Orpheus und das Tor zur Unterwelt

Haselblatt

Mitglied
Niemand wusste genau, wie es dazu gekommen war. Niemand kannte die Geschichte in all ihren Einzelheiten, denn es war einfach schon viel zulange her - und wer blickt schon gern in die Finsternis der Unterwelt.

Kerberus spielte gelangweilt mit seiner Kette, geschmiedet aus Titan und charybdischem Eisen. Charon, der Fährmann des Totenreichs, stand ein wenig abseits vom Tor der Unterwelt, wie üblich in seine ziegelbraune Uniform gekleidet, mit dem schwarzen Dragoner und der seltsam geformten Kappe, die ihm die Autorität eines prähistorischen Kapellmeisters verlieh.
Hades, der Herrscher der Unterwelt, stand leibhaftig mitten im Tor und beäugte misstrauisch den Ankömmling, der soeben Charons Boot entstieg.

„Wes ist euer Begehr?“ fragte er den Mann, eine ansehnliche Gestalt in den besten Jahren, in feinste Toga aus Damast gekleidet. Weiß, umrahmt von weinroten Streifen aus persischem Samt. Dazu trug er Schuhe aus echtem Leder! Sein dunkles Haar war hinten zu einem armlangen Zopf geflochten, das Gesicht glatt rasiert. Eine wahrlich seltsame Erscheinung.
Er reiste ohne Gepäck. Das einzige, was er bei sich trug, war eine kleine Leier aus Rosenholz. Die Stege waren sorgsam mit Elfenbein besetzt und am oberen Ende des Halses, da wo sich sonst die Stimmwirbel befinden, steckte ein sechskantiger Schlüssel aus purem Gold.
Kerberus war inzwischen aus Neugierde durch das Tor getreten und betrachtete den neuen Gast mit großen erstaunten Augen.
„Was willst du den hier? Du bist doch noch gar nicht tot!“
Der Gast verbeugte sich demütig und sprach mit flehendem, beinahe unterwürfigem Ton in der Stimme:
„Bitte lasst mich ein. Es..., es ist... also ich möchte...“. Er zögerte kurz und betrachtete Kerberus mit ängstlichen Augen.
„Man sagte mir, ich könnte Euridike hier abholen. Sie ist meine Frau, wisst ihr, und ohne Sie kann ich nicht weiter leben. Will ich nicht weiter leben.“
Hades blickte streng. Ein Anliegen dieser Art verstieß gegen alle Vorschriften, und die, verdammt noch mal, nahm er sehr genau.
„Euridike?“ fragte er. „Ist das nicht die mit dem Schlangenbiss von vorgestern abend?“
Kerberus knurrte leise.
Der Gesichtsausdruck des Gasts erhellte sich, bevor er ausrief:
„Ja, ja, genau die. Wo ist sie, kann ich zu ihr?“
„Nein, das geht nicht“, erwiderte Charon. „Du hast dort keinen Zutritt. Nicht einmal wir zwei“ - dabei deutete er auf den Höllenhund - „dürfen dort hinein. Das ist völlig ausgeschlossen! - Wer bist du überhaupt?“
Man nennt mich Orpheus, ich bin Künstler“
„Ah, Künstler. Wohl auch einer von diesen brotlosen Tagedieben, was?“
Statt eine Antwort zu geben, hob Orpheus die Leier und begann zu singen. Nach wenigen Takten des Gesangs unterbrach ihn Kerberus:
„Das kenne ich, oh ja, Dieses Lied kenne ich! Ein alter Mann in Block B singt das auch immer.“
Orpheus hielt schlagartig in seinem Vortrag inne und bemerkte mit beinahe zornigem Ausdruck:
„Was, ein Bewohner der Unterwelt soll das auch singen?“ Er blickte Kerberus empört ins Gesicht. „Woher willst ausgerechnet du das wissen, du verstehst doch rein gar nichts von Musik, so wie du aussiehst...!“
„Na hör mal...!“ Kerberus streifte mit einer Vordepfote pikiert über das Kopffell.
„Immerhin habe ich bei Apollo drei Semester Panflöte inskribiert. Und du weißt ja, wieviel Übung und Technik es benötigt, bis man aus diesem Instrument einen halbwegs vernünftigen Ton heraus bringt!“ - Kerberus grinste triumphierend.
„Und der Alte, der das immer singt, da im Block B, der hat ein Ticket zur Oberwelt, das in zweitausend Jahren gültig sein wird. Und genau dann, wenn kein Sterblicher mehr von dir reden wird,“ - dabei warf er einen verächtlichen Blick auf den Gast - „dann wird dieser Alte unter dem Pseudonym Christoph Willibald Gluck eine Oper schreiben, über deine Euridike. SIE wird unsterblich sein, DU aber nicht, du eingebildeter Schnösel!“
Orpheus war entzückt, denn jetzt wurde ihm plötzlich bewusst, dass der alte Mann in Block B auch ihn, Orpheus, in seine Inspiration einbeziehen würde. Und dann, endlich, würden er und Euridike wieder in Liebe vereint sein.
 



 
Oben Unten