Sonettenkranz (INKL. VIDEO)

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Janosch

Mitglied
Auszug aus dem Sonettenkranz "Die Siedlung am Fluss". Das dazugehörige Video von einem Auftritt im Klanggerüst Erfurt, vom 26.01.2014: http://www.youtube.com/watch?v=RDWHI31NB4I

Sonett V: Tornado

Erst fegt es Laub und Kies, dann größre Batzen.
Am Himmel hängt ein trächt‘ger Wolkenbauch,
aus dessen Nabel ragt der Wetterschlauch,
der saugt und wirbelt Stühle, Dächer, Katzen

und übern Acker dreht er Pirouetten.
Ein Bauer ruft nach seinem Töchterlein
und findet sie mit eingeklemmtem Bein,
als Nachbarn sich in einen Bunker retten.

Dann ziehts das Ungetüm wie an der Schnur
zur Straße hin, es tobt und wütet, nur -
es kennt kein Gut, kein Böse, kennt kein Ziel.

Was kommen mag, was weiche und was bleibe,
das sei der sel‘gen Willkür Lust und Spiel.
Ein Kinderwagen klatscht auf eine Scheibe.

*

Sonett VI: Die Straße

Ein Kinderwagen klatscht auf eine Scheibe
des Taxis, auf dem Weg ins Hospital.
Die volle Bremsung äußert sich fatal.
Der Frau im Rücksitz drückts im Unterleibe.

Ein Reifenquietschen, starrende Passanten,
und - einundzwanzig, einundzwanzig - KRACH!
Ein andres Auto schlittert auf dem Dach,
dass Funken sprühn und rast in den Hydranten.

Auf einer Parkbank liegt mit eignem Ton
ein Knabe, eingenickt, mit Jazz im Ohr.
Er phantasiert vom unerreichten Weibe.

In einer Häuserwand ist Endstation
der Klassenfahrt, es bricht ein Wasserrohr:
Wie Messbehälter füllt sich eine Bleibe.

*

Sonett VII: Der letzte Brief

Wie Messbehälter füllt sich eine Bleibe.
Ein Mädchen sitzt am Tisch, die Füße feucht,
als Wasser sprengend aus dem Rohr entfleucht:
„Dies ist ein letzter Brief, den ich dir schreibe.

So vieles zwischen uns blieb ungesagt.
Auch diese Worte werden jäh verschmieren:
Wenn ich dich hätt‘, ich könnte dich verlieren.
Ich liebe dich, doch hab‘ uns nie gewagt.“

Der Wasserspiegel steigt im Hintergrund,
wie unsichtbares Gas durchs Zimmer schleicht.
Sie liegt nur da, der Körper aufgeweicht,

und atmet kaltes Nass in ihren Mund.
Dann der Reflex: ein letztes Scheibenkratzen,
als Fenster und Laternengläser platzen.

*

Sonett VIII: Die Spannungsquelle

Als Fenster und Laternengläser platzen,
verstummt der drohnde monotone Ton:
Die Kirche dröhnt und drängt zur Religion,
am Eingang winken supernette Fratzen.

Die Menschen kommen scharenweis‘ herbei,
weil finstertiefe Einsichten vernichten.
Der Pfarrer weiß Geschichten zu berichten,
die trösten uns. Der Glaube macht uns frei

für Selbstverleugnung und für Heuchelei.
Dort am Altar erwächst was, zuckt und blitzt,
geladen ist’s und sichtlich überhitzt,

ein gleißend Ding, pulsierend und derlei
ein Konterfei und ausgesprochnes Sein:
Der Strom - er frisst nun alles in sich rein.

*

Sonett IX: Die Kirche unter Strom

Der Strom: Er frisst nun alles in sich rein
und feuert durch den Saal Elektrobälle,
die surrend ziehn wie kleine Engelein,
geboren aus der Wahrheit Spannungsquelle.

Die Menschen rennen wirr umher und schrein:
Ein kurzer Schlag verkokelt auf der Stelle
und flimmert grienend wie ein heil’ger Schein,
auf dass er Körper innerlich erhelle.

Der Pfarrer sieht, die Messe ist gelesen,
denn Sterben ist, wenn nichts geschrieben steht.
Für echte Sühne ist es jetzt zu spät;

der Beichtstuhl flackert auf und ist gewesen.
Der Strom: Er bringt die Hallen neu in Schuss,
entartet, was entankert werden muss.

*

Meistersonett: Die Siedlung am Fluss

Der Tag ergießt sich wie aus prallen Fässern,
die ruppig aufgepflockt jetzt satt zerfließen
und prasselnd auf die weiten Straßen schießen:
Auf auf, zu neuen tragenden Gewässern.

Erst fegt es Laub und Kies, dann größre Batzen.
Ein Kinderwagen klatscht auf eine Scheibe.
Wie Messbehälter füllt sich eine Bleibe,
als Fenster und Laternengläser platzen.

Der Strom: Er frisst nun alles in sich rein,
entartet, was entankert werden muss,
und reißt es mit sich fort - aus einem Guss

zerschmettert er die Siedlung querfeldein;
bis abendlich das Flussbett stille liegt
und aufgedunsne Leiber kost und wiegt.
 
F

Fettauge

Gast
Sonettenkranz

Oh ja, das ist sehr dramatisch geworden, Janosch. Dein Vortrag unterstützte den Text in seiner Dramatik hervorragend, er wirbelte geradezu herum wie ein mittlerer Tornado.

Zu den Texten selbst bleibt mir nicht viel zu sagen, außer: Sie sind ausdrucksstark, dem Thema angemessen, geschrieben,
wenn ich auch nicht in jedem Fall hundertprozentig überzeugt bin vom treffenden Wort. Aber dein Vortrag überspielt ein paar kleine Schwächen geschickt, das ist der Vorzug und kleine Trick des mündlichen Vortrags - unter uns Pastorentöchtern. Ein Sonettenkranz ist natürlich eine gehörige Leistung, die ich wohl zu würdigen weiß, wie wohl auch jeder, der sich damit schon mal versucht hat. Für mich ergibt sich nur die Frage, ob der Stoff wirklich für ein Sonett bzw. einen Sonettenkranz geeignet ist, er erscheint mir eher einer Ballade angemessen, wo du dann eine Geschichte darüber hättest erzählen können, wie solch ein ungewohntes Naturereignis vor allem auf die Menschen wirkt. Das briefschreibende Mädchen ist schon mal der Versuch, aber vielleicht hättest du sie in einer Ballade zur Hauptperson machen können, wo man dann doch mehr emotional mitgehen könnte. Nur mal so eine Überlegung.

Den Titel des Ganzen finde ich ein bisschen nichtssagend. Unter "Siedlung am Fluss" stell ich mir eine ziemlich ruhige Angelegenheit vor, aber keinen Tornado, um den es ja in deinen Sonetten geht.

Schöne Grüße, Fettauge
 
D

Die Dohle

Gast
Hallo Janosch,
ein sonettenkranz, sehr selten und wohl geraten, sag ich mal ...
respect!

lg
die dohle
 

Janosch

Mitglied
hallo fettauge,
vielen dank erstmal für dein lob bezüglich text und vortrag. der kranz ist nun auch bereits knapp 4 jahre her und ich selber bin auch nicht mehr hundertprozentig mit der akkuranz einiger formulierungen zufrieden - es war aber mein erster kranz und im moment bin ich noch so aufgestellt, dass ich ihm die eine oder andere schwäche zugestehe. ich will eigentlich immer ungern an alten sachen rumpfuschen, weil sie ja nicht nur momentaufnahme der damaligen inneren zustände, sondern auch spiegel meiner bis dahin fortgeschrittenen fertigkeit sind. ich gestehe mir im nachhinein also die eine oder andere ungeschicktere formulierung zu - wirklich grammatikalische/ orthographische schnitzer natürlich ausgenommen.

ich finde nicht, dass die die form des sonettenkranzen den inhalt und damit die zu erzählende geschichte determinieren sollte. ich finde es einfach eine wunderbare spielerei und die form macht nicht nur unglaublich viel spaß beim schreiben, sondern erklingt beim lesen ja auch ganz anders - ich habe dem sonettenkranz den untertitel "eine selige orgie der verwüstung und zerstörung" gegeben und finde durchaus, dass der rhythmische drive, den die form durchaus evozieren kann, gerade richtig dafür ist, eine solche wut an naturgewalten zu verbildlichen. da ist es mir egal, ob die schlublade das sonett eher mit balladeskem assoziiert. die form ist der meisel und mit diesem werkzeug hau ich gerne nach individuellen gelüsten an meinen bildern herum. :)

"die sieldung am fluss" klingt als titel natürlich nicht sonderlich spektakulär, da geb ich dir auf jeden fall recht. ich weiß nicht, ob er das unbedingt muss; fand halt, dass es inhaltlich einen ganz guten bogen um die einzelstorys/ schicksale spannt, die alle in dieser einen siedlung passieren.

auf jeden fall danke nochmal für das lob und deinen ausführlichen kommentar!
gruß jan
 



 
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