Teil 15 * Stufe Zwei

Manfreds Mobil klingelte und verschlafen hielt er es ans Ohr.
»Herr Limberg, hier Jutta Struck, Gesundheitsservice. Es geht um Ihre Probe.«
Seine Probe? Er hatte ihr vor einigen Wochen zwei Pillen SPEID gegeben, nachdem er diesen üblen Trip gehabt hatte. Warum redete sie da von einer »Probe«? Ach ja, nachdem die SPEIDlinge die AFU förmlich auseinander genommen hatten, würde sich die Telefonüberwachung einschalten, wenn das Wort »SPEID« fiel. Es machte keinen großen Unterschied, doch Manfred beschloss, auch vorsichtig zu sein. So antwortete er nur: »Ja?«
»Sie sollten ins Service-Center kommen.«
»Bin schon unterwegs.«
Hastig wusch Manfred sich und rannte ohne Frühstück zur M-Bahn. Nach einer wohltuend ereignislosen Fahrt stieg er an der nach ihrem Sponsor Watt-Eon benannten Kreuzung zweier Linien der M-Bahn aus. In einem der Hochhäuser um den Watt-Eon-Platz befand sich das Service-Center. Hier empfing ihn die Ärztin und lotste ihn in ihr Büro. Sie schloss die Tür ab, schaltete den Anti-Spy-Summer ein und erklärte: »Herr Limberg, ich habe Proben an drei Labors geschickt. Zwei haben mir das geantwortet, was auch in den Medien kommt: SPEID ist ein Aufputschmittel, eine Designerdroge wie Ecstasy oder Imams Heaven. Nur stärker und schneller abhängig machend. Wobei«, sie hob den Zeigefinger, »keine körperlichen Schäden oder Abhängigkeiten auftreten. Raucher oder Alkoholiker schädigen ihren Körper mehr als SPEIDlinge. Körperlich sind die alle gesund. Nur völlig durchgeknallt.«
»Das Hirn zerfressen.«
»Nein.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Das Gehirn arbeitet im SPEID-Rausch auf Hochtouren, ohne dabei geschädigt zu werden. Sie haben selbst gemerkt, wie intensiv die Wahrnehmungen wurden. Nur hat es Sie überlastet und Sie wussten sich nicht anders zu helfen, als nackt durch die Straßen zu rennen. Das brachte mich auf eine Idee: dem letzten Labor schrieb ich nicht mehr, dass ich sie um die Analyse einer Droge bäte, mit der ein Patient ein übles Erlebnis hatte. Ich schrieb, dem Patienten wäre aus unbekannter Quelle ein Präparat angeboten worden, das die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit steigern würde. Als Antwort kam dies.« Sie hob ein Blatt Papier und las: »Die zur Analyse eingereichte Substanz ist dazu geeignet, die Schwelle für Wahrnehmungen zu senken und Sinneseindrücke zu verstärken. Die Kapazität des Gehirns für die Aufbereitung von Wahrnehmungen und das Verarbeiten von Informationen wird vorübergehend gesteigert. Die Regenerationsfähigkeit des Körpers wird vorübergehend erhöht, zugleich die Wahrnehmung von Schmerzen blockiert.«
»Klingt nach einer Kampfdroge«, meinte Manfred.
»Richtig!« Sie nickte heftig. »Etwas, was den GIs verabreicht wird, sollten sie einmal Krieg gegen jemand führen müssen, der es ernst meint. Nicht solche Fakes und Luftnummern wie Saddam Hussein oder die Islamis. Dummerweise scheint bei der US-Army einer ein paar Dollars extra mit einer richtig coolen Droge verdient zu haben. Dass die ihre Leute nicht im Griff haben, weiß man spätestens seit den Folterbildern aus dem Irak. So erlebte SPEID seine Welturaufführung nicht beim nächsten Krieg, sondern völlig ungeplant auf der Straße.«
»Sie sehen den Weltuntergang, gesponsort von Watt-Eon und BurtonTec«, murmelte Manfred.
»Wir sponsorn noch den Strick, an dem man uns aufhängen wird«, zitierte die Ärztin Hauptmann Krenz, einen bekannten Satiriker. »Nur ist es noch nicht so weit.« Sie warf das Gutachten in den Datenvernichter, in dem Enzyme das Papier auflösten. »Unser Gespräch hat nie stattgefunden und ich habe Sie nur zu mir gebeten, um Ihnen zu versichern, dass gesundheitlich alles mit Ihnen in Ordnung ist. Was auch stimmt. Sie sind so unverwüstlich, Sie werden 120 Jahre alt, wenn Sie sich das leisten können.«
»Das werde ich wahrscheinlich«, entgegnete Manfred. Er musste nur durchhalten, bis sein privater Altersfond groß genug war, um ihm ein sorgenfreies Leben zu sichern. Mit diesem Ziel vor Augen hatte er in Partei und Regierung vieles mitgetragen, an das er nicht glaubte. Nur noch ein paar Jahre, ein paar Jahre und idealerweise die Beförderung zum Staatssekretär und er hatte es geschafft! Doch auf einmal schien ihm die Zeit durch die Hände zu rinnen.

Um 14 Uhr war im Regierungssitz »Große Runde«: Kanzler Etterling sprach vor den Fraktionen von Neuer Mitte und Ökolibs, wobei auch ihre Assistenten und Ministerialbeamten anwesend sein mussten. Für ein Mittagessen war keine Zeit mehr und mit leerem Magen, aber in seinem besten, blauschwarzen Anzug hastete Manfred durch die Korridore, in denen schwarz uniformierte Sicherheitswachen standen, und kam in den Konferenzsaal. Auch hier standen an den Wänden breitbeinig und mit starrem Blick Sicherheitswachen.
Alldieweil Kanzler Etterling bei derartigen Anlässen von seinen Untergebenen absolute Pünktlichkeit verlangte, kam er stets mit Verzögerung. Manfred hatte schnell herausgefunden, dass Etterling um so später kam, je wichtiger das Treffen war. Heute ließ er sich besonders viel Zeit und verärgert dachte Manfred, dass er noch für einen schnellen Imbiss in die Kantine hätte gehen können. Schon halb Drei und Etterling kam und kam nicht. Unruhe breitete sich unter den Männern mit Kurzhaarschnitt und Anzug und den Frauen mit neokonservativem Dutt und Kostüm aus.
»Etterling ist ermordet worden! Gerade eben! Auf dem Weg hierher!«
Alle sprangen auf und schrien durcheinander, nur Manfred blieb sitzen. Er nahm sein Mobil und ging durch die Nachrichtensender: TiKom, Watt-Eon, Norris, Türkalman, Durope, Sturmfront, Leninabad und K@nal Schwarz. Keiner brachte eine Meldung über ein Attentat auf Etterling. Manfred schaltete sein Mobil aus. »Jemand hat sich einen Scherz erlaubt.«
Das begriffen die anderen nun auch, doch Manfred erntete nur böse Blicke, weil er es ausgesprochen hatte. Alle setzten sich und da kam auch schon Bruno Etterling, elfter Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, durch die hintere Tür und trat hinter das Pult.
»Herrschaften!«, begann er und Manfred fragte sich, ob ihn schon jemand über das »Attentat« auf ihn unterrichtet hatte. Wahrscheinlich schon, bei Neue Mitte und Ökolibs überboten sich alle darin, dem »Eisernen Kanzler« zu huldigen und einer seiner Speichellecker würde ihm eine Nachricht auf das Mobil gesprochen haben. Manfred fragte sich, ob die Sicherheitsleute den Scherzkeks fassen würden, der Etterlings Ermordung verkündet hatte.
Sein Mobil piepte diskret, was es nur tat, wenn von einem seiner Nachrichtenabonnements eine Nachricht mit höchster Dringlichkeit kam. Er holte es hervor und sah auf den kleinen Monitor. Er zeigte den Konferenzsaal mit den Abgeordneten und Ministerialbeamten. Plötzlich stieß jemand die Tür auf und schrie: »Etterling ist ermordet worden! Gerade eben! Auf dem Weg hierher!« Alle sprangen auf und schrien durcheinander, dann brach der Film ab. Eine Sprecherin erschien, doch Manfred hörte sich nicht mehr an, was sie sagen wollte. Er schaltete sein Mobil aus und steckte es weg. Schnelle Arbeit, kaum war die Scharade geschehen, ging sie auch schon durch die Medien. Es war nicht das Werk eines allein agierenden Scherzkekses, sondern er hatte einen Komplizen, der die Reaktion der Menschen im Saal filmte und einen Kontakt bei den Medien, der den Film sofort sendete. Bruno, da will jemand deinen Kopf, dachte Manfred und wusste nicht, ob er sich freuen oder beunruhigt sein sollte.

In seiner Zeit als Vorsitzender der »Jungen Mitte« hatte Bruno Etterling bei vielen als Hoffnungsträger gegolten. Der charmante Yuppie mit einer Vorliebe für schnelle Autos, deren langgestreckte Kühlerhauben er gern mit langbeinigen Blondinen dekorierte, pflegte politisch einen radikalen, fast anarchistischen Diskurs. Ein System von Genossenschaftskooperativen, die im Besitz ihrer Arbeiter und Kunden waren, sollte Deutschland aus der wirtschaftlichen Sackgasse herausbringen. Im System des früheren Etterling hätten unter der Parole »Meinungsfreiheit für alle« Neonazis mit Hakenkreuzen und Hitler-Bildern demonstrieren dürfen, das Schutzalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr wäre auf zwölf Jahre gesenkt worden und in »Freizonen« wäre Erwerb und Genuss von Drogen erlaubt gewesen. Bundesweit wären alle Beschränkungen für Verkauf und Verbreitung von Pornografie abgeschafft worden und für eine Schutzgebühr von 10 Cent pro Gigabyte wären Programme und Dateien frei kopierbar gewesen.
Als Anwalt sorgte der junge Etterling immer wieder für Schlagzeilen, weil er kostenlos so unterschiedliche Mandanten vertrat wie den rechtsextremen »Odalsbund«, unter Anklage wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen, die Internetseite »ber69lin.de«, im Netz gesperrt wegen Verstoß gegen Jugendschutzauflagen, und zahllose Teenager, die wegen unerlaubten Kopieren von Musikstücken und Filmen ins Netz der C-C-Security geraten waren.
Der Etterling, der nun am Pult stand, hatte mit dem glatt rasierten und durchtrainierten Heißsporn von einst nichts mehr gemeinsam. Ein grau melierter Vollbart drückte Seriosität aus und der Bauch signalisierte zusammen mit dem Bart Autorität. Während viele Politiker, die ein vergleichbar behäbiges Aussehen kultivierten, drittklassige Marionetten im Dienste der wirklich Herrschenden waren, hatte Etterling den Anspruch auf Geltung und Macht aus seiner progressiven Jugend herüber gerettet. Nach einer Reihe schwacher Kanzler und Kanzlerinnen galt Etterling als eine Persönlichkeit, die nicht nur von anderen getroffene Entscheidungen umsetzte, sondern selbst Entscheidungen traf. Er wollte gleichauf mit Konrad Adenauer und Otto von Bismarck in den Geschichtsbüchern stehen.
»Herrschaften!«, begann Etterling und Manfred fragte sich zum wiederholten Mal, woran ihn dieses »Herrschaften!« erinnerte. Ach, jetzt fiel es ihm ein: am Gymnasium hatte ein wegen seiner Schikanen verhasster Sportlehrer die Schüler auch so begrüßt. Einer so tyrannisch wie der andere!, dachte Manfred. Und auf den Schulhöfen und in den Ghettos wachsen aus den Reihen der Alpha-Männchen und -Weibchen neue Tyrannen heran. Deutschland würde nicht an den Ausländern, der Wirtschaft oder dem Klima zugrunde gehen, sondern an seinen Tyrannen, den großen und den kleinen.
»Und die zweite Stufe der Globalisierung muss energisch umgesetzt werden«, referierte Etterling und Manfred zwang sich, hinzuhören. »Dabei muss auch die Arbeitsgesetzgebuung auf den Prüfstand. Private Arbeits-Center, die auf Kosten der Steuerzahler Milliardensubventionen verschlingen, sind nur dem Namen nach privat. Sie permanent mit Bundeszuschüssen zu päppeln widerspricht der Marktordnung.« Manfred stöhnte innerlich auf. Jetzt kam wieder der Vorschlag, die Arbeits-Center auf Sponsoring umzustellen. Zu allem Übel schienen Etterling und seine Paladine diesmal entschlossen, das Sponsoring durchzusetzen. Die Angestellten der Arbeits-Center wären damit, wenn sie keinen Job fanden, der Willkür ihrer Sponsoren ausgeliefert, die nach Belieben über ihre Zeit verfügen konnten. Führt doch gleich die Sklaverei wieder ein!, dachte Manfred erbittert.

Manfreds Kopf war wie mit Watte gefüllt, als die »Große Runde« vorbei war und er den Saal verließ. Nichts wie weg, die Krawatte aufmachen und tief Luft holen. Im Korridor sah er Daniela, ganz in Weiß gekleidet und mit feschem Glockenrock. Ihr tiefschwarzes, gelocktes Haar hob sich von ihrer weißen Haut ab, dazu kamen oft gerötete Wangen, so dass sie den Spitznahmen »Schneewittchen« hatte. Wieder einmal fragte sich Manfred, warum eine so aparte Frau ungeachtet ihres Bekenntnisses zu einem »gesunden Nationalismus« zu einer so faden Partei wie den Konservativen gegangen war.
Sie hakte sich sogleich bei ihm unter und sah ihn von unten her spitzbübisch an: »Du bist so geplättet. Hat euch Etterling aus der Regierung geworfen?«
»Dann hätte ich gute Laune.«
»Deinen Posten wärst du aber los.«
»Den bin ich sowieso bald los, wenn das so weiter geht. Sie wollen die Arbeits-Center auf Sponsoring umstellen. Die Arbeitslosen sollen Bettelbriefe an irgendwelche reichen Arschlöcher schreiben, die mit ihnen machen können, was sie wollen.«
»Na, da bin ich aber froh, dass ihr Ökolibs diese Suppe auslöffeln müsst!«
»Wo doch die Konservativen eine so mitreißende Oppositionsarbeit machen«, stichelte Manfred.
»Touché«, gab sie zu. »Ach, es ist heillos. Unsere Schnarchnasen tun nichts oder vergraulen noch die Leute mit ihren albernen Forderungen. Ich sag dir, wenn die in die Regierung kommen, kuschen sie noch mehr vor Etterling als ihr!«
»Die zweite Stufe will er aber mit uns durchziehen. Leider!«
Sie kamen auf einen Regierungsparkplatz, auf dem neben fast jedem Auto eine gepanzerte Sicherheitswache stand. Danielas weißes eCar stach zwischen all den großen und dunklen Limousinen hervor und angesichts der Wahl des Wagens fragte sich Manfred abermals, warum sie bei den Konservativen war. »Du hättest gut zu Etterling gepasst«, sagte er. »Zu dem Etterling, wie er früher war, meine ich.«
»Du wirst lachen, aber damals sah ich in ihm Deutschlands Hoffnung, jemanden, der Bismarck überflügeln könnte.«
Wegen des warmen, sonnigen Wetters ließ sie das Verdeck ihres Wagens offen. Sie stellte die Steuerung auf Automatik und der Computer lenkte den Wagen Richtung Brandenburger Tor. Daniela schaltete den Summer ein und flüsterte: »Es gibt Gerüchte, Etterling will sich von euch trennen, wenn er die zweite Stufe verwirklicht hat. Was nach zwei kommt, ist dir hoffentlich klar.«
»Drei.«
»Richtig. Die dritte Stufe und für die braucht er die Konservativen. Sicherheitsgesetze, Online-Wohnungsüberwachung, Todesstrafe, Sittengesetze.«
»Kein Krieg mit Polen um die Ostgebiete?«, spottete Manfred.
»Die Wiedergewinnung der Ostgebiete ist Stufe Vier.«
»Die Amerikaner werden das niemals zulassen. Polen ist ihr Protektorat und in Warschau kriechen sie den USA hinten rein wo es nur geht.«
»Die USA werden nicht immer in der Lage sein, Polen vor einer Revision zu schützen. Es gibt da eine Sekte, die den Amis viel Kopfzerbrechen bereitet.«
»Du meinst den Quetzalcoatlus-Kult.«
»Ja, so heißen sie wohl. Sowas Indianisches, das den Mob in Amiland in Aufruhr versetzt. Unsere Revisionisten sehen das nicht ungern. Wenn die Herrschenden in den USA mit diesem Ket-was-auch-immer ausgelastet sind, haben sie nicht mehr die Ressourcen, sich in Grenzstreitigkeiten einzumischen.«
»Das ist Wahnsinn!«
»Ja. Aber Wahnsinn mit Methode.«
»Die Polen werden sich wehren, so oder so!«
»Darauf bauen die Strategen bei uns sogar. Zuerst ein Krieg, um die Nation gegen den Feind zu einen. Wenn die Polen nach ihrer Niederlage zum Terrorismus übergehen, kann man den Sicherheitsapparat weiter ausbauen und man hat für die nächsten hundert Jahre einen Feind. Ideal, um das Volk von sozialen Gegensätzen abzulenken.«
Die flache Hand traf Manfred mitten ins Gesicht, Daniela schrie auf und ihr Auto schaukelte. Seine Räder drehten sich in leerer Luft und der Computer piepte warnend. Manfred sprang auf, zog Daniela hoch und sprang mit ihr hinaus. Hart landeten sie auf dem Bürgersteig und rannten los. Manfred sah über die Schulter zurück. Die nackten Gestalten, die sie attackiert hatten, warfen Danielas leichtes Auto hoch. Es schlug auf dem Bürgersteig auf und seine Einzelteile spritzten auseinander. Die SPEIDlinge johlten und trampelten auf ihnen herum. Einige lachten, anderen schrien: »Quet-zal-co-at-lus!« oder »Gro-ße Schlan-ge!«
»Mein Wagen«, stöhnte Daniela, um dann zu fragen: »Wer sind die denn?«
»Die Kräfte, von denen deine Revisionistenfreunde hoffen, sie würden die USA schwächen.«
 



 
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