Lieber Bonanza, woher willst du wissen, was ich alles brauche, um mich so richtig gut zu fühlen? Schön, dass du dieses Gefühl auch kennst. Aber welches, bitte? Vielleicht unterscheidet sich mein gegenwärtiges Gefühl sehr von dem deinen, wer weiß. Ich freu mich im Moment zum Beispiel sehr, dass ich die Nobelpreisausgabe von Gabriela Mistral endlich antiquarisch erstanden habe - ein echtes Hochgefühl. Sag nichts zu Gabriela Mistral, du würdest mich enttäuschen.
Liebe Noel, danke, dass du den Text durchgegangen bist. Nein, ich habe bewusst noch einmal auf Stunde angespielt, es ist eine legitime Form der Wiederholung. Nicht jede Wiederholung ist von Übel, sondern man kann sie gezielt einsetzen. Ich halt zum Beispiel auch nichts davon, mich auf das absolut Nötige beim Schreiben zu beschränken, das ist mir zu dürr, das entspricht nicht meiner Mentalität, die es gern üppig hat. Das ist doch das Schöne am Schreiben: Jeder schreibt anders, jeder legt sein Augenmerk auf einen anderen Aspekt. Dass die Amsel (genauer: der Amselhahn, Frau Amsel singt ja nicht) verliebt ist, halte ich zum Beispiel für wichtig, um dem Text die Schwere zu nehmen, die im Grunde dahintersteht. Ich befinde mich bewusst im Alltag und zelebriere ihn nicht. Ich vermute, hier spielt hinein deine dir vielleicht unbewusste Abneigung gegen Emotionales. Aber was wären wir ohne unsere Emotionen? Und gerade das Gedicht ist par exzellence Ausdruck unserer Emotionen, selbstverständlich gepaart mit dem Intellekt. Natürlich muss man aufpassen, dass man es nicht zu dick nimmt. Und dass meine Amsel schluchzt: Das Schluchzen schreibt man in der Literatur gewöhnlich der Nachtigall zu. Aber hast du sie wirklich schon mal schluchzen gehört? Ich nicht. Sie hat wunderschöne Melodien, ich glaube, annähernd zehn oder so, aber Schluchzen ist nicht dabei, das hat mir ein Herr vom NABU versichert. Aber höre einmal zehn Minuten der Amsel zu. Sie ist viel ausdrucksreicher, und ich, das schwöre ich an dieser Stelle, habe sie schluchzen gehört, vielleicht mit viel Phantasie?
Du hast zur "Blauen Boje" was geschrieben, und besonders ist mir aufgefallen, dass du von verschachtelten Sätzen sprichst.
Sie sind dir zu lang. Aber ein lesbarer Text besteht eben nicht nur aus kurzen oder etwas längeren Sätzen, sondern sollte sogar auch aus langen Sätzen bestehen (natürlich darf man sich dabei nicht im Gestrüpp der Kommas verfitzen).
Ich freue mich sogar, wenn ich einen langen Satz zustande gebracht habe, und er ist immer noch übersichtlich. Du mit deinem Minimalismus (so will ich es mal bezeichnen) störst dich auch daran, dass ich mich nicht auf das Wort Greisin beschränke (was nach deiner Meinung schon alles enthält), sondern dass ich in einem Nebensatz ihre Gedanken in diesem Zusammenhang erwähne. Sei ein bisschen großzügiger, auch deinen eigenen Texten gegenüber. Und wie gesagt, es ist nicht von Übel, eine Kombination von linker und rechter Gehirnhälfte einzubringen und nicht ausschließlich die linke zu benutzen, gerade in der Poesie.
Lieben Gruß an euch beide
Hanna