Lieber Ralf,
der Titel hat mich neugierig gemacht. Was hat ein Ungeborenes zu sagen? Ich dachte, dass es sich um eine Abtreibung handeln könnte. Doch, es ist ganz etwas anderes.
Der Text ist telegrammstilartig, kurz und knapp geschrieben. Erschütternde Aussagen werden nüchtern, präzise und unbeteiligt dargestellt, um den nötigen Abstand zu bewahren.
1955
Ein Aussteigen zweier junger Männer wird verhindert – Schicksal?
Sie leben schweigend weiter
Was für ein Satz! Enttäuschung, verpasste Chance, im alten Lebensrhythmus weiter machen müssen.
Einer von ihnen wird mein Vater werden
Eine großartige Idee, auf diese Art und Weise den zukünftigen Vater vorzustellen.
1963
Eine kurze Erläuterung über die OP der siebenjährigen Schwester. Alles scheint in Ordnung. Doch dann verstirbt sie, wegen einer Fehlbehandlung des Anästhesisten.
Meine Eltern haben den Tod mit dem Foto der Schwester in den Wohnzimmerschrank gestellt
Sie können den schweren Verlust nur durch Ausblenden bewältigen.
"
Ein Kind muss her" würde ich erst hier einsetzen.
Während eines warmen Sommerabends an der See, mit romantischem Flair, wird ein neuer Erdenbürger gezeugt, voller Liebe und Sehnsucht nach einem Kind.
1967
Die Eltern kommen gerade so über die Runden, ein weiteres Kind ist nicht tragbar. Sie haben ja auch ihren Stammhalter, der ihr ganzer Stolz ist. Trotzdem verhüten sie nicht.
Und so bahne ich mir den Weg.
Ein Fehler im Abzählreim fruchtbarer und unfruchtbarer Tage, und ein bleicher Vollmond sind meine Geburtshelfer.
Ein Kind, nicht erwünscht, ein Versehen – bleicher Vollmond – Kälte, Lieblosigkeit.
Ich bin zutiefst berührt und beeindruckt von der Art, wie du die Geschichte präsentierst, lieber Ralf.
Ganz lieben Gruß,
Estrella