Willibald
Mitglied
Supervision I: Eros
Freischwebendes Einfühlen
„Liebe Kollegen”, sagte der leitende Stationsarzt Severin Melzer und blickte in die Runde. "Der zweite Teil unserer heutigen Supervisions-Sitzung ist eine kleine Premiere. Sie erinnern sich. Ich hatte darum gebeten, jeder möge ein paar Gedanken oder Bilder oder Geschichten zum Thema „Eros” notieren und dann hier vortragen.
Keine Aussprache zu Anliegen aus dem Arbeitsalltag, keine fachliche Auseinandersetzung über die praktische Arbeit. Natürlich ist man als Psychiater Experte im Ausleuchten des eigenen wie des fremden Bewusstseins. Und doch glaube ich, dass wir eines unserer wichtigsten Handwerkszeuge, also das sensible, das freischwebende, das aufmerksame Einfühlen und schließlich auch das behutsame Deuten .... immer wieder neu .... pflegen sollten, dass wir unsere Sextanten, unser Stethoskop sozusagen justieren und applizieren ....., dass Poesie …"
„Darf ich etwas Prosa bringen?”, meldete sich Stationsärztin Gerda Wolf zu Wort: „Erotik beginnt im Kopf. Das Gehirn sendet Neurotransmitter, Dopamin und Endorphin ....”
„Ich darf ergänzen”, Manuel Sandmann - anscheinend gelangweilt - hob den Kopf vom Schreibblock: „Endorphin, die körpereigene Droge, morphinverwandt, bringt Euphorie, gleichzeitig deaktiviert sie den rechten präfrontalen Kortex, der bei Depressiven überaktiv ist. Parallel dazu wird durch Dopamin und Phenylethylamin - chemisch verwandt mit Amphetaminen - das Gefühl von Situationsmächtigkeit erzeugt.”
Sven Fürst war nicht zu bremsen, er freute sich darauf, Severin Melzer scheinbar zu unterstützen: „Reduktionismus und fachliche Scheuklappen beim Kollegen Sandmann! Es geht hier doch um imaginierende Texte und nicht um einen Extrakt aus Fachzeitschriften zum Thema Chemotaktil-Neuronale Prozesse und erotisches Suchverhalten.” "Chemo-Taktil? Was soll das denn sein?" Sandmann war fröhlich, die peinlich-bräsige Poesiephase ließ sich offensichtlich verzögern oder gar verhindern.
Hauskater "Katzenfürst"
Die Tür ging auf, Oberarzt Anderson, schlank, etwa neunundfünzig Jahre alt, setzte sich auf den freien Stuhl neben Gerda Wolf, nahm das entstandene Schweigen in der Runde als Verlegenheitspause und Respektsbezeugung. Er räusperte sich, wobei er einen Zettel entfaltete: „Bitte um Entschuldigung für die klei .., die große Verspätung. Ich habe da ein kleines Kritzelgedicht. Zum Thema Eros. In einer Ruheminute hingeworfen. Wann kann ich es präsentieren?”
„Jetzt”, entgegnete Severin Melzer und fuhr sich über sein kurzes Haar, das danach wieder senkrecht vom Kopfe abstand.
„Ein launiger Text, es geht um unseren Hauskater ´Katzenfürst` .... Fünf Strophen ....”
„Ach”, Gerda Wolf lächelte, „das sicher. Stimulierung. Situationsmächtigkeit. Grandiosität. Ein Kampfspiel, aber ein Kampfspiel ohne Sieger.”
Oberarzt Anderson lächelte zustimmend: „Und ohne Verlierer. Eros ist es allenfalls, den man als Sieger bezeichnen könnte.” Dann klopfte er taktgenau viermal mit dem Knöchel auf die Schreibplatte: "Verlierer keiner. Welch ein Sieg!"
Fürst rieb sein Kinn, nickte erst Anderson, dann Sandmann zu: "Habe einen Haiku notiert:
Fürst der Vögel
Als man sich erhoben hatte und zum Gehen anschickte, traten Sven Fürst und Sandmann in eine Nische am Fenster. Sie warteten, bis sie allein waren.
„Ho, Sven, dein Haiku war gut.”
„Deiner auch. Und soll noch mal einer sagen, unsere Session bringe keine Erkenntnisse.”
„Aha?”
„Unsere Gerda heißt Lupus. Dann ein Gedicht über den Katzenfürst von unserem vitalen Senior, Felis Dux Vitalis. Präsentiert in der Runde. Alles da: Dominanzverhalten, Demutsgesten, Aggression, Übersprunghandlungen, latente Drohgesten, Balzen, die ganze Palette. Wenn wir uns von Tieren irgendwie unterscheiden, dann durch unsere Fähigkeit, sowas in Bildern zu modellieren.”
„Und über uns zu lachen.”
Sandmann tippte mit dem Zeigefinger viermal im Takt gegen die Brust von Fürst:
„Du-Stelz-vo-gel!”
„Inkorrekt. Ich gleiche dem Adler.”
„Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Fürst der Vögel.”
„Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”
Sie verbeugten sich lächelnd voreinander.
"Also dann!"
"Kenn da übrigens ein Eros-Gedicht. Ein ernsthaftes. Kalkuliert, klug, mitreißend:
Freischwebendes Einfühlen
„Liebe Kollegen”, sagte der leitende Stationsarzt Severin Melzer und blickte in die Runde. "Der zweite Teil unserer heutigen Supervisions-Sitzung ist eine kleine Premiere. Sie erinnern sich. Ich hatte darum gebeten, jeder möge ein paar Gedanken oder Bilder oder Geschichten zum Thema „Eros” notieren und dann hier vortragen.
Keine Aussprache zu Anliegen aus dem Arbeitsalltag, keine fachliche Auseinandersetzung über die praktische Arbeit. Natürlich ist man als Psychiater Experte im Ausleuchten des eigenen wie des fremden Bewusstseins. Und doch glaube ich, dass wir eines unserer wichtigsten Handwerkszeuge, also das sensible, das freischwebende, das aufmerksame Einfühlen und schließlich auch das behutsame Deuten .... immer wieder neu .... pflegen sollten, dass wir unsere Sextanten, unser Stethoskop sozusagen justieren und applizieren ....., dass Poesie …"
„Darf ich etwas Prosa bringen?”, meldete sich Stationsärztin Gerda Wolf zu Wort: „Erotik beginnt im Kopf. Das Gehirn sendet Neurotransmitter, Dopamin und Endorphin ....”
„Ich darf ergänzen”, Manuel Sandmann - anscheinend gelangweilt - hob den Kopf vom Schreibblock: „Endorphin, die körpereigene Droge, morphinverwandt, bringt Euphorie, gleichzeitig deaktiviert sie den rechten präfrontalen Kortex, der bei Depressiven überaktiv ist. Parallel dazu wird durch Dopamin und Phenylethylamin - chemisch verwandt mit Amphetaminen - das Gefühl von Situationsmächtigkeit erzeugt.”
Sven Fürst war nicht zu bremsen, er freute sich darauf, Severin Melzer scheinbar zu unterstützen: „Reduktionismus und fachliche Scheuklappen beim Kollegen Sandmann! Es geht hier doch um imaginierende Texte und nicht um einen Extrakt aus Fachzeitschriften zum Thema Chemotaktil-Neuronale Prozesse und erotisches Suchverhalten.” "Chemo-Taktil? Was soll das denn sein?" Sandmann war fröhlich, die peinlich-bräsige Poesiephase ließ sich offensichtlich verzögern oder gar verhindern.
Hauskater "Katzenfürst"
Die Tür ging auf, Oberarzt Anderson, schlank, etwa neunundfünzig Jahre alt, setzte sich auf den freien Stuhl neben Gerda Wolf, nahm das entstandene Schweigen in der Runde als Verlegenheitspause und Respektsbezeugung. Er räusperte sich, wobei er einen Zettel entfaltete: „Bitte um Entschuldigung für die klei .., die große Verspätung. Ich habe da ein kleines Kritzelgedicht. Zum Thema Eros. In einer Ruheminute hingeworfen. Wann kann ich es präsentieren?”
„Jetzt”, entgegnete Severin Melzer und fuhr sich über sein kurzes Haar, das danach wieder senkrecht vom Kopfe abstand.
„Ein launiger Text, es geht um unseren Hauskater ´Katzenfürst` .... Fünf Strophen ....”
- Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie. Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar.
Geschmeidig, schlau … und und ..... und und ....
„Kätzle, küss mich auf den Mund!”
Bald schon tobt der Katzen Krieg,
Verlierer: Keiner. Welch ein Sieg!
„Ach”, Gerda Wolf lächelte, „das sicher. Stimulierung. Situationsmächtigkeit. Grandiosität. Ein Kampfspiel, aber ein Kampfspiel ohne Sieger.”
Oberarzt Anderson lächelte zustimmend: „Und ohne Verlierer. Eros ist es allenfalls, den man als Sieger bezeichnen könnte.” Dann klopfte er taktgenau viermal mit dem Knöchel auf die Schreibplatte: "Verlierer keiner. Welch ein Sieg!"
Fürst rieb sein Kinn, nickte erst Anderson, dann Sandmann zu: "Habe einen Haiku notiert:
- Der Kranich schreitet,
Im Sonnenschein sich plusternd,
Das dünne Eis ab."
- Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."
Fürst der Vögel
Als man sich erhoben hatte und zum Gehen anschickte, traten Sven Fürst und Sandmann in eine Nische am Fenster. Sie warteten, bis sie allein waren.
„Ho, Sven, dein Haiku war gut.”
„Deiner auch. Und soll noch mal einer sagen, unsere Session bringe keine Erkenntnisse.”
„Aha?”
„Unsere Gerda heißt Lupus. Dann ein Gedicht über den Katzenfürst von unserem vitalen Senior, Felis Dux Vitalis. Präsentiert in der Runde. Alles da: Dominanzverhalten, Demutsgesten, Aggression, Übersprunghandlungen, latente Drohgesten, Balzen, die ganze Palette. Wenn wir uns von Tieren irgendwie unterscheiden, dann durch unsere Fähigkeit, sowas in Bildern zu modellieren.”
„Und über uns zu lachen.”
Sandmann tippte mit dem Zeigefinger viermal im Takt gegen die Brust von Fürst:
„Du-Stelz-vo-gel!”
„Inkorrekt. Ich gleiche dem Adler.”
„Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Fürst der Vögel.”
„Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”
Sie verbeugten sich lächelnd voreinander.
"Also dann!"
"Kenn da übrigens ein Eros-Gedicht. Ein ernsthaftes. Kalkuliert, klug, mitreißend:
- Des Weibes Leib ist ein Gedicht,
Das Gott der Herr geschrieben
Ins große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.
Das ist kein abstraktes Begriffspoem!
Das Lied hat Fleisch und Rippen,
Hat Hand und Fuß; es lacht und küßt
Mit schöngereimten Lippen.
- Lobsingen will ich dir, o Herr,
Und dich im Staub anbeten!
Wir sind nur Stümper gegen dich,
Den himmlischen Poeten."