Teil 14 * Entspannung

Mercy stand vor Sinas Kleiderschrank und wühlte in ihren Sachen. Trotz der Fummelei entschied sie sich für halterlose schwarze Strümpfe und Strapse. Dazu trug sie einen roten Lackrock und ein schwarzes Oberteil, auch aus Lack. Zuletzt stieg sie in hochhackige rote Stiefel. Sina drapierte ihre Haare zu einer Frisur und sagte: »Eine Perücke brauchst du nicht, so ist es auch schick.«
Pomade ließ die Haare glänzen und Mercy meinte: »Ich sehe aus wie die Tussi bei den Konservativen, der ein Parteifreund die Schläger ins Büro geschickt hat.«
»Das sind alles Kriminelle bei euch im Regierungsviertel. Da müsste mal wer richtig aufräumen mit dem Pack! Jemand, der sich nicht kaufen lässt.«
»Bisher haben sich alle kaufen lassen. Schau dir Etterling an! Wie hat er sich für mehr Rechte und Freiheiten eingesetzt, als er noch Chef der Jungen Mitte war! Jugend braucht Perspektive. Wir dürfen die Jugend nicht dem Alkohol, Rechtsextremen und Fundamentalisten überlassen. Sogar die Studiengebühren wollte er abschaffen. Und kaum war er Kanzler!« Mercy breitete hilflos die Arme aus. »Sieh ihn dir doch an! Es muss wieder Zucht und Ordnung herrschen. Die Zweite Stufe muss umgesetzt werden.«
»Wird sie, wird sie.« Sina legte den Arm um Mercy. »Aber anders als er sich das vorstellt. Ganz anders!«
Ihre Augen leuchteten und Mercy sah sie argwöhnisch an: »Du nimmst doch kein SPEID?«
»Nein, ich bleibe beim guten alten Alkohol. Da sind Risiken und Nebenwirkungen bekannt.« Sie drückte Mercy einen Kelch mit Kroyy in die Hand: »Prost.«
»Prost.«
Schwer, süß und prickelnd floss das Kroyy ihre Kehle hinunter und stieg ihr zu Kopf. Sie trat vor Sinas großen Spiegel und sah eine attraktive, aber nuttige Frau. Selbstverliebt betrachtete sie sich, Sina fasste von hinten zwischen ihre Beine und lachte: »Na, meine Kleine, wie wärs mit uns beiden?«
»Gern.« Mercy legte den Arm um Sina und küsste sie. Mit belegter Stimme erzählte Sina: »Mit dir ist es fast wie mit Inez, das ist eine Kollegin von mir. Ein Freier wollte, dass wir es miteinander treiben und er dabei zuschaut. Na, das haben wir dann auch gemacht, war schon komisch mit einer anderen Frau.«
Etwas klirrte leise und von fern kamen Rufe und Schreie. Sina öffnete die Tür zum Balkon und meinte: »Ach, sie sind an der AFU.«
Mercy trat neben sie und sah hinunter. Tatsächlich hatte sich eine Menschenmenge an der Aufruhrbekämpfungszentrale an der Straßenecke versammelt. Die AFUs waren allerdings noch besser geschützt als die Arbeits-Center und Mercy glaubte nicht, dass die Demonstranten viel Schaden anrichten konnten.
»Lass uns runtergehen.«
Mercy schüttelte den Kopf, doch Sina packte sie am Arm: »Komm schon! Es wird Zeit, dass du dich auf der Straße zeigst.«
»Und wenn mich jemand erkennt?«
»Papperlapapp!«
Sina schob sie durch die Wohnungstür und schloss ab. Vorsichtig stieg Mercy auf ihren hohen Absätzen die Treppe hinunter und Sina lachte: »Na, geht doch. Du machst das schon sehr gut.«
Sie kamen zum Hauseingang. Laut und erregend klapperten Mercys Absätze auf dem Steinboden. Sie lief vor Sina auf und ab, um es wieder klacken zu lassen. Sina lachte: »Jetzt wissen alle im Haus, dass ich eine Kollegin zu Besuch habe. Aber nun los! Ich will sehen, was an der AFU ist.«
»Nichts wird sein. Die werden ein bisschen protestieren und dann abhauen.«
Zuerst war es so wie Mercy vermutet hatte. An der Aufruhrbekämpfungszentrale hatten sich zweihundert Demonstranten versammelt. Auf Fahnen und Transparenten zeigten sie viel Rot und Mercy glaubte, dass die meisten Anhänger der Linkspartei waren. Die Linkspartei war nicht mehr im Bundestag vertreten und es war das erste Mal seit langem, dass Mercy eine Demonstration von ihr sah. Sie vermutete, dass die Linken angesichts der von den SPEIDlingen und »Quetzalcoatlus«-Brüllern veranstalteten Tumulte zu eigenen Protesten mobilisiert hatten.
Auf dem Dach der AFU erschien ein Offizier der Schwarzen Polizei mit einem Megafon, flankiert von zwei Sicherheitsleuten in Kampfpanzern und Vollhelmen, die Maschinengewehre in der Armbeuge hielten. »Sie werden aufgefordert, den Platz vor der Aufruhrbekämpfungszentrale umgehend zu räumen«, erklärte der Polizeioffizier. »Kommen Sie dieser Aufforderung nicht nach, machen wir von der Schusswaffe Gebrauch.«
»Gebt die Quetzals frei!«, rief eine Frau und die Menge nahm ihren Ruf auf:

»Gebt die Quetzals frei!«
»Gebt die Quetzals frei!«
»Gebt die Quetzals frei!«
»Gebt die Quetzals frei!«
»GEBT DIE QUETZALS FREI!«
»GEBT DIE QUETZALS FREI!«
»GEBT DIE QUETZALS FREI!«
»GEBT DIE QUETZALS FREI!«
»GEBT DIE QUETZALS FREI!«

Was soll das?, fragte sich Mercy. Warum setzen sich biedere Linke für Amok laufende SPEIDlinge ein?
Die Sicherheitsleute auf dem Dach der AFU schienen über die Parolen der Linken ebenso verblüfft zu sein wie Mercy. Die beiden Gepanzerten ließen ihre Maschinengewehre sinken und der Polizeioffizier starrte verblüfft und hilflos auf die Menge unter ihm.

»QUETZALS!«
»QUETZALS!«
»QUETZALS!«
»QUETZALS!«
»QUETZALS!«

schrien die Demonstranten, um plötzlich auseinander zu laufen.
»Sie haben dazugelernt«, meinte Sina.
»Ja, und? Was soll das Ganze?«, fragte Mercy irritiert.
»Das siehst du gleich.«
Eine nackte Gestalt rannte an der AFU vorbei und schrie, so wie Manfred im SPEID-Rausch geschrien hatte. Ihr folgen ein, zwei, viele, nackt, rennend und schreiend, eine wogende Flut nackter Leiber. Mercy und Sina pressten sich an die Hauswand, um nicht von ihnen überrannt zu werden, so wie die Sicherheitsleute, die aus der AFU kamen. Schüsse knallten, ohne die Amokläufer aufzuhalten. Die Menge schrie und heulte wie ein einziges riesiges Tier und drängte von allen Seiten gegen die AFU.
Dass die Sicherheitsleute das Tor geöffnet hatten, um nach draußen zu stürmen, erwies sich als Fehler. Die SPEIDlinge erdrückten sie unter dem Gewicht ihrer nackten Leiber und drängten durch das offene Tor ins Innere. Mercy sah Maschinengewehre in den Händen der SPEIDlinge und sie jubelten, ehe sie sie gegen die Sicherheitsleute auf dem Dach richteten. Der Aufprall der Geschosse ließ die Gepanzerten stürzen. Der Polizeioffizier, der in dem Glauben, es mit fügsamen Linken zu tun zu haben, auf den schweren und unbequemen Panzer verzichtet hatte, wurde von den Kugeln zerfetzt und stürzte als blutiger Fleischklumpen vom Dach.
Mercy war übel. »Lass uns reingehen.«
Sinas Augen blitzten, doch sie nickte: »Ja, genug für heute.«
 



 
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