Teil 12 * SPEID!

»Ich kann nicht. Du weißt doch, dass ich am Wochenende immer einen Kunden habe und er zahlt gut.« »Ich zahle besser!«, unterbrach Manfred Sina, aber sie lachte nur: »Du musst dich schon gedulden. Ich kann ihn nicht versetzen, dann kommt er nie wieder.«
»Ich halte das nicht mehr aus!«
»Der Staatssekretär Manfred Limberg hält es nicht mehr aus! Was soll da der Rest der Menschheit sagen, der nicht Staatssekretär ist? Du bist ein!«, schimpfte Sina. Das Mobil flog gegen die Wand. Das Gehäuse sprang auf und Sina verstummte. Kaputt. Kaputt, so wie er selbst.
Manfred trug noch immer das notdürftig vom Hundekot gesäuberte Jackett, das er in die Reinigung bringen musste. Er griff in die Taschen, um sie zu leeren und holte dabei neben seinem Zweitmobil die SPEID-Kapseln heraus. Wider besseres Wissen rief er Sina an und ihre Stimme vom Anrufbeantworter erklärte: »Ich kann zur Zeit keine Anrufe entgegennehmen.«
Vorsichtig legte er das Mobil auf den Tisch in der Diele, neben die SPEID-Kapseln. Ob er?? Es war sowieso alles egal! Er musste sich an einem Infostand mit Kot bewerfen lassen, damit er seinen Posten behielt! Keine Parteiarbeit, kein Staatssekretär und bald stände er auch in der Schlange vor dem AC! Er war nicht besser als die SPEIDlinge, da konnte er auch SPEID einschmeißen! Ehe er es sich anders überlegen konnte, ließ er eine Kapsel zwischen seine Lippen gleiten. Die Farben! Waren die Wände seiner Diele wirklich feuerrot und leuchtete die kleine Lampe mit dem eleganten Schirm so grell und blauweiß? Der Teppich unter seinen Füßen explodierte rot, orange und elektrischblau und jedes Mal, wenn er hinsah, waren die Farben anders. Etwas dröhnte: Bomm! Bommm! Bomm! Bomm! Seine Uhr war eine teure mechanische Uhr von LeParisot, ein Symbol gediegener Bürgerlichkeit, das im Regierungsviertel Pflicht war. Nun allerdings war aus ihrem kaum hörbaren Ticken ein unerträglicher Lärm geworden. Hastig zog Manfred sie vom Handgelenk und merkte erst jetzt, dass sein Jackett rot wie Blut war. Nur weg damit! Das blaue Hemd darunter anzusehen, war, als ob Messer in seine Augen stachen und er riss es sich vom Leib. Wie das Unterhemd kratzte! Seine Hose fühlte sich an seinen Beinen wie schwarzer, öliger Teer an. Alles runter, bis er nackt und frei war! Frei! Frei! In der Wohnung wurde es zu eng. Bewegten sich nicht ihre Wände auf ihn zu? Er musste raus, laufen und schreien!
Wie von selbst trugen ihn seine Füße die Treppe hinunter und durch den Hauseingang auf die Straße, immer weiter, schnell wie der Wind. Giftgrün stachen Bäume, Büsche und Gras in seine Augen, grau und purpurn loderten der Asphalt und der wolkenverhangene Himmel. Die Karosserien der Autos und die Kleider der Passanten stanzten bunte Lichtkreise in seine Augen. Hupen dröhnten und Fußgänger schrien. Der Lärm einer Explosion erwies sich als das Bellen eines sandfarbenen Hundes, dessen Fell heller als die Sonne leuchtete.

»JAAAAAHHHH!!!!!«

Manfreds Stimme hallte durch die Welt.

»JAAAAAAHHHHHH!!!!!!«

Es tat so gut, selbst zu schreien und zu lärmen und er konnte nicht mehr damit aufhören.

»ICH BIN DAS LIIIIICHT DER WEEEEELT!!!!!«
»ICH BIIIIIIN DAS LIIIIIICHT!!!!!!«
»DAS LIIIICHTTT DEERRR WEEEELTTT!!!!!!!«
»ICH BIN!«
»ICH BIN!«
»ICH BIN!«
»ICH BIN!«
»ICH BIN!«
»ICH BIN!«

Laut schreiend rannte er, rannte, rannte, rannte! Farben, Formen und Laute verschwammen zu grellen Linien an den Wänden eines unendlichen Tunnels. Zu spät begriff er, dass das hohe schrille Heulen nicht aus seinem Mund kam, sondern aus der Hupe eines Kleintransporters. Hoch wie ein Berg und donnernd und Feuer speiend wie ein Vulkan raste das Auto auf ihn zu. Der Tunnel aus Licht, Farbe und Lärm explodierte in blendender Schwärze. Wieder der Tunnel, nein, ein Korridor. Die Farben waren jetzt gedämpft, schmutziges Grau und zu hören gab es nur unterdrücktes Schluchzen.
»Hören Sie mich?«
» ja «, hauchte Manfred.
»Sie sind in der Notaufnahme. Sie hatten einen Unfall. Sie trugen keine Kleider und wir fanden bei Ihnen keine Ausweiskarten.«
»Mein Name ist Manfred Limberg. Ich bin im Norddeutschen Krankenschutz.«
Seine private Krankenversicherung zu nennen, hatte Manfred alle Kraft gekostet und erschöpft sank er in die Matratze. Nur noch schlafen! Der Pfleger rüttelte ihn am Arm: »Bei Ihnen wurde auch keine Versicherungskarte gefunden und Geld für den Selbstbehalt auch nicht. Können Sie laufen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog der Pfleger Manfred aus dem Bett und stellte ihn auf die Füße. Erst jetzt begriff Manfred, dass um seinen Kopf ein billiger Verband aus Stoff gewickelt war, wie ihn nur noch die öffentliche Notversorgung oder McHealth benutzten. Wie war er hierher gekommen?
Er war nackt, hastig zog er die Decke von der Matratze und wickelte sie sich um den Leib.
»Na, das geht doch schon wieder ganz gut«, sagte der Pfleger. »Wenn Sie laufen können, muss ich Sie bitten, zu gehen. Ohne Geld oder Versicherungskarte können wir nichts für Sie tun.«
»Was ist mit mir passiert?«
»Woher soll ich das wissen? Sie wurden nackt und mit einer Platzwunde am Kopf hier eingeliefert. Vielleicht SPEID, so was gibt es jetzt immer öfter.«
Dass immer mehr SPEIDlinge durch die Straßen rannten, wusste Manfred auch. Doch das war etwas für die Armen und Verzweifelten, nicht für ihn. Nur stellte er fest, dass in seinem Gedächtnis die letzten Stunden fehlten. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, wie er mit Carla am Infostand unweit vom AC gestanden hatte. Die blöde Carla, die nach außen so tat, als wären die Ökolibs noch immer so engagiert wie früher und dabei jeden Mist nachplapperte, den Kanzler Etterling vorbetete.
»Haben Sie nicht was zum Anziehen für mich?«
»Mal sehen.«
Der Pfleger ging um eine Ecke und kam mit einer roten Hose und einem blauen T-Shirt zurück. Beides passte Manfred nicht und er sah darin wie ein verwahrloster ACler aus, aber das war egal. Nur weg und nach Hause! Wusste er seinen Notcode noch? Ja, MM43 cq34 AMl1 90b2, so musste er keinen Schlüsseldienst holen.
Es war dunkel und regnete. Manfred zog sich die Kapuze des T-Shirts über den Kopf, um seinen Verband zu schützen. Sein Weg führte ihn am Arbeits-Center vorbei, das nach 18 Uhr gewöhnlich menschenleer und verlassen war. Jetzt war es von einer Menge umringt, die Flüche und Verwünschungen ausstieß oder in einem monotonen Singsang verfiel: »Quet-zal-co-at-lus! Quet-zal-co-at-lus! Quet-zal-co-at-lus! Quet-zal-co-at-lus! Quet-zal-co-at-lus!«
Schon wieder Quetzalcoatlus!
Ein Mann legte den Kopf in den Nacken, riss den Mund auf und tat etwas hinein. Vermutlich schluckte er eine Kapsel SPEID, so wie Manfred es heute Nachmittag getan hatte. Heute Nachmittag? Ach du Scheiße! Er war nackt und schreiend durch die Straßen gerannt und vermutlich mit einem Auto zusammengeknallt. Dabei hatte er gleich doppelt Glück gehabt. Beim Unfall hatte er nur eine Platzwunde und schlimmstenfalls eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen und der Schock hatte das SPEID neutralisiert. Panzerglas vibrierte und Sirenen heulten, als einer der Umstehenden einen Stein gegen ein Fenster des Arbeits-Centers warf. Mehr Steine prasselten gegen das Gebäude, ohne Schaden anzurichten. Jemand goss Benzin gegen seine Fassade und zündete es an, doch die unter der Dachtraufe angebrachte Sprinkleranlage erstickte die Flammen.
Aussichtslos, dachte Manfred. Etterling, der sich selbst als »Zuchtmeister« der Deutschen verstand, rechnete mit Aufständen gegen seine »Sparpolitik« und wünschte sie insgeheim sogar herbei. Selbstverständlich, um sie niederzuschlagen und um noch autoritärer über ein gedemütigtes und für die Zweite Stufe der Globalisierung tauglich gemachtes Volk zu herrschen. Da man im Regierungsviertel an der Zuverlässigkeit der regulären Polizei zweifelte, gab es für den Aufstandsfall schon seit Anfang des 21. Jahrhunderts eine Spezialeinheit, nach ihrer Dienstkleidung als Schwarze Polizei tituliert.
Ja, Schwarz ist immer gut, dachte Manfred bitter.
Ein schwarzer Mannschaftswagen dieser Truppe raste auf das Arbeits-Center zu und die Menschen liefen auseinander, um sich um den Wagen zu einem Kreis zu formieren. Alle sangen »Quet-zal-co-at-lus! Gro-ße Schlan-ge! Quet-zal-co-at-lus! Gro-ße Schlan-ge!«
Ganz eng standen die Menschen um den Transporter und schlugen auf seine Karosserie und seine Panzerglasscheiben. Ehe der Wagen wieder anfahren konnte, hoben sie ihn hoch, immer höher und höher. Jetzt sah Manfred Stangen, an denen viele Menschen anpackten, um die Last des schweren Fahrzeugs zu verteilen. »Eins, Zwei, DREI!«, schrien sie und bei »DREI« schleuderten sie das Polizeiauto wie einen Rammbock gegen das Tor des Arbeitscenters. Die Torflügel verbogen sich und wurden aus den Angeln gerissen. Nun befreiten sich die Sicherheitskräfte aus ihrem demolierten Fahrzeug und alle rannten davon. Auch Manfred lief, um nicht die Nacht in einer der kurz AFU genannten Aufruhrbekämpfungszentralen verbringen zu müssen.
Nach einigen Dutzenden Metern konnte er seiner Neugier nicht widerstehen, stellte sich hinter eine grell leuchtende Litfaßsäule und sah zurück zum Arbeits-Center. Die Sicherheitskräfte hatten ihren Wagen aus dem zerstörten Tor gezogen und daneben hielt ein weiterer Transporter, aus dem noch mehr Schwarze Polizisten stiegen. Manfred sah weder ACler noch andere Passanten. Ein Schwarzer Polizist sprach in sein Dienstmobil und auch, ohne ihn hören zu können wusste Manfred, dass er seinen Vorgesetzten die erfolgreiche Niederschlagung eines Aufruhrs meldete.
»Möchtest du SPEID?«, fragte ein Jugendlicher, den Manfred auf höchstens sechzehn Jahre schätzte. Er war schmal, mit brauner Haut und tiefschwarzen Haaren. Er sah aus wie jemand aus der neuen Generation perspektivloser arabischer Jugendlicher, die nach dem Scheitern der arabischen Revolution ihre Heimat verließen, um sich woanders auf der Welt durchzuschlagen. »Ist umsonst.« Der Junge lächelte. »Von der Großen Schlange. Die ist nicht wie Gott, aber sie hat Geld. Viel Geld. Schau mal.«
Er öffnete seine Lederjacke und aus der Innentasche lugte ein Bündel mit Euroscheinen hervor.
»Du machst ein Gesicht, als hättest du nie im Leben Geld gesehen.« Der Junge lachte. »Komm zur Großen Schlange, dann siehst du noch viel mehr. Und SPEID, so viel du willst.«
»Danke, aber SPEID habe ich selbst.«
»Dann nimm wenigstens fünfzig Euro.«
Manfred wollte schon ablehnen, weil er als Unterstaatssekretär nicht auf Almosen von Verrückten angewiesen war, doch dann fiel ihm ein, dass er weder Geld noch Karte bei sich hatte. So nahm er einen Euroschein: »Danke, ich kann es brauchen.«
Der Junge machte eine Kopfbewegung zum Arbeits-Center, wo noch immer die Schwarzen Polizisten standen: »Das sind Idioten. Sie bilden sich ein, sie hätten gewonnen, dabei haben wir die voll verarscht. Warte mal, morgen geht es wieder los!«
Allmählich glaubte Manfred das auch. Aber? »Sag mal, glaubst du an Gott?«
»Selbstverständlich glaube ich an Gott!«, antwortete der Junge. Manfred bohrte weiter: »Wenn du an den einzigen und wahren Gott glaubst, wie kannst du dann einem Götzen dienen?«
»Die Große Schlange ist kein Götze! Sie ist auch nicht Gott. Sie ist Gottes Werkzeug, um die Bösen zu strafen und die Gerechten zu belohnen.« Er nahm sein Mobil und hielt den kleinen Monitor dicht vor Manfreds Gesicht. Das rundliche Gesicht eines Indios in schwarzer Soutane erschien. Der Priester führte das aus, was der Jugendliche angedeutet hatte. Die Große Schlange dürfe von den Gläubigen nicht verehrt werden und ein Christ dürfe auch nicht an den Kulthandlungen der »Quetzals« teilnehmen oder sich von ihnen zur Sünde verleiten lassen. Aber das Kommen der Großen Schlange sei Ausdruck von Gottes tiefen Zorn über eine Menschheit, die sich ihrer Bestimmung im Kosmos verweigerte, und ihre Mächtigen, die von Dummheit und Gier getrieben würden.
Der Jugendliche steckte das Mobil weg und Manfred fluchte innerlich. Scheiß Pfaffen! Sie hatten sich als Bollwerk gegen den Islam aufgespielt und hetzten zusammen mit den Islamisten und reaktionären Juden gegen die kläglichen Reste der Homobewegung. Nun hatte ein katholischer Priester sogar die Dreistigkeit, den übelsten antichristlichen Irrsinn zur Strafe Gottes zu erklären. Dreckspack, all die Kuttenträger!
Äußerlich ruhig sagte er: »Danke, das war sehr interessant. Aber jetzt muss ich nach Hause.« Er schob seine Kapuze zurück und ließ den Jugendlichen seinen Kopfverband sehen. »Heute hatte ich schon einen Kampf.«
»Cool, Mann! Bis bald. Bis die Schweine quieken!« Der andere hielt ihn wegen seiner schäbigen Klamotten für einen ACler oder einen »Gekündigten«, der nicht einmal Geld vom Arbeits-Center erhielt. Gut so. Bloß weg!
Mit dem Euroschein in der Hand winkte er ein Taxi herbei und ließ sich nach Hause fahren. Beim Aussteigen drückte er dem Fahrer die fünfzig Euro in die Hand und lief zur Haustür.
»Ihr Wechselgeld!«, rief der Fahrer.
»Behalten Sie es«, antwortete Manfred. »Ich glaube, davon gibt es bald eine ganze Menge.«
In seiner Wohnung sah sich Manfred im Spiegel mit dem billigen Verband um den Kopf. Komisch, eigentlich fühlte er sich ganz gut, nur ein wenig koddrig, aber das war nach dem, was er erlebt hatte, kein Wunder. Vielleicht kommt das dicke Ende noch, dachte er nervös und rief den Gesundheitsservice an. Als Privatpatient standen ihm jederzeit Hausbesuche zu und nach einigen Minuten stand eine Notärztin in der Diele. Er erzählte ihr, was er erlebt hatte und schloss: »Ich will nur sichergehen, dass auch alles mit mir in Ordnung ist. Irgendwie ist das schon seltsam.«
»Kann man so sagen«, meinte die Ärztin. »Sie glauben also, mit zwanzig bis dreißig Stundenkilometern durch die Straßen gerannt zu sein und dabei mit einem Auto zusammengestoßen zu sein, das, wie das so üblich ist, trotz Geschwindigkeitsbeschränkung mindestens fünfzig Stundenkilometer schnell gefahren ist.«
»Ja.« Manfred nickte unglücklich, weil er begriff, worauf die Ärztin hinaus wollte.
»Das macht summa summarum einen Aufprall mit siebzig bis achtzig Stundenkilometern«, fuhr sie fort. »Eigentlich müssten Sie tot sein.« Ihr Blick fiel auf die SPEID-Kapseln und sie sagte: »Ich nehme mir zwei davon mit, zur Analyse. Herr Limberg, bei Ihnen kann ich außer der Tatsache, dass Sie noch leben, nichts Akutes feststellen. Montag kommen Sie zum Check, aber nur, um ganz sicher zu gehen. Bis dahin sollten Sie sich schonen. Ihr Wochenende war ereignisreich genug.«
 



 
Oben Unten