Teil 16 * Deutscher Herbst

Regentropfen prasselten gegen die Fenster von Manfreds Wohnung und trübsinnig starrte er nach draußen. Der Sommer war einem frühen und kalten Herbst gewichen und seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Sein Wandschirm zeigte Live-Nachrichten aus den USA, wo die Krise einen neuen Höhepunkt erreichte. Im ganzen Land rannten Menschen im Drogenrausch Amok und die Quetzals hatten vielerorts die bisherige Ordnung zum Zusammenbruch gebracht. Manfred fragte sich, ob die Quetzals schon manche der Kanäle kontrollierten, die vom Untergang der USA berichteten.
j-tv zeigte einen Mob, der durch ein Villenviertel in Los Angeles raste. Die Menschen plünderten Häuser der Reichen und Superreichen, die in ihren Ausmaßen europäischen Schlössern glichen. Eine Gruppe stämmiger Männer und Frauen trug aus einem Pickup Benzinkanister und goss ihren Inhalt in die Empfangshalle eines Anwesens, das so groß war wie das Charlottenburger Schloss in Berlin. Ein Kerl in einem schmutzigweißen T-Shirt mit der Aufschrift »hate you« über dem Bauch schleuderte eine Fackel durch den Eingang. Das Benzin entzündete sich und das Anwesen brannte lichterloh. Der Kerl, der die Fackel geworfen hatte, sagte in breitem, aber fehlerfreien Deutsch: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«
Jetzt zitieren sie schon Büchner, dachte Manfred und wusste nicht, ob er sich freute oder ekelte.
Immer mehr der protzigen Villen gingen in Flammen auf. Wer von ihren Bewohnern nicht rechtzeitig geflohen war, irrte nun hilflos umher. Oft vermieden es die Aufrührer, ihnen ein Leid zuzufügen und wichen vor ihnen zurück, als ob sie Angst hätten, selbst so tief zu fallen wie die ehemals Reichen und Mächtigen.
Aber nicht alle waren so klug.
Schäbig gekleidete Menschen hielten eine nackte Frau an Armen und Beinen, hoben sie hoch und trugen sie so durch die Straßen. Die Frau schrie und der Mob grölte. Hoch mit der Frau, hoch auf einen seltsam geformten Stein, wo ein bärtiger Kerl wartete, der nur einen Umhang aus Federn trug. In der Hand hielt er etwas, was wie ein großer spitzer Stein aussah. Blitzschnell hob er den Stein und Manfred schaltete aus.
Sein Herz raste und ihm war übel. Er trat trotz Kälte und Regen auf den Balkon, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er erinnerte sich an einen Streit mit Verena. Manfred hatte die ältliche Transe im »Billy Wilder« am Sony-Center getroffen. Sie hatte den USA »Party mit Menschenopfer« vorgeworfen, weil die Liquidierung gefährlicher »Top-Terroristen« von vielen Amis öffentlich gefeiert wurde. Manfred hatte ihr heftig widersprochen und war gegangen, als Verena den »Kampf gegen den Terror« mit Stalins Schauprozessen verglichen hatte. »Für jeden Scheiß findet sich ein Mob, der ihn feiert«, hatte sie ihm nachgerufen.
Für jeden Scheiß findet sich ein Mob, der ihn feiert. Manfred konnte sich nicht dazu überwinden, schon hinein zu gehen und die Nachrichten aus den USA zu verfolgen, wo der Mob jetzt nicht die Ermordung Osama bin Ladens feierte, sondern Angehörige der Eliten auf bestialische Weise abschlachtete. Irgendetwas war daran gewaltig faul, aber Manfred kam nicht darauf, was es war.

An der Fassade des Hauses auf der anderen Straßenseite war ein S-förmiger Strich mit einem dicken Punkt an einem Ende. Darunter stand: »Quetzal kommt!« Auch der Neuköllner Pöbel hatte zum neuen Messias gefunden. Schon rückten die Polizei und ein Trupp ACler an, zweifellos von einem eifrigen Nachbarn alarmiert. Die ACler schrubbten, bis von der stilisierten Schlange und der Parole nichts mehr übrig war. »Bis zum nächsten Mal«, sagte einer der grün uniformierten Polizisten. Er und seine Kollegen lachten. »Quetzal kommt.«
In der »Abendschau« kam Quetzal nicht. Sie berichtete über eine Lesung im »Willy-Brandt-Haus«, die Umstellung der Arbeits-Center auf Sponsoring und Fortschritte beim Klimaschutz, dank derer Berlin den kältesten Oktober seit dreißig Jahren erlebte. Weil selbst die schwarze Polizei die am Brandenburger Tor SPEID und Euro-Scheine verteilenden Quetzals nicht mehr vertreiben konnte, wurden sie aus einem Bericht über den hinter dem Brandenburger Tor gelegenen Arthuisen-Hochsell-Platz digital entfernt. So kann man sich die Welt auch schön lügen, dachte Manfred. Kanzler Etterling und Außenminister Sutterling sonnten sich angesichts der krisengeschüttelten USA in neuer Weltgeltung für Deutschland und die EU. Berichte über Quetzals in Deutschland passten nicht in das Bild einer unter dem »Eisernen Kanzler« aufstrebenden Nation und deshalb brachten die Medien sie nicht.
Es klingelte an der Wohnungstür. Ein Nachbar, den Manfred nur vom Treppenhaus kannte, stand vor ihm. Er trug stets einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine helle Krawatte. Die Kleidung sollte einen seriösen Eindruck machen, doch auf Manfred wirkte sie nur aus der Mode gekommen.
»Ich, ich habe eine Bitte«, begann der Nachbar. Manfred lächelte ihn aufmunternd an: »Nur zu, Herr Januschek.«
»Ich, äh arbeite im Arbeits-Center und das wurde ja auf Sponsoring umgestellt.«
Das kam so gepresst, dass Manfred befürchtete, er würde einen Nervenzusammenbruch bekommen.
»Kommen Sie rein«, sagte er deshalb. »Drinnen können wir alles in Ruhe besprechen.«
Manfred schenkte sich und seinem Besucher ein Glas Wein ein. Etwas entspannter erklärte Januschek: »Ich möchte Sie bitten, mir zu helfen, einen Sponsor zu finden. Allein, ich habe schon alle angeschrieben, die mir einfielen, doch es kamen nur Absagen. Wer will schon einen fünfzigjährigen Quantenprogrammierer?«
Noch vor 25 Jahren hätte jeder ITler für Januscheks Wissen einen Mord begangen, doch heute war er aus dem Rennen. Nach dem Ende des Booms in China wuchsen auf den Massengräbern in Afrika die Boomtowns und dort konnten schon 16jährige QC. Während das Angebot an billigen QC-Kräften nahezu unbegrenzt war, hielt sich die Nachfrage in Grenzen. Die strengen Gesetze zum Urheberrechtsschutz, die der frühe Etterling hatte abschaffen wollen, begrenzten den Umlauf an Daten. Der Zwang zur Sparsamkeit sorgte dafür, dass in vielen Haushalten Computer standen, die zwanzig bis dreißig Jahre alt waren, und sich die neue Generation der Quantencomputer nur schleppend verbreitete.
Manfred hatte eine Idee.
»Haben Sie Stufe Zwei? Vom QC meine ich, nicht von der Globalisierung.«`
Januschek lachte gepresst. »Nein, davon habe ich nicht die zweite Stufe.«
»Dann werde ich Ihnen eine Fortbildung zum QC Zwei vermitteln. Als Subquantenprogrammierer finden Sie zwar auch keinen Job, aber bis zum Ende der Fortbildung finden Sie vielleicht einen Sponsor. Kommen Sie gleich am Montag in mein Büro, dann regel ich alles.«
»Ja, danke.« Januschek nickte beflissen. »Jetzt will ich Sie aber nicht länger stören.«

Es gehörte nicht zu Manfreds Aufgaben als Unterstaatssekretär im Außenministerium, einem ACler eine Fortbildung zu vermitteln. Doch als Herr Januschek am Montag Punkt zehn Uhr unsicher in Manfreds Büro trat, sprang Manfred so beflissen auf, als ob Minister Sutterling oder Senator Thompson gekommen wäre. Es tat gut, abgelenkt zu sein und nicht an den Wahn zu denken, der Nordamerika verwüstete und sich auch hier ausbreitete. Manfred und Januschek gingen an den Bildschirm und Manfred rief die Recherche auf. »Haben Sie sich schon mit QC Zwei beschäftigt?«, fragte er Januschek und der nickte eifrig. »Alles, was es darüber im Netz gab. Auch als Gasthörer an der TU.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Der Professor schien viel darüber zu wissen, hatte aber keine Hoffnung, dass daraus mehr als theoretische Spielerei wird.«
»Wir verspielen seit hundert Jahren unsere Zukunft«, erklärte Manfred. »Weil wir wichtige Wissenszweige nicht fördern, aber immer wieder auf Unsinn wie Atomkraft oder Selbstregulierende Ökonomie hereinfallen.«
So deutliche Worte waren für einen Regierungsbeamten nicht angemessen, aber Manfred glaubte nicht, dass diese Regierung noch lange bestehen würde. »Ich weiß über Subquantencomputer nur, dass sie noch leistungsfähiger und kleiner sind als Quantencomputer«, erklärte er.
»Man erschließt Raum und Zeit unterhalb der Planck-Größen«, erklärte Januschek. »Sie wissen, was Planck-Größen sind?«
»Die kleinsten möglichen Einheiten von Raum und Zeit.«
»Die in der konventionellen Physik kleinstmöglichen Einheiten. Die Subquantenphysik geht davon aus, dass sich unterhalb dieser Einheiten eine so genannte homogene Raumzeit befindet. Hier lässt sich Raum und Zeit beliebig unterteilen.«
»So etwas wie die bindende Leere in Hyperion?«
»Ja.«
»Ich habe den Film gesehen. Er war klasse, das Beste, was Hollywood jemals zustande gebracht hat.« Manfred nickte versonnen. »Und das ist wirklich möglich?«
»Ja. Mit unbegrenzt viel Raum und Zeit in einem Volumen so klein wie ein Elementarteilchen können Sie beliebige Prozesse ausführen. Das Quantenvakuum, in dem Sie arbeiten, ist nicht kausal. Dadurch haben Sie nicht nur unbegrenzte Kapazitäten, sondern können auch Code schreiben, welcher der herkömmlichen Logik widerspricht. QC ist dann so veraltet wie ein Pentium.«
Manfred wusste nicht, was ein »Pentium« war, aber die Implikationen wurden ihm schnell klar. Das gesamte Wissen der Welt hatte Platz auf einem Stecknadelkopf und jene Simulationen sozioökonomischer Prozesse, an denen der wissenschaftliche Stab der Regierung bisher verzweifelte, würden in Sekundenbruchteilen ablaufen. Vielleicht ließ sich sogar die Selbstregulierende Ökonomie, nur eine Umschreibung für den als linksextrem verpönten Begriff »Kapitalismus«, mit Subquantenberechnungen zum Funktionieren bringen.
Ideen zur Rettung der Welt oder wenigstens Deutschlands und seiner Karriere poppten in ihm auf. In die nächste Kabinettssitzung reinplatzen und die Regierung dazu überreden, Subquantentechnologie zur »nationalen Aufgabe« zu machen. Die enorme Komplexität, die sich aus Januscheks Ausführungen andeutete, würde auch enorm komplexe Fehlerquellen beinhalten und allein das Debugging schaffte Arbeitsplätze für Hunderttausende neuer ITler. Zusammen mit den Folgejobs machte Subquantentechnologie die ACs überflüssig und der Mob käme vom SPEID-Rausch ausgenüchtert von der Straße.
Seine Ideen zerplatzten so schnell wie sie gekommen waren. Wissenschaftsministerin Rose hatte schon demonstrativ in der »Vogue« geblättert, als Manfred Vortrag über das Gagarin-Armstrong-Projekt gehalten hatte, bei dem russische und US-amerikanische Politiker und Unternehmer eine Mondkolonie vorgeschlagen hatten. Auch das hätte mit seinem Irrsinnsaufwand Millionen Arbeitsplätze geschaffen und die Leute davon abgehalten, sich zugrunde zu richten. Es war alles nicht gewollt und nun haben wir den Salat!, dachte er erbittert.
Nach seinem Vortrag hatte Ministerin Rose mit lautem Rascheln die »Vogue« beiseite gelegt und gesagt: »Herr Limberg, ich glaube, Sie sind hundert Jahre zu spät geboren. Raumfahrt war gestern, heute hat die Welt wichtigere Probleme.«
»Eine Wiederaufnahme« »der Raumfahrt ist eine sinnlose Verschwendung von Mitteln der Steuerzahler«, fiel sie ihm ins Wort und Manfred hatte begriffen, dass weitere Diskussionen sinnlos waren. Raumfahrt war passé. Die Internationale Raumstation war ins Meer gestürzt wie Skylab und Mir vor ihr und einen Nachfolger für sie gab es ebenso wenig wie neue Flüge zum Mond.
»Herr Limberg?«
»Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.«
Manfred und Januschek verbrachten den ganzen Tag damit, eine Fortbildungseinrichtung zu suchen, die Datenverarbeitung auf Basis von Subquantenprozessen in ihrem Programm hatte. Schließlich wurden sie in Potsdam fündig und Manfred machte einen Anruf. Wie bei anderen besonderen Gelegenheiten ließ er das »Unter« weg und sprach als »Staatssekretär Limberg« mit der Institutsleiterin. Sie versprach, Januscheks Aufnahmeantrag »wohlwollend« zu prüfen und Manfred hakte nach: »Nicht wohlwollend, sondern positiv! Subquantentechnologie ist eine nationale Aufgabe und Herr Januschek ist ausgezeichnet dafür qualifiziert.«
»Also gut. Herr Januschek?«
»Ja?«
»Seien Sie morgen Punkt Neun bei uns!«
»Werde ich.«
Manfred schloss die Verbindung und Januschek drückte ihm die Hand: »Vielen Dank.«
»Keine Ursache, ich tue nur meine Pflicht.«
Ein Stein flog gegen die Fensterscheibe, konnte das Panzerglas aber nicht durchschlagen. Es war schon dunkel und Manfred sah undeutlich Gestalten über die regennassen Straßen rennen. Eine der Straßenlaternen erlosch, dann alle und die Straße lag in Dunkelheit. Die Lichter in Manfreds Büro flackerten, um dann weiter zu leuchten, als ob nichts geschehen wäre. Aber Manfred vermutete, dass irgendwer die Stromzufuhr unterbrochen hatte und sie jetzt von einem der redundanten Notstromaggregate im Regierungsviertel versorgt wurden. Fragte sich nur, für wie lange.
»Schluss für heute, Feierabend!«, sagte er und lächelte Januschek mit mehr Elan an als er empfand. »Gehen wir zusammen zum Bahnhof?«`
»Sie fahren M-Bahn?«, fragte Januschek.
»Selbstverständlich. Als überzeugter Ökolib fahre ich nur Bahn und Fahrrad. Das spart Treibstoff und schont die Umwelt.« Und nervt manchmal entsetzlich, fügte Manfred in Gedanken hinzu. Der Zug war randvoll mit Krakeelern. Besoffene gab es heute nicht, dafür rannte ein Mann im SPEID-Rausch immer wieder durch die Waggons, hin und her, bis ihm ein Halbstarker ein Bein stellte. Der SPEIDling flog der Länge nach hin und rutschte über den Boden, sprang auf und ging auf den Jugendlichen los. »Die Große Schlange wird dich zerreißen!«, schrie er. »Die Große Schlange Quetzalcoatlus wird alles Übel von der Erde tilgen und sie von Verderbtheit reinigen.«
»Gro-ße Schlan-ge! Gro-ße Schlan-ge!«, schrien einige Fahrgäste und es klang kein bisschen ironisch. Der Halbstarke, der den SPEIDling zu Fall gebracht hatte, fiel in den Chor ein: »Gro-ße Schlan-ge! Gro-ße Schlan-ge!«
Ja, Heil Hitler!, dachte Manfred und konnte nicht mehr an sich halten: »Was ist an diesem Indianerquatsch so toll?« Alle starrten ihn verdutzt an und Januschek flüsterte: »Passen Sie auf, die sind gefährlich.«
Manfred ließ nicht locker: »Also noch einmal: was ist an diesem Quatsch so toll?«
»Es ist kein Quatsch«, antwortete eine junge, dünne Frau mit bunten Federn im aschblonden Haar. »Die Große Schlange wird Deutschland von jahrhundertelanger Unterdrückung befreien. So, wie sie die Welt befreien wird. Sieh nach Amerika, wo sie das Übel getilgt hat.«
»Ich sehe nur Amok laufende Irre, wenn ich nach Amerika blicke!«
»Du bist verblendet!«
»DU bist verblendet!«
»Anne?!« Ein Mann, gebaut wie ein Panzerschrank, trat zu der Frau. »Was machst du denn mit diesen Federn?«
»Ich habe die Große Gefiederte Schlange gesehen.« Die Augen der Frau leuchteten.
»Aber sie ist doch nur ein Märchen, das wir den Prols erzählen, damit sie endlich aufwachen.«
»Nein! Die Große Gefiederte Schlange lebt!«
»Ach Anne.« Unglücklich sah er sie an. »Haben sie dich im AC so schikaniert, dass du unbedingt einen Gott brauchst? Das ist doch alles nicht real, das haben wir nur gemacht, damit es endlich losgeht!«
»Ja, Heiner. Es wird losgehen. Quetzalcoatlus wird in Leib und Fleisch kommen, du wirst es sehen.«
Der Zug hielt an Manfreds und Januscheks M-Bahn-Station und Januschek zog Manfred auf den Bahnsteig. »Dass Sie sich mit denen anlegen!«, flüsterte er. »Das werden immer mehr.«
»Ja, die Dummen werden nie alle. Das wussten schon die Nazis!«
»Sie sind nicht dumm. Nur verzweifelt.«
»Das bin ich auch. Wenn ich sie sehe!«
Nun fiel Manfred auch ein, woher er Anne und Heiner kannte. Es waren zwei Linksparteiler, die früher ab und zu an seinen Infostand gekommen waren. Obwohl sie nicht müde wurden, den Ökolibs Opportunismus vorzuwerfen, war ihre Gesellschaft angenehm gewesen. Nun waren sie auch bei den Quetzals. Es war zum Verrücktwerden!
 



 
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