Teil 11 * Infostand

Ein dumpf klatschendes Geräusch und ein stechender Geruch. Manfred fasste sich ans Gesicht und ertastete eine eklig weiche, warme Masse. Jemand hatte ihn mit Hundekot beworfen! »Das kam von drüben, das muss einer aus dem Arbeits-Center gewesen sein«, sagte Carla, die Ortsvorsitzende der Ökolibs.
»Iiiih!« Vor Ekel würgend wischte sich Manfred den Kot aus dem Gesicht und prompt fiel er auf die auf dem Tisch ausgelegten Prospekte und Flugblätter. Wie jeden Samstag machte der Ortsverband der Ökolibs einen Infostand. Da Manfred den Ökolibs seine Karriere verdankte, musste er sich auch an der Parteiarbeit beteiligen und bei Ständen und Veranstaltungen mitmachen. Bisher hatte er dabei nie Schwierigkeiten gehabt und das Arbeits-Center auf der anderen Straßenseite nur selten bewusst wahrgenommen. Wozu auch? Schließlich war durch die Privatisierung der Vermittlung und der Auszahlung von Arbeitslosengeld die Arbeitslosenquote in Deutschland auf Null Prozent gesunken, ein Wert, den sonst nur Nordkorea erreichte. Von Montag bis Sonntag standen lange Schlangen von Arbeitssuchenden vor den Centern, um einen Job zu bekommen oder bei vergeblichem Warten um 18 Uhr ihre Tagesunterstützung von 20 Euro zu erhalten. Die Privatisierung der Arbeitsvermittlung wurde von vielen Ökoliberalen als einer ihrer größten Erfolge in der Koalition mit der Partei Neue Mitte betrachtet. Manfred hatte daran Zweifel, doch er zog es vor, sie für sich zu behalten. Bei den Ökolibs wurde Kritik an der von ihnen gestellten Arbeitsministerin Bergengruen nicht gern gesehen. Dabei wussten im Regierungsviertel alle, dass Frau Bergengruens »Arbeitsreform« von der Berthold-Stiftung stammte, deren Mitarbeiter schon am Vorläufer »Hartz IV« mitgeschrieben hatten. »Dafür wird eure Bergengruen hängen!«, hatte Manfreds Freund Karl-Arnold nach einem Glas Bier zu viel in der »Bundesbar« geknurrt. »Zwanzig Millionen Deutsche hat die Olle zu Tagelöhnern gemacht! Die Deutschen lassen sich nicht alles gefallen!«
»Wenn der Druck zu groß wird, tritt sie zurück«, hatte Manfred geflüstert. »Der Posten als Beirat bei Berthold ist ihr eh lieber als das Arbeitsministerium. Aber das hast du nicht von mir. Ich kümmere mich nicht um Soziales, ich mache Außenpolitik.«
»Irgendwann fliegt euch die Scheiße ins Gesicht und ihr könnt euch nicht mehr rechtzeitig ducken«, hatte Karl-Arnold daraufhin gelallt.
Nun war eingetreten, was Manfreds konservativer Freund im Suff von sich gegeben hatte.
Wortwörtlich.
»Hier.« Carla reichte Manfred einen nassen, nicht sehr sauberen Putzlappen. Angewidert rieb er ihn über sein Gesicht, wrang ihn in einem Eimer voll Wasser aus und säuberte den Kragen seines roten Jacketts. Carla warf derweil die vom Kot beschmutzten Prospekte und Flugblätter in einen Papierkorb und legte Werbematerial auf die leeren Stellen.
»Das könnt ihr in Zukunft öfters machen.«
Ein ältlicher Mann mit zu einem Zopf gebundenen ergrauten Haaren stand vor ihnen. Er trug die dunkelblaue Jacke mit der Aufschrift »AC« am Kragen und auf dem Rücken, die ihn als Angestellten des Arbeits-Centers kennzeichnete. An seiner Seite war ein großer schwarzer Hund, dessen Kopf er tätschelte. »Saddam musste mal und da dachte ich, ehe jemand Unschuldiges in sein Geschäft tritt, kriegen es die, die es verdient haben.« Das sagte er ganz ruhig, um dann zu explodieren: »Wisst ihr Schweine, was es heißt, ein ACler zu sein?! Jeden Morgen um Acht da sein und warten, warten, warten. Bis 18 Uhr, zehn Stunden warten!«
»Aber Sie bekommen doch«, begann Carla, doch er ließ sie nicht ausreden: »Arbeit? Wissen Sie, wie oft ich im letzten Monat einen Job hatte? Dreimal! Und wissen Sie, wie viel ich dabei verdient habe?«
»Nein, aber Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«
»Beschissene 90 Euro für zusammen zwanzig Stunden Arbeit. Wissen Sie, was das im Monat macht?«
»690 Euro.«
»Ja, 690 beschissene Euro für dreihundert Stunden Warten und Arbeiten. Davon gehen noch Miete, M-Bahn, Selbstbehalt und Kopfpauschale ab. Bleiben nicht einmal dreihundert Euro, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Und ich hatte auch schon Monate, wo ich gar nichts gekriegt habe. Tagaus tagein warten, warten, warten, warten.« Plötzlich ganz ruhig fragte er: »Warum geben Sie uns das Geld nicht so? Wir bleiben zuhause, kriegen sechshundert Euro und man ruft uns auf dem Mobil an, wenn man Arbeit für uns hat.«
Das hatte auch Manfred vorgeschlagen: Der Staat füttert die zahllosen Menschen, die von der immer stärker rationalisierten Wirtschaft nicht mehr gebraucht werden, durch und lässt sie in Ruhe. »So haben das eine Zeitlang die Araber gemacht, damit es nicht wieder Aufruhr wie 2011 gibt«, hatte er argumentiert. »Sie haben sogar.« »Du sagst es: eine Zeitlang«, hatte Carla entgegnet. »Sie mussten es wieder einstellen, weil es nicht mehr finanzierbar war, als der Ölpreis so niedrig war.«
»Wir können es aber finanzieren, wenn.« »Es ist ordnungspolitisch nicht sinnvoll!«, hatte Carla ihn unterbrochen. Sie gehörte zu dem Flügel bei den Ökolibs, der wie ihre Koalitionspartner von der Neuen Mitte auf »Integration in den Arbeitsmarkt« bestanden hatte.
So antwortete sie jetzt dem ACler: »Sie sind Angestellter des ACs und müssen zu Ihrer Arbeit erscheinen, wie jeder andere Angestellte auch.«
»Wir sind Angestellte?! Ich sag dir mal, was wir sind: Dreck, mit dem man es machen kann! Dreck, den man bis aufs Blut schikaniert. Ihr Schweine denkt doch, wir wehren uns nicht und uns könnt ihr verarschen.«
So dachten alle im Regierungsviertel über die einfachen Menschen, doch außer Karl-Arnold im Suff gab es keiner zu. Auch Carla leugnete es standhaft.
»So beruhigen Sie sich«, begann sie, doch er tobte nur noch mehr: »Ich soll mich beruhigen? Du Schlampe hast wohl den Arsch auf oder dir haben sie voll ins Gehirn geschissen!«
»Wenn Sie mich weiter beleidigen, muss ich die Polizei rufen und Sie zur Anzeige bringen.« Carla schaltete von »Argumentieren« auf »Einschüchtern« um und schloss mit dem Rhetorikbaustein »Steuerzahler«: »Es geht nicht an, dass sich einige der Solidargemeinschaft entziehen und auf Kosten hart arbeitender Steuerzahler leben.« Nach Beifall unter den Passanten heischend schaute sie sich um und erblasste. Um den Infostand hatte sich ein Kreis von Menschen gebildet, die sie aus stechenden Augen anstierten. Ein hochaufgeschossener Mann mit sandfarbenen Haaren und Vollbart lallte: »Quetzalcoatlus zahlt keine Steuern.«
»Isaak, bist du es?«, fragte Manfred.
»Isaak« war eine traurige Berühmtheit in der Berliner M-Bahn: ein psychisch gestörter Mann, der die Zugpassagiere mit laut heraus geschrienen Zitaten aus der Bibel belästigte. Manfred gab ihm aus Mitleid und damit er ruhig wurde ab und zu einige Euro.
»Isaak ist tot«, grölte der Mann. »Isaak ist zu seinem falschen Gott gegangen. Ich aber lebe, ich habe den lebendigen Gott gesehen: Quetzalcoatlus! Die Große Schlange!« Er legte vertraulich die Hand auf Manfreds Schulter: »Du, du bist ein guter Mensch, hast mir immer Geld gegeben als ich noch wahnsinnig und Isaak war. Aber sie«, er deutete auf Carla, »ist böse. Sie wird zwischen den Kiefern der Großen Schlange enden!«
Carla lachte gekünstelt: »Manfred, was kennst du nur für Verrückte!«
Manfred war nicht nach Lachen zumute. Er dachte an das Graffiti einer Schlange, welche die Strichzeichnung eines Menschen zwischen ihren Kiefern hielt.
»Lass uns abbauen«, sagte er. »Hier überzeugen wir eh keinen mehr.«
»Ihr habt schon lange keinen mehr überzeugt«, sagte der ACler. »Höchste Zeit, dass ihr abhaut!«
»Nimm SPEID, mein Junge.« Der ehemalige Isaak legte den Arm um Manfred und drückte ihm einige purpurrote Kapseln in die Hand. Um ihn zufrieden zu stellen und los zu werden, sagte Manfred: »Danke«, und steckte die Kapseln in eine Jackentasche.
Unter den hasserfüllten Blicken der Umstehenden verpackten Manfred und Carla ihr Informationsmaterial, klappten den Tisch, die Plakatständer und den grün-gelben Sonnenschirm zusammen und verstauten alles in Carlas geräumigem Auto. In Manfred verkrampfte sich alles, seine Beine waren wie Gummi und seine Hände zitterten so stark, dass er beim Einladen den Tisch losließ. Die Umstehenden klatschten höhnisch Beifall und der ACler meinte: »Zum Arbeiten bist du nicht zu gebrauchen.«
»Nee, isser nich«, höhnte eine Nachbarin von Manfred, die er vom Sehen im Treppenhaus kannte. »Dafür isser Staatssekretär geworden.«
Manfred hob den Tisch wieder hoch und wuchtete ihn in Carlas Wagen. Nur weg hier! Carla fuhr los, doch nun trommelten und klopften die Menschen auf das Wagendach und schlugen gegen die Scheiben. Entschlossen drückte sie das Gaspedal durch und die Menschen sprangen zur Seite. Ein Stein trudelte hinter ihnen her, verfehlte aber das Auto. »So, das ist überstanden«, sagte sie und sah Manfred triumphierend an. »Nächste Woche machen wir Ausschank. Ein bisschen Zwiebelkuchen und Federweißer und alle sind wieder ruhig.«
»Du machst es dir zu einfach«, entgegnete Manfred. »Mit Aldidl-Wein beruhigst du die nicht mehr. Die greifen jetzt zu härteren Sachen.« Er langte in seine Jackentasche, holte eine SPEID-Kapsel heraus und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Um so besser. Dann zerfrisst die Droge ihnen ihr bisschen Hirn und die liebe Seele hat Ruh.«
»Du bist zynisch.«
»Nein, Realistin.«
»Ich will aussteigen!«
Carla setzte zu einer Entgegnung an, schwieg aber, als sie Manfreds entschlossenen Blick sah. Sie hielt und er stieg aus dem Auto, froh, von ihr weg zu sein.
 



 
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