GeisterFahrerÜberholer
Mitglied
Schutzengel
Das kleine Mädchen war in Melanies Alter und hörte auf den Namen Karina. Beide ähnelten sich wie ein Ei dem anderen.
Zum ersten Mal erschien dem Kind das zarte, blasse Wesen am Vorabend des Todes seiner geliebten Mama. Damals hatte Melli gerade ihren dritten Geburtstag gefeiert. Plötzlich war es da, stand vor ihrem Bett, schaute das erschrockene Kind mit wissenden Augen an. Die dicken blonden Haare baumelten, zu Zöpfen geflochten, über schmächtige Schultern. Das frostweiße, längst aus der Mode gekommene Kleidchen duftete nach frisch gepflückten Blumen. Nur wer ganz genau hinschaute, konnte zwei silbern schimmernde Flügel auf dem Rücken der Kleinen erkennen.
Trotz ihrer zarten, beinahe durchsichtigen Gestalt, hob Karina Melanie aus ihrem Bettchen, schaukelte das Kind behutsam hin und her, sang ihm ein Wiegenlied: "Santa, Santa, Santa, dein Engel wacht ..."
Der Morgen dämmerte bereits, als Großmutters Stimme erklang.
"Melli!", weckte sie die Enkelin mit gellendem Schrei. "Melli, deine Mutter hat uns für immer allein gelassen!"
Aber Melanie war trotz tiefster Trauer niemals allein.
Tagsüber trösteten sich Großmutter und Enkeltochter gegenseitig. Nachts hielt Karina an ihrem Bett Wache, passte auf, dass ihr nichts geschah.
Der Engel erzählte von einem rosa Wolkenschloss, das die Mutter bezogen hatte und aus dem sie nun wohlwollend auf ihr Kind herunterschaute.
Eines Tages jedoch verschwand der kleine Engel genauso schnell, wie er gekommen war.
Es nutzte nichts, dass Melanie immer und immer wieder nach ihm rief. Er blieb für viele Jahre verschollen.
"Da bist du ja wieder", rief Melanie, inzwischen siebzehn Jahre alt geworden, eines Morgens beim Aufwachen und streckte dem Schutzengel beide Arme entgegegen. Seltsam, Karina war nun ebenfalls siebzehn und genau wie damals das Ebenbild Melanies.
"Ja, liebe Melli. Ich bin gekommen, um dir einen weiteren Schicksalsschlag zu verkünden", bebte ihre Stimme. Zum ersten Mal erblickte Melanie eine Träne im Auge des Engels.
"Gevatter Tod will heute deine Großmutter mit sich nehmen. Ich weiß, mein Kind, dies ist schrecklich für dich. Aber er kann nicht anders, muss sie holen. In einer anderen Welt, in der es ihr besser gehen wird, wartet man schon auf sie. Großmutter wird sterben in dieser Nacht und nichts und niemand kann ihr Fortgehen aufhalten."
Kaum war die letzte Silbe des Satzes verklungen, sank Karina zu Melanies Füßen, summte wie früher: "Santa, Santa, Santa, ein Engel wacht ..."
Alles Weinen und Flehen, die Großmutter doch noch bei ihr zu lassen, half Melli nichts. Am nächsten Morgen lag die alte Frau, von all ihren Leiden erlöst, leblos in ihrem Bett. Ein zufriedenes Lächeln schmückte ihr Gesicht.
In den folgenden Jahren erschien Karina öfter.
Sie begleitete ihre Schutzbefohlene durch das Leben. Beinahe wie Freundinnen teilten die beiden Kummer und Freude miteinander.
Karina stand hinter der glücklichen Braut am Traualter und wich später keinen Millimeter von der Wiege íhrer Kinder ab.
Sogar als Bello, der treue Familienhund, das Zeitliche segnete, traf man sich an dessen Grab im Garten vorm hübschen Haus.
"Nun komme ich noch zweimal in deinem Leben", verabschiedete sich Melanies Schutzengel an jenem Tag.
Das erste Treffen fand statt, als Carsten, Mellies Ehemann, kurz nach seinem schweren Motorradunfall verschied.
Die zweite Zusammenkunft galt Melanie selber.
Karina nahm erneut auf dem Bettrand der sorgenden Mutter Platz. Anstatt des weißen Kleides trug sie diesmal Schwarz.
"Deine Uhr ist abgelaufen, Melanie," verkündete der Engel in seiner ihm ureigenen, ehrlichen Art.
"Nein! Nein, noch nicht! Bitte, bitte, lass mich noch ein wenig hier. Meine Kinder sind noch klein. Sollen sie denn, wie ich damals, als Waisenkinder aufwachsen? Können Engel so grausam sein? Karina, hab doch Mitleid", bettelte die Sterbende.
"Engel sind niemals grausam. Sie wissen nur genau, wann es Zeit zum Gehen ist. Und bei dir ist es jetzt so weit. Noch heute Nacht, werde ich dich ins Paradies geleiten," flüsterte der Engel. "Deine Lebenskerze ist heruntergebrannt. Schau, wie ihr Docht verlischt. Unser gemeinsamer Erdenweg ist beendet. Ein anderer wird dich fortan begleiten. Du kennst ihn. Es ist unser alter, gemeinsamer Freund. Sein Name ist Tod. Dein Tod."
"Hau ab, du Scheusal, Verschwinde! Ich will dich nie mehr wiedersehen", röchelte Melanie mit letzter Kraft dem Engel entgegen, trommelte verzweifelt mit knöchernen Fäusten auf ihn ein.
Ohne die geringste Regung verwandelte sich das Gesicht Karinas, nahm in Sekundenschnelle abwechselnd díe Züge von Melanies Mutter, dann jene der mindestens genauso geliebten Großmutter an.
Beide trösteten sie mit verschiedenen Zungen: "Hab´ keine Angst. Genau wie dich, werden Schutzengel auch deine Kinder behüten. Glaube uns, jeder Mensch hat einen. Deiner hat seine Pflicht hiermit erfüllt. Komm, komm mit uns."
Karina schloss Melanie in ihre Arme, deckte sie mit ihren filigranen Flügeln zu. Leise, ganz leise verklang ihr Abschiedslied: "Santa, Santa, Santa, schlaf ein, mein Kind ..."
Das kleine Mädchen war in Melanies Alter und hörte auf den Namen Karina. Beide ähnelten sich wie ein Ei dem anderen.
Zum ersten Mal erschien dem Kind das zarte, blasse Wesen am Vorabend des Todes seiner geliebten Mama. Damals hatte Melli gerade ihren dritten Geburtstag gefeiert. Plötzlich war es da, stand vor ihrem Bett, schaute das erschrockene Kind mit wissenden Augen an. Die dicken blonden Haare baumelten, zu Zöpfen geflochten, über schmächtige Schultern. Das frostweiße, längst aus der Mode gekommene Kleidchen duftete nach frisch gepflückten Blumen. Nur wer ganz genau hinschaute, konnte zwei silbern schimmernde Flügel auf dem Rücken der Kleinen erkennen.
Trotz ihrer zarten, beinahe durchsichtigen Gestalt, hob Karina Melanie aus ihrem Bettchen, schaukelte das Kind behutsam hin und her, sang ihm ein Wiegenlied: "Santa, Santa, Santa, dein Engel wacht ..."
Der Morgen dämmerte bereits, als Großmutters Stimme erklang.
"Melli!", weckte sie die Enkelin mit gellendem Schrei. "Melli, deine Mutter hat uns für immer allein gelassen!"
Aber Melanie war trotz tiefster Trauer niemals allein.
Tagsüber trösteten sich Großmutter und Enkeltochter gegenseitig. Nachts hielt Karina an ihrem Bett Wache, passte auf, dass ihr nichts geschah.
Der Engel erzählte von einem rosa Wolkenschloss, das die Mutter bezogen hatte und aus dem sie nun wohlwollend auf ihr Kind herunterschaute.
Eines Tages jedoch verschwand der kleine Engel genauso schnell, wie er gekommen war.
Es nutzte nichts, dass Melanie immer und immer wieder nach ihm rief. Er blieb für viele Jahre verschollen.
"Da bist du ja wieder", rief Melanie, inzwischen siebzehn Jahre alt geworden, eines Morgens beim Aufwachen und streckte dem Schutzengel beide Arme entgegegen. Seltsam, Karina war nun ebenfalls siebzehn und genau wie damals das Ebenbild Melanies.
"Ja, liebe Melli. Ich bin gekommen, um dir einen weiteren Schicksalsschlag zu verkünden", bebte ihre Stimme. Zum ersten Mal erblickte Melanie eine Träne im Auge des Engels.
"Gevatter Tod will heute deine Großmutter mit sich nehmen. Ich weiß, mein Kind, dies ist schrecklich für dich. Aber er kann nicht anders, muss sie holen. In einer anderen Welt, in der es ihr besser gehen wird, wartet man schon auf sie. Großmutter wird sterben in dieser Nacht und nichts und niemand kann ihr Fortgehen aufhalten."
Kaum war die letzte Silbe des Satzes verklungen, sank Karina zu Melanies Füßen, summte wie früher: "Santa, Santa, Santa, ein Engel wacht ..."
Alles Weinen und Flehen, die Großmutter doch noch bei ihr zu lassen, half Melli nichts. Am nächsten Morgen lag die alte Frau, von all ihren Leiden erlöst, leblos in ihrem Bett. Ein zufriedenes Lächeln schmückte ihr Gesicht.
In den folgenden Jahren erschien Karina öfter.
Sie begleitete ihre Schutzbefohlene durch das Leben. Beinahe wie Freundinnen teilten die beiden Kummer und Freude miteinander.
Karina stand hinter der glücklichen Braut am Traualter und wich später keinen Millimeter von der Wiege íhrer Kinder ab.
Sogar als Bello, der treue Familienhund, das Zeitliche segnete, traf man sich an dessen Grab im Garten vorm hübschen Haus.
"Nun komme ich noch zweimal in deinem Leben", verabschiedete sich Melanies Schutzengel an jenem Tag.
Das erste Treffen fand statt, als Carsten, Mellies Ehemann, kurz nach seinem schweren Motorradunfall verschied.
Die zweite Zusammenkunft galt Melanie selber.
Karina nahm erneut auf dem Bettrand der sorgenden Mutter Platz. Anstatt des weißen Kleides trug sie diesmal Schwarz.
"Deine Uhr ist abgelaufen, Melanie," verkündete der Engel in seiner ihm ureigenen, ehrlichen Art.
"Nein! Nein, noch nicht! Bitte, bitte, lass mich noch ein wenig hier. Meine Kinder sind noch klein. Sollen sie denn, wie ich damals, als Waisenkinder aufwachsen? Können Engel so grausam sein? Karina, hab doch Mitleid", bettelte die Sterbende.
"Engel sind niemals grausam. Sie wissen nur genau, wann es Zeit zum Gehen ist. Und bei dir ist es jetzt so weit. Noch heute Nacht, werde ich dich ins Paradies geleiten," flüsterte der Engel. "Deine Lebenskerze ist heruntergebrannt. Schau, wie ihr Docht verlischt. Unser gemeinsamer Erdenweg ist beendet. Ein anderer wird dich fortan begleiten. Du kennst ihn. Es ist unser alter, gemeinsamer Freund. Sein Name ist Tod. Dein Tod."
"Hau ab, du Scheusal, Verschwinde! Ich will dich nie mehr wiedersehen", röchelte Melanie mit letzter Kraft dem Engel entgegen, trommelte verzweifelt mit knöchernen Fäusten auf ihn ein.
Ohne die geringste Regung verwandelte sich das Gesicht Karinas, nahm in Sekundenschnelle abwechselnd díe Züge von Melanies Mutter, dann jene der mindestens genauso geliebten Großmutter an.
Beide trösteten sie mit verschiedenen Zungen: "Hab´ keine Angst. Genau wie dich, werden Schutzengel auch deine Kinder behüten. Glaube uns, jeder Mensch hat einen. Deiner hat seine Pflicht hiermit erfüllt. Komm, komm mit uns."
Karina schloss Melanie in ihre Arme, deckte sie mit ihren filigranen Flügeln zu. Leise, ganz leise verklang ihr Abschiedslied: "Santa, Santa, Santa, schlaf ein, mein Kind ..."