Romanfiguren: Charaktere oder Handlungskometenzen
Hallo poppins!
Endlich doch noch einer! Ich dachte schon zu diesem doch so hochinteressanten Thema gibt es gar keine Resonanz. Ich schreibe hier nun eigentlich nur wegen der Freude über diese Resonanz und weniger deshalb, um Gemeinsamkeiten oder Differenzen zwischen uns heraus zu stellen.
Ein Unterschied in unserer Meinung kann evtl. aus dem pragmatischen Rat, den ich Brana gegeben habe, abgeleitet werden. Aus meinen Ausführungen davor geht ja doch auch hervor, dass man sich mit dem „Charakter“ der handelnden Personen im einzelnen auseinandersetzen muss und um dies systematisch zu tun, ist dann wohl auch eine ordnende Methode unumgänglich.
Aber – by the way – zu etwas anderem in diesem Zusammenhang. Ich habe eigentlich erwartet, dass Widerspruch aus einem anderen Grunde kommt. Ich habe Charakter oben in „ “ gesetzt, weil ich mir nicht sicher bin, ob das der richtige Ausdruck ist, für das, worüber wir sprechen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn man mir geschrieben hätte: “Du sagst zwar Charakter, aber schreiben tust du über etwas ganz anderes.“
Charakter ist zwar in aller Munde und jeder geht wohl auch davon aus, zu wissen, was das ist. Man weiß ja schließlich was ein Charakterdarsteller ist – oder etwa nicht? Man spricht davon, das jemand charakterfest ist. Wenn man sagt, jemand hat Charakter, dann unterstellt man dabei stillschweigend, das er einen guten Charakter hat. Aber auch jemand mit schlechtem Charakter hat schließlich Charakter, halt einen schlechten.
Was heißt Charakter? Gibt es wirklich mehr als zwei Charaktere: Mehr als einen guten und einen schlechten? Oder was meinen wir wirklich, wenn wir mehrere Spielarten unterstellen?
Wovon reden wir eigentlich?
Bourdieu spricht vom Habitus des Menschen. Kurz gesagt, er umreißt mit diesem Begriff u. a. das, was ein Individuum in seinem Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata ausmacht.
Was den Menschen ausmacht ist das Ergebnis seiner Sozialisation. Auf deinen Hinweis, die Biographie der Romanhelden zu entwickeln, sei hier zurückverwiesen. Marx kann man hierzu auf die Formel reduzieren: Die Dinge bestimmen unser Bewusstsein.
In anderen Gesellschaftstheorien wird darauf verwiesen, dass die Strukturen in denen wir Leben unser Handeln bedingen, dass wir aber auf Grund unseres Handeln wiederum die Strukturen verändern, die dann wieder das Handeln beeinflussen usw. Hier wird auf einen sehr dynamischen Prozess verwiesen, was es wiederum fraglich erscheinen lässt, ob es der Wirklichkeit entspricht, den „Charakter“ vorneweg festzulegen.
Ob es wirklich möglich ist, den Charakter des anderen zu erkennen ist strittig. Mead spricht davon, dass wir uns selbst nur an der Reflexion an anderen erkennen. Und das gilt auch für jeden anderen „Anderen“. Indem wir Handeln, versetzen wir uns in die Position des Anderen und handeln in der Erwartungshaltung, dass der andere eine bestimmte Reaktion auf unser Handeln folgen lässt. Und in erster Näherung gehen wir davon aus, dass er so handeln wird wie wir es an seiner Stelle auch tun würden. Menschen können in diesem Perspektivewechsel das Handeln des Anderen vorwegnehmen. Diese Eigenschaften muss man wohl auch den Romanhelden zugestehen und wenn man ihnen auch einen „festen Charakter“ von Anfang bis zum Ende - einen guten oder schlechten - zugesteht, so wird doch ihr Verhalten jeweils der Situation angemessen sein, das heißt auch vom jeweiligen Handeln der anderen.
Um den Anderen zu verstehen, müssen wir sein Handeln in uns selbst wiedererkennen können. Um dies bewerkstelligen zu können schreibt Mead uns drei Facetten zu: Das „I“, das spontane, kreative Ich, das „Me“, das „soziale „Selbst“, in dem sich das Umfeld (Bezugspersonen, Gruppen) niederschlägt und das „Self“, in dem sich die eigene Identität verbirgt.
Mead fragt in diesem Zusammenhang auch nicht nach Charakter, sondern was die Identität des Menschen ausmacht und wie weit sie erkennbar ist.
Im Leben wie im Roman werden die Akteure in der oben erwähnten Struktur an einen bestimmten Platz gestellt und müssen die Rolle übernehmen, die diesem Platz entspricht. Wie nun einer diese Rolle annimmt - freudig oder mit Widerwillen - ist in ihm verankert. Wie er dann aber tatsächlich handelt, wie er sich entscheidet, hängt von vielen Faktoren ab. Vielfach handeln wir fremdbestimmt und gar nicht so wie wir gerne möchten, nämlich gar nicht so wie es uns unserem „Charakter“ eigentlich entspräche.
Dies kommt vor allem daher, weil wir mehrere Rollen am „Buckel“ haben. Da ist einer Politiker, Vorstandsmitglied im Sportverein, Firmenbesitzer, Vater, Ehemann, Angler usw. zugleich. Da kommt es nicht selten zu Rollenkonflikten. In dem wir in eienr Rolle „charakterkonform“ handeln, verstoßen wir in eineranderen Rolle gegen ihn. Diese Konflikte muss das Individuum nach außen mit den anderen und nach innen mit sich selbst austragen. Diese Konflikte sind der Stoff, aus dem Romane sind. Im Roman wie im täglichen Leben ringt der Held um die Bewältigung dieser Konflikte.
Zur Bewältigung seiner Probleme stehen ihm dabei verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Aber die Auswahl ist nicht groß. Folgt man auch hier wieder einer Gesellschaftstheorie gibt es vier Möglichkeiten, sogenannte vier Akteurmodelle (ohne scharfe Abgrenzungen):
Normorientiertes Handeln: an sozialen Normen orientiertes Handeln. „Alles was Recht ist.“
Nutzenmaximiertes Handeln: am eigenen Nutzen orientiertes Handeln.
Emotionales Handeln: Handeln auf Grund von Neid, Hass, Wut, Liebe, Freude. Identitätsorientiertes Handeln: Handelnder will die eigene Identität darstellen und sozial bestätigt bekommen: z. B. Kriegsdienstverweigerer, Punk in der Szene Gleichgesinnter usw.
Es geht also immer um des Handeln der Individuen. Denn nur dieses können wir beobachten und uns unseren Reim darüber machen. Den Charakter – was immer das nun auch sein soll – des Helden werden wir so nicht objektiv ergründen können. Was wir von einem Menschen halten, wird eine rein subjektive Auffassung von ihm bleiben. Wie oft müssen wir erfahren, dass jemand ganz anders gehandelt hat, als wir das von ihm erwartet haben und seien wir ehrlich, wie oft handeln wir in einer Weise, wie wir es so von uns bis dahin nicht gedacht hatten. Das eigene Ich, das unbekannte Wesen! Wie wollen wir da den Charakter eines anderen kennen und uns an diesen erinnern können? Wohl nur daran, wie er in bestimmten Situationen gehandelt hat: Wir können dies als gut und nachahmenswert gefunden haben oder als schlecht und verwerflich. Das ist uns wohl im Gedächtnis geblieben; aber eben nur das.
Bei den Romanhelden handelt es sich entweder um Rekonstruktionen bei historischen Helden oder um Konstruktionen bei erfundenen. Was wir diesen Helden mit auf den Weg geben, sind – alles bisherige zusammengenommen – keine Charaktere, sondern Handlungskompetenzen mit denen sie die ihnen zugedachten Aufgaben lösen sollen. Der Edelmann wird hier vielleicht mehr von der normativen Ecke mitbekommen und der Schurke mehr von der zweckorientierten (und dabei befinden wir uns auch gleich ganz nahe der Ecke wo Max Webers Idealtypen rumstehen). Um ihr Handeln aber verstehen zu können, darf es uns nicht fremd sein; es muss ein Teil von uns ein. Es wird auf alle Fälle ein Teil des Autors sein. Deshalb erscheinen gerade historische Figur von Autor zu Autor in einem anderen Licht. Und wie unterschiedlich das bewertet wird, was Menschen tun, erleben wir heute leider fast tagtäglich heunah: Für die einen sind es Märtyrer, Helden, die besten von ihnen, für die anderen sind es Terroristen und Mörder. Und genauso unterschiedlich wird ihre „Charakterisierung“ in Romanen ausfallen, abhängig davon, welche Seite ihn schreibt. Welchen „Charakter“ hat nun ein Mensch, ein Romanheld wirklich? Oder besitzt er doch „nur“ Handlungskompetenzen, angepasst der Situation, in derer sich befindet und der Rolle, die er gerade spielt?
Ach da fällt es mir wieder ein: Man hat mir mal geraten, ich sollte einmal Goffman lesen: „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“. Das Buch soll gut sein. Ich gebe den Tipp hier einmal unkommentiert weiter. Ich kenne die Rezensionen.
Man kann nun sagen: Grau ist alle Theorie. Einverstanden. Aber schließlich sind wir hier ja in der theoretischen Ecke. Und ich muss da immer an Umberto Eco denken. Der ist ja nicht bloß eine begnadeter Autor, sondern ein ebenso anerkannter Professor, u. a. auch der Soziologie. Der kennt all die hier nur plakativ eingebrachten Theorien und noch viele andere mehr aus dem Effeff. Er setzt ganz ohne Zweifel in seinen Werken diese Theorien um. Man sagt nicht umsonst, ein guter Schriftsteller ist auch ein guter Soziologe und - wie man sieht - auch ein guter Soziologe ein guter Schriftsteller. Wir können uns daher getrost eine Scheibe abschneiden: Vom Eco und von der Soziologie, meint
SCHNEPF.