Stunde der Wahrheit

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Josie

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Wie er wohl aussah? Er hatte kein Bild von sich auf seinen Online-Steckbrief gesetzt, nur einige schriftliche Angaben zu seinem Äußeren gemacht. War ihr auch nicht so wichtig, wie er aussah. Wichtig waren nur die einfühlsamen Mails die er ihr geschrieben hatte. Stets verständnisvoll für all ihre kleinen Probleme, und er wünschte sich sehnlichst eine Familie, so wie sie.
Drei Wochen kannten sie sich schon, schrieben sich mehrmals täglich. Und jetzt war der Tag gekommen, an dem sie sich das erste Mal in die Augen sehen würden. Gabis Herz klopfte aufgeregt.

Sein liebstes Hobby, das Fallschirmspringen, darüber würden sie ernsthaft reden müssen. War doch viel zu gefährlich! Gabi wollte nicht schon früh Witwe werden und alleine zurückbleiben, mit den beiden Kindern, die sie bestimmt bald haben würden. Lothar würde sicherlich einsehen, dass er dieses gefährliche Hobby aufgeben musste. Ihr zuliebe.
Zum vierten Male kontrollierte sie, ob sie die weiße Nelke in ihrer Handtasche hatte, das Erkennungszeichen für dieses erste Rendevous.
Noch sieben Minuten, dann war es 16 Uhr. Die Stunde der Wahrheit. Gabi blickte aufgewühlt auf die andere Straßenseite, zum Stadtcafe. Dort würden sie sich in wenigen Minuten das erste Mal begegnen. Ob es wohl Liebe auf den ersten Blick sein würde?
Nervös sah sie sich noch einmal ihr Spiegelbild in einem der Schaufenster an. Sie war zufrieden, mit dem was sie sah: Ihre Frisur umschmeichelte elegant ihr Gesicht. Vielleicht mochte er es ja lieber ein wenig zerzaust? Vorsichtig zupfte sie einige Strähnen aus der kompakten Frisur heraus und zog sie nach vorne ins Gesicht. Na ja, das sah wohl doch etwas zu wild aus. Sie strich sie mit den Händen wieder nach hinten. Drehte sich dann leicht zur Seite und kontrollierte unauffällig ihre Figur: Ihre Silhouette war makellos. Nur oben, da fehlte es ihr ein wenig an weiblichen Rundungen. Ob ihm das wohl genug war? Tja, er würde sie schon so nehmen müssen, wie sie war. Und, wenn nicht? Was, wenn sie ihm nicht gefallen würde?
`Oder, er mir nicht?´, schoss es ihr siedend heiß durch den Kopf. Ein mulmiges Gefühl stellte sich in ihrer Magengegend ein.
Eine Passantin quälte sich mit ihrem Kinderwagen an ihr vorbei. Schnell machte Gabi ein wenig Platz. Die junge Frau nickte ihr dankbar zu, versuchte mit genervter Miene ihren schreienden Säugling zu besänftigen.
Gabi sah ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Wenn sie es sich so recht überlegte, dann hatte sie eigentlich noch einige Jahre Zeit, um Kinder zu kriegen. Sie war ja erst zweiunddreißig. Und heiraten, brauchte sie Lothar ja auch nicht sofort. Das hatte noch viel Zeit. Erst mal, mussten sie sich kennenlernen. Vielleicht stellten sie ja fest, dass sie gar nicht zueinander passten?
Seine Fallschirmspringerei gefiel ihr eh nicht und seine Begeisterung für lange Wanderungen konnte sie auch nicht teilen. Dass er regelmäßig ins Fitness-Studio ging, war ihr auch ein Dorn in Auge. Man wusste ja, was das so "abging", zwischen den Leutchen. Wenn sie nach dem Training dort duschen gingen, und so. Vielleicht ging er nicht in erster Linie zum Training dorthin? "Haarfarbe schwarz, Augenfarbe blau, Größe 1,80 m, trainierte Figur, Schnauzer". Soweit die Angaben zur äußeren Erscheinung auf seinem Online-Steckbrief. Dass ihr das nicht früher bewusst geworden war! Wer so aussah und zudem noch zweimal wöchentlich ins Fitness-Studio ging, war doch klar, was der von ihr wollte. Ne schnelle Nummer, mehr nicht!

Die Rathausuhr schlug an. 16 Uhr! Gabi erstarrte. Sie warf einen finsteren Blick hinüber zum Stadtcafe. Dann machte sie sich entschlossen auf den Weg - nach Hause. Erleichtert. `Puh...Noch mal gerade so die Kurve gekriegt!´.
 



 
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