Schutzpatron Erich

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Schutzpatron Erich

Ein zweiwöchiger Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik* ging zu Ende. Ich hatte meiner schönen Heimatstadt Ilmenau wieder mal einen Besuch abgestattet. Der Tag der Ausreise war gekommen.
Meine fürsorgliche Mutter hatte mir Verschiedenes ins Reisegepäck gelegt, das möglicherweise Anstoß bei den Kontrolleuren der Volkspolizei erregen konnte. Als mir meine Mutter obendrein eine goldene Brosche als persönliches Geschenk für meine Frau einpackte, war mir gar nicht wohl – bahnte sich hier doch ein Devisenvergehen an. Da verstanden die roten Brüder keinen Spaß.
Wider alle Vernunft riskierte ich den Broschen–Transfer.

Zwei Tage vor meinem Aufbruch erwarb ich in der Ilmenauer Volksbuchhandlung noch Reiselektüre, unter anderem einen Memoirenband mit einem hierfür durchaus üblichen Titel, nämlich ’Aus meinem Leben’.

Der Zug näherte sich allmählich der Grenzstation Gerstungen. Ich beruhigte meine angespannten Nerven noch immer mit dem Lesen in den besagten Memoiren. Ohne ersichtlichen Grund verließen mich plötzlich alle Mitreisenden meines Abteils. Wollten sie sich freiwillig einer Sonderkontrolle unterziehen? Wohl kaum. Jedenfalls war ich nun völlig allein und in Ermanglung von Zeugen der Willkür der Kontrolleure hilflos ausgeliefert. Normalerweise wäre jetzt erst mal die Passkontrolle fällig gewesen. Keiner kam …

Nun stand der Zug bereits eine Viertelstunde. Hatte ich etwa eine allgemeine Aufforderung zum Verlassen des Wagens überhört? Unüberhörbar war einiges im Gange, aber nur in den Nachbarwaggons und auf dem Bahnsteig. Noch immer kam keiner.
Eine halbe Stunde war vergangen. Allmählich wurde es verdächtig ruhig – und da rollten die Räder wieder.

Offensichtlich hat Honey gewusst, dass ich ihn für wert befunden hatte, sich in seine Memoiren zu vertiefen. Das muss ihn wohl dazu bewogen haben, seine sonst so überaus wachsamen Schergen zu veranlassen, einen Bogen um mich zu machen.

Erst später wurde mir die Tragweite meines Erlebnisses bewusst: Hätte an meiner Stelle ein leidgeprüfter Ossi im Abteil gesessen, der den SED-Staat auf Nimmerwiedersehen hätte verlassen wollen – an jenem Tag wäre es ihm gelungen.

*Ich habe bewusst nicht DDR geschrieben, weil ich mich noch immer am Originalton der von Honey und seinem Vorgänger gebrauchten ’Langfassung’ erfreue, Die wird mir noch lange in den Ohren klingen.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Die Knabe wurde nicht Honey genannt - so süß war er nun wirklich nicht - sondern Honnie.

Ich vermute, die Lektüre hat nicht die Grenzer fern gehalten, sondern die Leute vertrieben :D
 
Hallo jon!

Peinlich, peinlich für einen, der es hätte besser wissen müssen - dachte ich. Doch meine Scham währte nicht lange.
Google mal unter
[ 4]honecker honey
Wir haben beide recht.
Dass die Leute von mir und meiner Lektüre vertrieben wurden, hast Du Dir hübsch ausgedacht. Es kann nur so gewesen sein, dass ich eine Aufforderung zum Aussteigen überhört habe.
LG Eberhard
 



 
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