Orpheus

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Herr H.

Mitglied
Die Bäume neigten sich zu ihm hernieder.
Die rauen Felsen weinten, wenn er sang.
Der wunderbare Zauber seiner Lieder,
ihr zarter Ton, ihr sehnsuchtsvoller Klang
vermochte selbst die Götter zu berühren.
Und mit den Herzen schlossen alle Türen
sich vor ihm auf. Sogar die wilden Tiere
verließen ihre heimlichen Quartiere.
Sie traten aus dem hohen Gras hervor
und waren plötzlich zahm und nur noch Ohr.

Auch viele Vögel aus dem Walde kamen,
sobald sie seinen Saitenstrich vernahmen
und ließen sich von ihm im Winde wiegen.
Die Meereswellen rauschten nur noch leise.
Und wenn sie sich nun senkten oder stiegen,
dann taten sie's im Rhythmus seiner Weise.

Er aber sang im warmen Sonnenlicht
von Liebe und von zärtlichem Verlangen,
von stillem Glück, von Zweifel, Schmerz und Bangen.
Er sang fast wie in Trance. Und merkte nicht,

dass eine ganze Welt bei seinem Lied
den Atem anhielt, jeden Laut vermied,
um von dem Dichter und von seinen Träumen
nicht einen Hauch und Schimmer zu versäumen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Lieber Herr H.

das Gedicht beschreibt recht schwelgerisch die Wirkung von Lied und Dichtung. Ich darf aber daran erinnern, dass Orpheus der Sohn der Muse Kalliope und des Apollon ist: es gibt also verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Deinem romantischen Dichtersänger und jenem, der nach einem gewonnenen Wettstreit im lieblichen Flöten seinen Konkurrenten, einen Satyr namens Marsyas, an einen Baum hing und ihm recht prosaisch die Haut abzog...

P.
 

Herr H.

Mitglied
Hallo Penelopeia,

mit deinem Hinweis auf Marsyas, der ein so trauriges Ende nahm, hast du natürlich vollkommen Recht. Aber ich wollte ja auch keineswegs im Allgemeinen die Wirkung von Lied und Dichtung beschreiben, sondern nur eine kleine Ode auf Orpheus anstimmen, der - zumindest der Sage nach - tatsächlich durch seine Liedkunst um sich herum so etwas schaffen konnte wie eine Aura jesajanischen Friedens ...

Danke fürs Echo und liebe Grüße von
Herrn H.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Lieber Herr H.,

sicher hat die Sage irgendwo recht, sonst hätte sie sich nicht erhalten. Und Du hast sie mit Deinem Gedicht in eine sprachlich gekonnte Kurzform gebracht. Allerdings hat mich Dein Gedicht sofort an die Komplexität heutiger Prozesse erinnert: Was wird z.B. in Syrien erreicht sein, wenn der IS besiegt ist? Wird dann Frieden herrschen? Und wenn ja: wird er dauerhaft sein? Die "Alten", sprich: die Dichter und Denker der Antike, hatte einen feines Gespür für dialektische Prozesse, für "Widersprüche in sich", Antagonismen oder wie auch immer man das "Sowohl als auch" benennt: nicht umsonst dichteten sie Apollon die Sache mit Marsyas an.

Letztlich spiegelt die Sage wohl unsere Ambivalenz...
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
nett

das ist insgesamt schön und harmonisch.
natürlich kann Orpheus für den umgang seines vaters mit konkurrenten so wenig wie das lamm für die angeblichen beleidigungen des wolfs durch seinen lämmlichen vater. das ist ... naja, obliviscere.

Er aber sang im warmen Sonnenlicht
von Liebe und von zärtlichem Verlangen,
von stillem Glück, von Zweifel, Schmerz und Bangen.
Er sang fast wie in Trance. Und merkte nicht,
das bedeutet, er sang wie ein romantiker, nicht wie der gründer der religion bzw. philosophenschule, in der man sich um unsterblichkeit, wiedergeburt, weltbau und proto-pythagoreische mathematikmusik kümmerte. aber wieso sollten naturwesen von menschlichen sentimentalitäten angelockt werden? wieso sollten sie anthropomorph verzerrt werden? das ist ganz nett, aber es ist weder im rimbaudschen sinne "modern" noch im kassizistischen sinne natürlich. vielleicht hellenistisch empfindsam, romantisch gefühlhaft, eben nett.
schlecht ist es nicht.
 

Herr H.

Mitglied
Hallo Penelopeia,
ich sehe es so wie du: es lag schon im Wissen der Antike, dass Kunst und Grauen, Poesie und Gewalt gar nicht so weit auseinander liegen. Und gerade in den Göttergestalten sahen sie die unterschiedlichsten Begabungen und Charakterzüge vereint ...

Hallo Mondnein,

dass Orpheus zum Begründer der Religion der Orphiker gemacht wurde, hat vermutlich damit zu tun, dass ihm der Sage nach der Zugang zur Unterwelt gewährt worden war. Aber das scheint mir nur ein Rand-Thema des Mythos zu sein. Im Wesentlichen ging es wohl darum, die geradezu magische Macht auszudrücken, die Musik innewohnen kann. Dass Musik (z.B. Mozart) durchaus auch auf die Tier- und Pflanzenwelt Einfluss hat, ist mittlerweile wissenschaftlich belegt. Und darin liegt für mich die zeitlose Wahrheit der Orpheus-Sage.

Danke für die Rückmeldungen und liebe Grüße von
Herrn H.
 

Herr H.

Mitglied
Die Bäume neigten sich zu ihm hernieder.
Die rauen Felsen weinten, wenn er sang.
Der wunderbare Zauber seiner Lieder,
ihr zarter Ton, ihr sehnsuchtsvoller Klang
vermochte selbst die Götter zu berühren.
Und mit den Herzen schlossen alle Türen
sich vor ihm auf. Sogar die wilden Tiere
verließen ihre heimlichen Quartiere.
Sie traten aus dem hohen Gras hervor
und waren plötzlich zahm und nur noch Ohr.

Auch viele Vögel aus dem Walde kamen,
sobald sie seinen Saitenstrich vernahmen
und ließen sich von ihm im Winde wiegen.
Die Meereswellen rauschten nur noch leise.
Und wenn sie sich nun senkten oder stiegen,
dann taten sie's im Rhythmus seiner Weise.

Er aber sang im warmen Sonnenlicht
von Liebe und von zärtlichem Verlangen,
von unerfüllter Sehnsucht, Schmerz und Bangen.
Er sang fast wie in Trance. Und merkte nicht,

dass rund um ihn die Welt bei seinem Lied
den Atem anhielt, jeden Laut vermied,
um von dem Dichter und von seinen Träumen
nicht eine zarte Schwingung zu versäumen.
 

Herr H.

Mitglied
Die Bäume neigten sich zu ihm hernieder.
Die rauen Felsen weinten, wenn er sang.
Der wunderbare Zauber seiner Lieder,
ihr warmer Ton, ihr sehnsuchtsvoller Klang
vermochte selbst die Götter zu berühren.
Und mit den Herzen schlossen alle Türen
sich vor ihm auf. Sogar die wilden Tiere
verließen ihre heimlichen Quartiere.
Sie traten aus dem hohen Gras hervor
und waren plötzlich zahm und nur noch Ohr.

Auch viele Vögel aus dem Walde kamen,
sobald sie seinen Saitenstrich vernahmen
und ließen sich von ihm im Winde wiegen.
Die Meereswellen rauschten nur noch leise.
Und wenn sie sich nun senkten oder stiegen,
dann taten sie's im Rhythmus seiner Weise.

Er aber sang im hellen Sonnenlicht
von Liebe und von zärtlichem Verlangen,
von stillem Glück, von Kummer, Angst und Bangen.
Er sang fast wie entrückt. Und merkte nicht,

dass rund um ihn die Welt bei seinem Lied
den Atem anhielt, jeden Laut vermied,
um von dem Dichter und von seinen Träumen
nicht eine zarte Schwingung zu versäumen.
 



 
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