Silberne Kapseln (Ein Märchen)

Die silbernen Kapseln

Es war einmal eine schöne Königstochter, die sich großer Beliebtheit erfreute. Und da viele sie sehr mochten, wurde sie stets auf viele Feste eingeladen. Die Prinzessin hatte noch nie eine Einladung ausgeschlagen, weil sie niemanden verletzen wollte. Und so wurde sie immer beliebter und erfreute sich an jedem Fest so sehr, dass sie zu tausend weiteren eingeladen wurde. So ging es weiter, und die Königstochter war glücklich.
Doch die vielen Feste zehrten an ihr und so wurde sie immer müder und unglücklicher. Aber sie fürchtete sich noch immer, eine Einladung auszuschlagen. Da kam eines Tages eine alte Frau zu ihr. Sie gab der Prinzessin einen Beutel mit kleinen, silbernen Kapseln. Und sie sagte: „Diese Kapseln bringen dir Glückseligkeit und Frohsinn. Schlucke eine, wenn du zu einem Fest gehst, und du wirst glücklich und ausgelassen sein wie nie zuvor.“ Darauf verschwand die Alte in einer blauen Rauchwolke.
Als die Prinzessin nun wieder auf ein Fest ging, schluckte sie zuvor eine der Kapseln, wie es ihr die alte Frau gesagt hatte. Und wie die es versprochen hatte, war sie so glücklich wie nie zuvor und sie wurde nicht müde. So ging die Prinzessin auf viele, viele Feste und erfreute die Leute und war sehr glücklich.
Doch kam der Tag, an dem sie die letzte Kapsel geschluckt hatte, und der Beutel leer wurde. Da wurde sie so müde, dass sie glaubte, krank zu sein, und sie wurde sehr unglücklich. So lag sie traurig und weinend auf ihrem Bett, als die alte Frau wieder erschien. Die Königstochter bat die Alte, ihr doch noch mehr von den silbernen Kapseln zu geben. Da sagte diese mit einem bösen Lächeln: „Das möchte ich wohl, aber ich kann dir nur neue Kapseln geben, wenn du mir auch etwas bringst.“ Die Prinzessin fragte, was die Alte denn haben wolle. Diese antwortete: „Ich gebe dir sechs silberne Kapseln, wenn du mir dafür die einzige grüne Rose bringst. Diese besitzen die Grasnormpfen.“
Die Prinzessin begab sich auf den Weg, um die Rose zu suchen. So gelangte sie ins Land der Grasnormpfen. Diese waren ein kleines, friedliches und freundliches Volk. Sie waren von zierlichem Wuchs, aber gänzlich aus Gras. Wenn der Wind blies, wurden sie stets umgeweht, aber jedesmal standen sie wieder auf und waren so fröhlich wie zuvor.
Ein kleiner Grasnormpf begrüßte die Prinzessin. Er reichte ihr kaum bis ans Knie. „So seid uns willkommen“, kreischte er fröhlich und hüpfte umher. „Tanzt und scherzt und seid fröhlich, immer fröhlich!“ Die Prinzessin aber antwortete erschöpft: „Ich bin nur müde und unglücklich. Ich will nichts als die grüne Rose, die ich der alten Frau versprochen habe.“
Ein Wind blies plötzlich und wehte den Grasnormpf mehrere Meter weiter weg. Er kreischte wild und schrie: „Nein, nehmt sie mir nicht! Ich liebe doch diese Rose wie nichts anderes! Gebt sie nicht der bösen Hexe! Bitte nicht!“ Da tat der Prinzessin der Grasnormpf so Leid, dass sie ihm die Rose nicht nehmen konnte. Sie sagte zu ihm: „Behalte deine Rose! Ich werde einen anderen Weg suchen, um wieder fröhlich zu werden.“ Erleichtert seufzte der Grasnormpf und sagte: „Da du so gut zu mir warst, Prinzessin, werde ich dich auf deiner Suche begleiten.“ Und er lachte so hell und herzlich, dass das Herz der Prinzessin für einen Moment wieder glücklich war.
Da sie wieder ihre Heimat erreichte, erschien ihr die alte Frau erneut. Diesmal war sie böse und sagte: „Geh und hole mir statt der grünen Rose den roten Hückel. Den wirst du nur bei den Hückelpflückern finden. Dafür will ich dich mit neun silbernen Kapseln belohnen.“
Die Prinzessin machte sich wieder auf den Weg. Um sie herum hüpfte beständig der kleine Grasnormpf, der fortwährend Lieder sang und Scherze machte. Und trotz ihrer Müdigkeit gelang es ihr, zu lachen und den Grasnormpf auch hin und wieder mit einem trockenen Spruch aus der Fassung zu bringen. Doch war sie in ihrem Herzen nicht so recht glücklich und deshalb wanderten sie weiter. So kamen sie in das Gebiet der Hückelpflücker. Hier mussten sie über Hügel steigen und auf Berge klettern, denn die Hückelpflücker sammelten solche. Sie waren stämmige Riesen mit breiten Schultern, die ständig nach schönen Hügeln suchten. Hatten sie dann einen gefunden, pflückten sie die Spitze, den Hückel, des Hügels ab und brachten sie in ihre Heimat. Dann hegten und pflegten sie sie, bis der Hückel zu einem Berg herangewachsen war.
Endlich traf die Prinzessin einen Hückelpflücker, der in seinen Armen sehr viel totes Holz trug, dass er gesammelt hatte. Der Grasnormpf hüpfte sofort auf die Schulter des Hückelpflückers. Dort tanzte er herum und sang: „Mein lieber Freund, du Hückelpflücker, führe uns zum roten Hückel, denn die schöne Prinzessin hier bei mir verlangt ihn für sich, da die alte Hexe ihr neun silberne Kapseln dafür geben wird.“ Da fiel der Riese wie ein Stein auf den Boden und brach in Tränen aus. Er schluchzte: „Dieser rote Hückel ist der letzte, den meine geliebte Frau gepflückt hat. Und da sie jetzt nicht mehr lebt, ist er das einzige, was von ihr geblieben ist. Ich hege und pflege ihn, damit er einst ein großer, roter Berg werden kann.“ Da sprang der Grasnormpf wieder zur Prinzessin. „Die sind so dumm, die Hückelpflücker, die lieben ihr Leben lang nur eine Frau. Und stirbt sie, lieben sie den letzten Hückel, den sie gepflückt hat, pah, so dumm, so dumm. Aber ihr werdet sein treues Herz brechen, wenn ihr ihm den Hückel nehmt.“
„Ich werde ihn nicht nehmen“, entschied die Prinzessin. „Ich finde auch einen anderen Weg, wie ich wieder glücklich werde.“ Da lachte der Hückelpflücker wieder und versprach, die Königstochter zu begleiten, sobald er seinen Hückel mit dem toten Holz gefüttert hatte.
Somit kam die Prinzessin wieder nach Hause. Und als ihr die alte Frau erschien, war diese noch böser als zuvor und sagte: „So bring mir denn das Wasser eines aquitanen Ignafax, so will ich dir zwölf silberne Kapseln geben. Aber dies ist meine letztes Angebot.“
Und so begab sich die Prinzessin auf eine lange Reise, denn die Ignafaxe, die lodernde, wilde Feuerwesen sind, lebten sehr weit entfernt, und zudem musste die Prinzessin noch einen aquitanen Ignafax finden, was noch schwieriger war, da nur selten Ignafaxe gleichzeitig Wasser speien. Während ihrer Reise machte der Grasnormpf ständig Späße über den braven Hückelpflücker, der so lieb und sanft war, dass er sich niemals des Grasnormpfes erwehrte. Und die Königstochter lachte viel mit den beiden über die Scherze des Grasnormpfes und die Sanftmut des Hückelpflückers. Doch immer wieder war sie traurig, denn in ihrem Herzen war sie nicht glücklich.
So kamen sie schließlich ins heiße Land der Ignafaxe, wo die Luft flimmerte und beständig nach Schwefel roch. Während sie weiterzogen, erreichten sie eine Fluss, der brodelte an einer Stelle wie Suppe in einem Kochtopf. Als sie näher traten, erhob sich ein Flammenwesen aus den Fluten, ohne das es verletzt zu sein schien. Das Feuer züngelte und zischte aus ihm und das Wasser schadete ihm nicht. „Ein aquitaner Ignafax!“ rief die Prinzessin erfreut. „Eure Beobachtung ist korrekt“, erwiderte der Ignafax. „Welcher Grund führt euch hierher?“ „Wir möchten dich bitten“, antwortete schüchtern der große Hückelpflücker, „uns dein Wasser zu überreichen.“ „Ja, ja, nur geschwind!“ sang der Grasnompf. „Dass die alte Hexe der Prinzessin die silbernen Kapseln geben kann, sonst ist sie nie mehr glücklich!“ „Ich kann euch das Wasser geben“, sagte der aquitane Ignafax nüchtern, „doch ist dies ein besonderes Wasser, wie kein anderes Wasser, denn es enthält keinerlei Salze. Aber wenn ich es nicht mehr habe, werde ich sterben, denn ich existiere nur durch ein Gleichgewicht aus Feuer und Wasser.“
Die Prinzessin wurde sehr traurig, denn sie wollte den Ignafax nicht töten, aber sie brauchte das Wasser, um wieder glücklich zu werden. Aber da ihr Gewissen siegte, sagte sie: „Ich will dein Wasser doch nicht nehmen. Ich werde auch einen anderen Weg finden, so dass ich wieder glücklich werde.“ „Da dieser Weg vielleicht schwierig wird“, erklärte der Ignafax, so werde ich euch begleiten.“
So wanderten sie wieder in die Heimat der Königstochter. Während sie so wanderten, scherzte die Königstochter viel mit dem Grasnormpf, tröstete den Hückelpflücker und philosophierte mit dem gelehrten aquitanen Ignafax. Zum ersten Mal merkte sie, dass ihr Herz überquoll vor Glück, da sie so treue Freunde gefunden hatte. Sie wollte gar nicht nach Hause gelangen, denn sie war weder müde noch traurig, aber sie fürchtete sich davor, sich von ihren Freunden zu trennen.
Als sie nun den Hof ihres Vaters erreichte, erschien ihr wieder die alte Frau, und sie war so böse wie nie zuvor. Doch bevor sie etwas sagen konnte, rief die Prinzessin: „Verschwinde, alte Hexe, ich brauche dich nicht mehr. Du hast mich mit den silbernen Kapseln betrogen und wolltest mich zu bösen Taten verführen, auf das du reich wirst. Du bist nur eine alte, böse Frau, und jetzt geh.“
Doch die Alte wollte nicht weichen. Da sprach der Grasnormpf ein Wort, und plötzlich wuchsen alle Gräser aus dem Garten um die Alte, hüllten sie ein und vertrockneten. Der aquitane Ignafax tanzte flüchtig um sie herum. Da begann die Hexe zu brennen. Kurz darauf kam der Hückelpflücker und begrub die Asche unter einem frischen Hückel, den er unterwegs gepflückt hatte. Der aquitane Ignafax spuckte Wasser darauf.
Da wuchs aus dem Hückel eine zarte, blaue Lilie. Und diese Lilie wurde zum Symbol für die Freundschaft und wuchs ewig weiter, gehegt und gepflegt von der Prinzessin, dem Grasnormpf, dem Hückelpflücker und dem aquitanen Ignafax.
 

ingridmaus

Mitglied
Hi Ann-Kathrin,
am Anfang hat mir die Idee von Extacy im Maerchenland zwar nicht so getaugt, aber dann wurde es immer besser - vor allem die drei Freunde, die die Prinzessin findet, sind wirklich gut und einfallsreich gestaltet. Also doch Gratulation von mir.
Nur eine Frage: Waere es nicht eher ein Huegelpluecker, statt ein Hueckelpfluecker?
Gruss
Ingrid
 
Extasy im Märchenland

Ich hab das Märchen für den Literaturkurs geschrieben und da musste man die Aufgabenstellung erfüllen, einen Bezug zu einem aktuellen Thema zu haben. Das gefiel mir eigentlich gar nicht, weil die Pillen irgendwie nicht passen wollten. Letztlich fand ich aber die Freundschaft, die sich zwischen der Prinzessin und den drei anderen entwickelt, viel wichtiger, ich finde, sie ist das wirklich Thema dieser Geschichte.
Ha, erst hieß der Hückelpflücker tatsächlich Hügelpflücker, doch ich fand, es klang nicht lustig genug. Außerdem ist für einen der Hückelpflücker ein Hügel ja auch kein Hügel, sondern eine Mischung aus Höcker und Hügel; sprich: Hückel. Zudem: Bei Hügelpflücker käme man zu schnell darauf, woher der Name kommt!!!
 

ingridmaus

Mitglied
Wie waers denn dann noch alternativ mit "Huckelpfluecker" - ein Huckel ist bei uns im Sueden eine Beule oder Aufschuettung oder dergleichen.. ;)
Aber ich lass Dir natuerlich auch gern Deinen "Hueckelpluecker" (man sieht das bloed aus mit ner Tastatur ohne Umlaute...)
 
Ich wusste nicht, dass es so ein ähnliches Wort im Süden gibt, sonst wäre meine Entscheidung vielleicht einfacher gewesen. Ich denke, jetzt bleibe ich aber beim Hückelpflücker, es sieht zwar ohne Umlaute wirklich komisch aus, aber es hört sich ganz lustig an und es werden sich vielleicht auch noch einige die Frage stellen: Ein Hückelpflücker? Was ist denn das?
 
Ist doch ganz klar!! Der Kerl, der die Hückel sammelt um daraus ein Kunstwerk zu bauen! ;)
Mir gefallen ja die Aquitanen Ignerfaxe am besten und wie du das aus dem Lateinischen zusammen gewürfelt hast. Herr Cordes wäre sicherlich beeindrucht!!
Du solltest noch ein Märchen schreiben, denn dieses ist dir zu hundert Prozent gelungen!!
Melani Raasch!
 
Vielen vielen Dank

für das Große Lob, Melani! Ich glaube, ein Märchen wäre ein schönes neues Projekt, das schwierigste dabei ist aber die Themenauswahl! Vielleicht kannst du mir ja da auf die Sprünge helfen.
Natürlich wären die Ignafaxe, Hückelpflücker und Grasnormpfen gar nichts ohne dich! Also, großes Lob auch zurück!
 
Übrigens gefallen mir meine Figuren so gut, dass ich gleich noch ne Geschichte geschrieben hab, in denen alle wieder anzutreffen sind, mit ein wenig veränderten Charaktereigenschaften, aber ansonsten ganz die alten. Da ich diese aber zu einem Wettbewerb geschickt habe, kann ich sie leider hier noch nicht veröffentlichen :-(
 



 
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