XLVIII. Neue Nachtgedanken (1987)
Ich hatte einen Traum, wachte auf und hatte den Traum schon vergessen. Ich weiß nicht, warum ich dann die Toten zu zählen begann - keine beliebigen Toten, sondern meine Toten, Menschen, die ich gekannt hatte und die inzwischen gestorben waren. Es waren viel mehr als ich vermutet hätte: siebenunddreißig zählte ich – und da hörte ich erst einmal auf: Für jedes Jahr einen Toten, ich bin ja jetzt siebenunddreißig. Ich machte mir klar, dass ihre Gesamtzahl immer größer werden muss, solange ich noch lebe. Wenn ich lange genug existiere, dürfte sie eines Tages diejenige meiner noch lebenden Freunde, Feinde, Bekannten übersteigen. Nach dieser Einsicht verging mir die Lust auf weiteres Rechnen. Es kam mir so vor, als hielten jene Toten am nächtlichen Himmel draußen eine Versammlung ab, als ob sie sich zusammengetan hätten, um dort auf mich zu warten. Ich spürte einen Sog, der von ihnen ausging. Waren sie am Ende sogar gestorben, um mich vereinnahmen zu können? Lebte ich nur noch, um eines Tages unter ihnen zu sein? Das Warten auf mich verband sie, verwischte alle Unterschiede zwischen ihnen, die ich zu ihren Lebzeiten gemacht hatte. Diese Toten waren meine Feinde. Ich riss mich von den Gedanken an sie los, um weiterschlafen zu können. Übrigens habe ich noch nie einen Toten gesehen.
Oft sind mir die Toten auch bei Tag lästig. Wer von ihnen mir nahe stand, scheint mit seinen Alltagsgesten und -empfindungen in meinem Kopf überlebt zu haben. Die Nachricht von seinem Tod ist vielleicht einer Infektion vergleichbar, die Kavernen im Hirn zurücklässt. Wenn nach Jahren mein Schmerz verschwunden ist und ich die Toten selbst nicht mehr vermisse, breiten sich in diesen Hohlräumen Erinnerungen an banale Äußerlichkeiten aus, an äußere Formen, Gesten, Zufallsbemerkungen. So höre ich etwa Peter, der vor drei Jahren an Aids gestorben ist, in mir mit seinem Wiener Akzent reden. Er kommentiert heutige alltägliche Ereignisse, indem er bloß damals Gesagtes wiederholt. Ich kaufe Pfirsiche, die statt saftig nur wässerig schmecken – dazu Peter: „Recht gschmackig san’s ned.“ Bei welcher Gelegenheit hat er es ursprünglich bemerkt? Ich weiß es nicht mehr.
Oder ich unterhalte mich im Büro mit dem Kollegen am Schreibtisch gegenüber. Er nimmt jetzt den Platz von Frau *** ein. Fünf Jahre saß sie dort, wurde manisch-depressiv und brachte sich nach zwei Jahren in der Psychiatrie um. Heute stelle ich im Gespräch mit ihrem Nachfolger an mir den gleichen abgeklärten und - ich finde keinen besseren Ausdruck - begütigenden Tonfall fest, den sie selbst vor Ausbruch der Krankheit immer mehr perfektionierte. Es geht jetzt um ganz andere Themen und doch höre ich mich dabei reden wie sie damals.
Apropos Depressionen: Bis vor kurzem habe ich mich selbst davor gefürchtet. Natürlich fürchte ich mich auch vor Aids. Seit ich jedoch im Radio gehört habe, dass das Virus die Nervenzellen befallen und lang anhaltende Depression ein frühes Symptom der Erkrankung sein kann, hat meine Stimmung sich schon sehr gebessert. Ich will und kann mir dadurch beweisen, dass ich noch gesund bin ...
Proust sagt irgendwo – und ich finde die Stelle jetzt wie üblich nicht -, dass die Toten nur in den Köpfen der Überlebenden weiterexistierten. Allerdings stellt er in einem anderen Zusammenhang davon abweichende Vermutungen an, wenn ich mich recht erinnere. Wohin gehen wir also, wer kann es wissen? Dazu hörte ich neulich in einer Buchbesprechung Bedenkenswertes. Aus einem Werk, betitelt „Physik und Transzendenz“, zog der Rezensent den Schluss, dass es Wirklichkeiten ohne raumzeitliche Dimension geben könnte. In diesem Fall erübrigten sich sogleich die Fragen nach dem Woher vorher und dem Wohin nachher. Diese Begriffe existierten dann nicht mehr. Das leuchtete mir ein.
Meine Toten werden auch nicht älter, sie haben keine Entwicklung. Über sie zu schreiben, hat keinen Anfang und kein Ende. Die Toten sind in uns, aber sie altern nicht mit uns. Sie sind vielleicht doch nicht nur in uns und das könnte die Furcht vor ihnen erklären, die ich unmittelbar nach jenem Traum empfand.