderlein dort heraus. Es setzte sich auf die Bank, holte Nadel und Faden aus der Tasche und stickte vier Worte auf seinen breiten Gürtel. Ich lief neugierig näher und sah, dass auf dem Gürtel geschrieben stand: ‚Sieben auf einen Streich‘. – Die sieben Geißlein sind also tot, darum kannst du dir den Weg ersparen und wieder nachhause gehen.
So eilten wir durch das Märchenreich, verweilten am Dornröschenschloss, schickten Hase und Igel zu den Bremer Stadtmusikanten und sorgten dafür, dass der böse Wolf den ‚Knüppel aus dem Sack‘ zu spüren bekam. Wir liebten dieses Spiel über alles und lernten dabei in wenigen Stunden mehr, als während der ganzen Woche im Unterricht.
Oma Lenchen ist nun schon lange tot. Sie hat den Mut nie verloren und die Fantasie ihrer Kindheit ins hohe Alter retten können. In meiner Erinnerung bleibt sie die beste Oma der Welt und ist die erste Frau, die ich richtig gern hatte. Gewiss sitzt sie nun oben im Himmel, kramt bunte Wollfäden aus dem Kästchen und erzählt den kleinen Engeln von Elfen, Gnomen und Menschenkindern, die begeistert ihr Erdenleben geteilt haben.
Wir setzten uns an den Küchentisch und sahen zu, wie Oma das Kästchen öffnete und daraus ein Bündel Wollfäden hervor kramte. Jeder Faden hatte eine andere Farbe, und in jeder Farbe steckte ein anderes Märchen. Keiner wusste vorher, welche Geschichte sich in dem blauen Faden versteckte, oder in dem roten oder in dem goldfarbenen. Die Märchen waren ja nicht auf Papier geschrieben, sondern geheimnisvoll in die Wollfäden eingewebt. Und nur Oma Lenchen konnte die Zeichen deuten und die unsichtbaren Worte lesen.
Ungeduldig rückten wir die Stühle zurecht. Dann durfte einer mit geschlossenen Augen den ersten Faden ziehen. Die Märchenstunde fing mit einem weißen Wollfaden an. Oma trank ein Schlückchen Pfefferminztee, tupfte mit dem Taschentuch den Mund ab und sagte: „Weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz. Ob Schneewittchen auf uns wartet.“
Sie beugte sich über den Faden, schnupperte mit ihrer feinen Nase daran und flüsterte: „Schneewittchen schläft noch, aber Frau Holle meldet sich. Sie bittet euch, aufmerksam zu lauschen.“
Mit leiser Stimme erzählte Oma das Märchen, und als sie fertig damit war, zupften wir einen roten Faden aus dem Wollknäuel. Meine Schwester jubelte, weil Rot doch ihre Lieblingsfarbe war. Sie schaute Oma mit großen Augen an und fragte: „Besucht uns heute Schneeweißchen und Rosenrot?“
Oma Lenchen nahm den Faden behutsam in die Hand, rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelte bedauernd den Kopf: „Leider nein. Es sind feine Kuchenkrümel in der Wolle, und es duftet nach Wein, nach Rotkäppchen und ein wenig nach bösem Wolf.“
Mit diesem Märchen war meine Schwester auch einverstanden, denn es war einfach alles schön, was Oma erzählte.
Als wir in der Schule lesen und schreiben gelernt hatten, überraschte uns Oma Lenchen mit einem anderen Spiel. Sie holte Malblätter aus dem Kästchen, legte Buntstifte dazu und ließ uns Märchenfiguren zeichnen. Dann stellte sie eine Rechenaufgabe, und wer sie am schnellsten gelöst hatte, durfte beginnen. Seine Figuren erzählten nun, was sich in ihrem Leben zugetragen hatte.
Irgendwo in der Geschichte sagte Oma ‚Simbalo, Simbalo‘. Nun war das nächste Kind an der Reihe und fügte Erlebnisse seiner Helden hinzu. Heraus kam ein buntgewürfeltes Märchen, bei dem die Bösewichte gehörig bestraft und die Guten reichlich belohnt wurden.
Nach dem Spiel nahm Oma Lenchen uns liebevoll in den Arm und nannte uns ‚Kleine Fantasie-Träumer‘. Und wir waren sehr stolz auf dieses Lob.
An eines der erdachten Märchen erinnere ich mich und erzähle es gerne für alle, die noch an geheimnisvolle Zauberwelten glauben.
Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald. – Simbalo, Simbalo - Da gesellte sich der böse Wolf zu ihnen und fragte mit unschuldiger Miene, wo denn hier das Haus der sieben Geißlein sei. – Simbalo, Simbalo - Dort triffst du keinen mehr an, lieber Wolf, denn vorhin kam das tapfere Schneiderlein dort heraus. Es setzte sich auf die Bank, holte Nadel und Faden aus der Tasche und stickte vier Worte auf seinen breiten Gürtel. Ich lief neugierig näher und sah, dass auf dem Gürtel geschrieben stand: ‚Sieben auf einen Streich‘. – Die sieben Geißlein sind also tot, darum kannst du dir den Weg ersparen und wieder nachhause gehen.
So eilten wir durch das Märchenreich, verweilten am Dornröschenschloss, schickten Hase und Igel zu den Bremer Stadtmusikanten und sorgten dafür, dass der böse Wolf den ‚Knüppel aus dem Sack‘ zu spüren bekam. Wir liebten dieses Spiel über alles und lernten dabei in wenigen Stunden mehr, als während der ganzen Woche im Unterricht.
Oma Lenchen ist nun schon lange tot. Sie hat den Mut nie verloren und die Fantasie ihrer Kindheit ins hohe Alter retten können. In meiner Erinnerung bleibt sie die beste Oma der Welt und ist die erste Frau, die ich richtig gern hatte. Gewiss sitzt sie nun oben im Himmel, kramt bunte Wollfäden aus dem Kästchen und erzählt den kleinen Engeln von Elfen, Gnomen und Menschenkindern, die begeistert ihr Erdenleben geteilt haben.