Ihre verblichenen Gesichtszüge schienen ihm in einem rätselhaften Schmunzeln erstarrt, als sie den schmucklosen Fichtensarg im Frühsommerlicht für immer schlossen. Das irritierte ihn, hatten sie sich doch seit langem nicht mehr einander zugelächelt. Mit einer ungeschickten Handbewegung hatte er rasch noch die Fliege von ihrer ihm letztmals dargebotenen Stirn vertrieben und so dem Tier die Teilhabe an ewiger Ruhe erspart. Solches und ähnlich pedantisches Gehabe hatte Oberstudienrat Otto Würmlings fazettenlose Ehe in eine Art vorzeitigen Ruhestand versetzt. Ausschließlich er habe - nach Aussagen seiner Gattin - mit seiner kläglichen, verbeamteten Gemütsbeschaffenheit hierzu beigetragen, was er wiederum heftig bestritt.
"Hast du mein Jackett ausgebürstet?", pflegte er Edeltraud stereotyp allmorgendlich zu fragen, wenn er die Frühstückskrümel vom Kragen schnippte, mit dem Stielkamm zum wiederholten Mal sein Grauhaar vor dem Spiegel scheitelte und den speckigen Filzhut drüber stülpte.
Danach überließ er sie nach zwei flüchtig hingeschmatzten Wangenküsschen ihrer Langeweile. Eine preisgünstige, fernöstliche Hausangestellte versagte Edeltraud zudem die seltenen Erfolgserlebnisse eigenbestimmter Tätigkeit.
Seit dem Tag der Bestattung hatte er sie nicht mehr zu Gesicht und sich selbst nicht mehr so recht in den Griff bekommen. Herausgerissen aus öder, alltäglicher Belanglosigkeit ging er nun verkrümelt und ungescheitelt seiner Bestimmung nach. Seine Pedanterie hatte offensichtlich Schaden gelitten. Zu Lebzeiten kaum wahrgenommen, fehlte Edeltraud ihm plötzlich. Dennoch gab er ihr die Schuld an ihrem schnöden Ableben. Dieser Umstand hatte seiner Vorstellung von spießigem Ordnungsfanatismus einen gehörigen Dämpfer verpasst. Wäre sie - wie es sich gehört - krank gewesen, hätte er ihr wenigstens Vorwürfe wegen Beeinträchtigung seines Alltagstrotts machen können. Aber so hatte sie einfach die Tür hinter sich zugeschlagen.
An einem bemerkenswerten Herbstmorgen hatte er es sich auf dem Weg durch den Stadtpark zum Gymnasium auf der vertrauten Bank bequem gemacht und seiner Trostspenderin "Jagdbitter" mit kräftigem Schluck zugesprochen, was sich in letzter Zeit gehäuft und ihm Rügen des Direktors eingebracht hatte, wenn dieser seinen Morgengruß nicht nur hörte, sondern auch roch.
Frühe Wegstunden waren vormals geeignet, nicht nur über sein Leben nachzudenken, sondern auch über die hübsche Kollegin Merlitzki, zumal sie einmal ihr Pausenbrot mit ihm getauscht und bemerkt hatte: <Da hat Ihnen Ihre Frau aber was Leckeres eingepackt!> Dieser Hinweis hatte genügt, allfällige Illusionen zu zerstören, welche in seiner Fantasie ohnehin ein Schattendasein führten. Nun bezog er in seine Betrachtungen auf der Bank erneut Edeltraud ein und gelegentlich die Fliege, der Gattin letzte Weggefährtin, bevor seinerzeit Sargdeckel und Ehe ein für alle Mal zugeklappt worden waren.
Er hatte seine Trösterin bereits wieder in eine ausgebeulte Aktentasche verstaut, als sein Blick auf eine vom Wetter ramponierte Geldbörse fiel, die unter faulendem Laub hervorlugte. Als er sie öffnete, fanden sich verschimmelte Geldscheine und die Summe war beträchtlich: 320 DM. Seine eindimensionale Denkweise gebot ihm sogleich, sie zur Polizei zu bringen. Eine innere Stimme bedeutete ihm andererseits, sein ihm bescheiden erscheinendes Salär ein wenig aufbessern zu können. Seine Blicke schweiften umher, um eventuelle Zeugen angedachten Handelns auszumachen, doch es siegte sein amtsverpflichtendes Gewissen. Er gönnte sich noch einen Schluck Bitterlikör und beschloss nach Schulschluss zum Polizeirevier zu gehen.
Die Fragen nach Personalien, Zeit und Ort der Fundsache waren rasch protokolliert. "Schreiben Sie Witwer!", hatte er dem jungen Polizeimeister noch beordert, bevor dieser das Portemonnaie einer eindringlichen Inspektion unterzog.
Es fand sich kein Hinweis auf die Identität des Besitzers und die Geldsumme stimmte auch noch. Doch aus einer mit Reißverschluss gesicherten, kleinen Seitentasche förderte der Beamte ein Foto zutage. "Kennen Sie diese Person?", wandte er sich an Würmling. Der fingerte nach seiner Brille, dann wurde er bleich wie ein Leichentuch. Dieses sibyllinische Lächeln, obwohl angefressen vom Zahn der Zeit, es war zweifelsfrei Edeltraud. So schaut sie dort unten jetzt auch aus, ging ihm blitzartig durch den Kopf. Über die eigenen Gesichtszüge verlor er allerdings völlig die Kontrolle, als der Polizist mit einem Augenzwinkern verkündete: "Da steht auf der Rückseite: Dein Herzblatt!"
Nach Fassung ringend stieß Würmlig stockend hervor: "Die kenne ich nicht!", bevor er kopf- und grußlos aus dem Revier stürzte.
Stunden später auf der Bank mit Flasche: Ich Idiot! Ich hätte das Geld behalten sollen. Wer war übrigens dieser Kerl? Mit meiner Edeltraud! Und er erinnerte sich ihres rätselhaften Lächelns, bevor sie den Sarg verriegelten. Die hatte doch tatsächlich noch etwas vorgehabt mit mir, das Luder! Und die Fliege hätte ich lassen sollen, sie mochte die Biester nicht!
Man fand ihn am Abend volltrunken neben der Parkbank liegend, <jagdverbittert>, ungekämmt und voller Krümel aus einer Papiertüte.
"Hast du mein Jackett ausgebürstet?", pflegte er Edeltraud stereotyp allmorgendlich zu fragen, wenn er die Frühstückskrümel vom Kragen schnippte, mit dem Stielkamm zum wiederholten Mal sein Grauhaar vor dem Spiegel scheitelte und den speckigen Filzhut drüber stülpte.
Danach überließ er sie nach zwei flüchtig hingeschmatzten Wangenküsschen ihrer Langeweile. Eine preisgünstige, fernöstliche Hausangestellte versagte Edeltraud zudem die seltenen Erfolgserlebnisse eigenbestimmter Tätigkeit.
Seit dem Tag der Bestattung hatte er sie nicht mehr zu Gesicht und sich selbst nicht mehr so recht in den Griff bekommen. Herausgerissen aus öder, alltäglicher Belanglosigkeit ging er nun verkrümelt und ungescheitelt seiner Bestimmung nach. Seine Pedanterie hatte offensichtlich Schaden gelitten. Zu Lebzeiten kaum wahrgenommen, fehlte Edeltraud ihm plötzlich. Dennoch gab er ihr die Schuld an ihrem schnöden Ableben. Dieser Umstand hatte seiner Vorstellung von spießigem Ordnungsfanatismus einen gehörigen Dämpfer verpasst. Wäre sie - wie es sich gehört - krank gewesen, hätte er ihr wenigstens Vorwürfe wegen Beeinträchtigung seines Alltagstrotts machen können. Aber so hatte sie einfach die Tür hinter sich zugeschlagen.
An einem bemerkenswerten Herbstmorgen hatte er es sich auf dem Weg durch den Stadtpark zum Gymnasium auf der vertrauten Bank bequem gemacht und seiner Trostspenderin "Jagdbitter" mit kräftigem Schluck zugesprochen, was sich in letzter Zeit gehäuft und ihm Rügen des Direktors eingebracht hatte, wenn dieser seinen Morgengruß nicht nur hörte, sondern auch roch.
Frühe Wegstunden waren vormals geeignet, nicht nur über sein Leben nachzudenken, sondern auch über die hübsche Kollegin Merlitzki, zumal sie einmal ihr Pausenbrot mit ihm getauscht und bemerkt hatte: <Da hat Ihnen Ihre Frau aber was Leckeres eingepackt!> Dieser Hinweis hatte genügt, allfällige Illusionen zu zerstören, welche in seiner Fantasie ohnehin ein Schattendasein führten. Nun bezog er in seine Betrachtungen auf der Bank erneut Edeltraud ein und gelegentlich die Fliege, der Gattin letzte Weggefährtin, bevor seinerzeit Sargdeckel und Ehe ein für alle Mal zugeklappt worden waren.
Er hatte seine Trösterin bereits wieder in eine ausgebeulte Aktentasche verstaut, als sein Blick auf eine vom Wetter ramponierte Geldbörse fiel, die unter faulendem Laub hervorlugte. Als er sie öffnete, fanden sich verschimmelte Geldscheine und die Summe war beträchtlich: 320 DM. Seine eindimensionale Denkweise gebot ihm sogleich, sie zur Polizei zu bringen. Eine innere Stimme bedeutete ihm andererseits, sein ihm bescheiden erscheinendes Salär ein wenig aufbessern zu können. Seine Blicke schweiften umher, um eventuelle Zeugen angedachten Handelns auszumachen, doch es siegte sein amtsverpflichtendes Gewissen. Er gönnte sich noch einen Schluck Bitterlikör und beschloss nach Schulschluss zum Polizeirevier zu gehen.
Die Fragen nach Personalien, Zeit und Ort der Fundsache waren rasch protokolliert. "Schreiben Sie Witwer!", hatte er dem jungen Polizeimeister noch beordert, bevor dieser das Portemonnaie einer eindringlichen Inspektion unterzog.
Es fand sich kein Hinweis auf die Identität des Besitzers und die Geldsumme stimmte auch noch. Doch aus einer mit Reißverschluss gesicherten, kleinen Seitentasche förderte der Beamte ein Foto zutage. "Kennen Sie diese Person?", wandte er sich an Würmling. Der fingerte nach seiner Brille, dann wurde er bleich wie ein Leichentuch. Dieses sibyllinische Lächeln, obwohl angefressen vom Zahn der Zeit, es war zweifelsfrei Edeltraud. So schaut sie dort unten jetzt auch aus, ging ihm blitzartig durch den Kopf. Über die eigenen Gesichtszüge verlor er allerdings völlig die Kontrolle, als der Polizist mit einem Augenzwinkern verkündete: "Da steht auf der Rückseite: Dein Herzblatt!"
Nach Fassung ringend stieß Würmlig stockend hervor: "Die kenne ich nicht!", bevor er kopf- und grußlos aus dem Revier stürzte.
Stunden später auf der Bank mit Flasche: Ich Idiot! Ich hätte das Geld behalten sollen. Wer war übrigens dieser Kerl? Mit meiner Edeltraud! Und er erinnerte sich ihres rätselhaften Lächelns, bevor sie den Sarg verriegelten. Die hatte doch tatsächlich noch etwas vorgehabt mit mir, das Luder! Und die Fliege hätte ich lassen sollen, sie mochte die Biester nicht!
Man fand ihn am Abend volltrunken neben der Parkbank liegend, <jagdverbittert>, ungekämmt und voller Krümel aus einer Papiertüte.