Teil 21 * Ein neues Leben

Mercy nahm ihr Mobil, rief die Taxizentrale an und sagte: »Bitte ein Taxi in einer Stunde an der Kreuzung Hermannallee / Josefstraße. Ich warte am Popo-As.«
Hastig wusch sie sich, schlüpfte in einen schwarzen Rock und zog einen roten Pullover an. Sie lief ins Bad und sammelte Kosmetik, Körperpflege und Entbarter ein, um sie im Koffer zu verstauen. Die Pumps vertausche sie mit weniger hohen Stiefeln, zog den Mantel an und stopfte ihr Geld in eine Innentasche. Mit dem Koffer verließ sie die Wohnung und fuhr im Lift nach unten. Sie huschte mit hochgeschlagenem Mantelkragen an zwei Hausbewohnern vorbei auf die Straße und wandte sich nach rechts. Bis zur Kreuzung waren es einige hundert Meter. Mercy hatte diesen Ort gewählt, um keinen Bezug zu ihrer ehemaligen Wohnung herzustellen.
Ein Polizeiauto fuhr langsam an ihr vorbei und als sie sich unter das leuchtende Reklameschild des »Popo-As« stellte, sah sie es noch einmal um die Ecke biegen. Aus der Eckkneipe drangen Wortfetzen und Musik. »Auf die Schlange!«, grölte ein Betrunkener. »Auf die fette Schlange und ihr Geld!«
Ein stämmiger Mann mit angegrauten Locken kam heraus, sah Mercy und sprach sie an: »Komm doch rein und feier mit uns ein bisschen die neue Zeit. Ich lad dich ein.«
»Nein, danke«, entgegnete sie leise. »Ich bin verabredet.«
»Na, dann.« Er nickte ihr zu und ging wieder hinein.
Wir feiern die neue Zeit.
Mercys Taxi kam, die Fahrerin stieg aus und half ihr, den Koffer in den Gepäckraum zu legen. »Wohin soll es gehen?«, fragte sie.
Mercy überlegte. Sie musste einen Ort finden, wo sie keiner kannte und wo sie Unterschlupf bekam. Die Tafel des »Viertelrates« mit den freien Wohnungen fiel ihr wieder ein. Zuerst da versuchen und wenn da nichts war, dann in eine Pension. »Zachestor«, antwortete sie.
»Sie meinen Hallesches Tor?« Die Taxifahrerin sah sie seltsam an.
»Heißt das jetzt so? Ja, dann Hallesches Tor.«
War so das Leben in einem totalitären System? Ständig auf der Hut sein und die offiziellen Medien aufmerksam studieren, um die aktuellen Sprachregelungen zu kennen und nichts Falsches zu sagen?
Mit summendem Elektromotor fuhren sie durch die Straßen. Die Kälte hatte die meisten Quetzals in ihre Wohnungen vertrieben, doch mitten auf einer Kreuzung lag eine nackte Leiche mit klaffender Wunde in der Brust.
»Ack!«, schimpfte die Taxifahrerin, als ihr Wagen auf dem gefrorenen Blut schlingerte. »Da konnten einige nicht warten, bis die Große Pyramide fertig ist.«
»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?«
»Was soll ich sagen? Gestorben wird in Berlin schon immer. Mir ist mal einer mit einer Schusswunde im Taxi verreckt. Seine Kumpels haben mich gerufen, weil kein Krankenwagen kam.«
Ein Polizeiwagen fuhr an ihnen vorbei und die Taxifahrerin meinte: »Na, die fahren jetzt so viel Streife, wie lange nicht mehr. Nur an die Quetzals trauen sie sich nicht ran.«
Das Taxi hielt neben der M-Bahn-Station, wo Arbeiter im Schein greller Lampen mit der Instandsetzung beschäftigt waren. Mercy stieg aus, bezahlte und ging die Straße hoch. Schon am ersten der langgestreckten Häuserblöcke fand sie, was sie suchte.

NOCH 4
WOHNUNGEN
FREI

stand auf einem handgemalten Schild. Sie hob ihren Koffer und trat in das Foyer des Hauses. Vor einem dunklen und leeren Büro klebte ein Schild:


FREI
205, 403
505, 311

Mercy entschied sich für 403 und strich die Zahl mit ihrem Lippenstift durch.
Mercys neue Wohnung war vollständig ausgeräumt, sogar die Gardinen waren von den Fenstern genommen worden. Sie rief einen Lieferservice an und das Versprechen eines üppigen Trinkgeldes sorgte dafür, dass Mercy die erste Nacht ihres neuen Lebens in einem Faltbett schlafen konnte. Traurig dachte sie daran, dass die Möbel ihrer alten Wohnung ebenso unter Plünderern aufgeteilt werden würden, wie die in dieser Wohnung. Eine Träne lief auf das Kissen. Noch eine. Sie weinte und konnte nicht mehr aufhören.
Graues Licht sickerte durch die Fenster und Mercy drehte sich auf die andere Seite und zog das Kissen über den Kopf. Doch sie war nicht mehr müde und untätig im Bett zu liegen machte alles nur noch schlimmer. Lustlos warf sie die Bettdecke beiseite und stand auf. Einkaufen war angesagt. Zum Glück behielt das Geld seinen Wert und ihre Ersparnisse reichten noch einige Zeit. Ihr Koffer enthielt genug Kleider für die nächsten Tage, darunter auch ein schwarzes Hosenkleid: Pullover, Hose und über der Hose ein bodenlanger Rock. Es war herrlich warm, bequem und auch ein bisschen erotisch und Mercy hätte es auch als Mann getragen. Ihre Tage als Mann waren allerdings vorbei. Sollten die Leute sie für eine Bio-Frau, eine Transsexuelle oder einen Transvestiten halten, war sie sicher. Doch Manfred Limberg würde auf dem Opferstein enden.

Das Büro im Foyer war hell erleuchtet und davor standen ein Tisch und Stühle. Oben am Fenster hing ein Transparent:

VIERTELRAT MÖCKERNBRÜCKE

Ein großer Mann mit langen, dunkelblonden Haaren steckte den Kopf aus der Bürotür und fragte: »Möchtest du einen Kaffee?«
»O ja«, platzte Mercy heraus, dann fragte sie: »Was ist ein Viertelrat?«
»Wir sorgen dafür, dass es hier weiter läuft.«
»Die Große Schlange regiert doch«, entgegnete Mercy resigniert.
»Die Große Schlange macht Chaos.« Der Mann schüttelte den Kopf, so dass seine Haare hin und her schwangen. »Ich weiß es, ich war selbst ein Quetzal. War geil, mit all den anderen nackt durch die Straßen zu laufen und zu schreien.« Er lächelte flüchtig. »Dann nahmen wir SPEID. Ich hatte das große Glück, mit Kotzen, Nasenbluten und Kopfschmerzen davon zu kommen. Wenn du magst, kannst du einkaufen. Die anderen kommen gleich und wir wollen frühstücken.« Er drückte Mercy einen Zettel aus elektronischem Papier mit einer Einkaufsliste in die Hand. »Hast du Geld, ja? Im Kaufhaus bei der Bibliothek haben sie schon was.«
Durch das große Kaufhaus gegenüber der Quetzalcoatlus-Bibliothek (der früheren William-Bush-Gedenkbibliothek) zog kalter Wind, weil die Quetzals die Panzerglasscheiben aus den Rahmen gerissen hatten. Drinnen gab es leere und umgestürzte Regale und einige Rollpaletten mit Waren. Mitten im Raum stand ein großer Backofen und in einer Ecke saßen einige Männer und Frauen um einen Tisch und diskutierten heftig. An der Wand gegenüber den aufgebrochenen Fenstern hing ein Transparent:

VIERTELRAT MÖCKERNBRÜCKE
* VERKAUFSORGANISATION *
Mercy trat auf die Menschen am Tisch zu und sagte: »Ich brauche Butter, Brötchen, Milch und Kaffee, Marmelade, Honig, Erdnussbutter, Sirup und Eier.«
Eine Frau stand auf, ging zu den Kisten, holte Lebensmittel hervor und stellte sie vor Mercy auf den Verkaufstisch. »Honig und Eier kommen heute Mittag mit dem Truck aus Brandenburg«, erklärte sie. »Erdnussbutter gibt es in ganz Berlin nicht mehr.«
Mercy bezahlte und kehrte mit ihren Einkäufen in ihr neues Wohnhaus zurück. Im Foyer saßen bereits einige Männer und Frauen an dem Tisch und im Büro. Der Mann mit den langen Haaren nahm Mercy die Lebensmittel ab und fragte: »Wie heißt du eigentlich?«
»Mercy.«
»Ich heiße Ulf.«
Ein mittelgroßer Mann mit schwarzen, schulterlangen Haaren und sorgsam gestutztem Vollbart kam in das Foyer. Er trat auf Ulf zu und fragte: »Sind Sie der Verantwortliche des Viertelrates?«
»Einer davon, ja.«
»Ich bringe Geld und Grüße der Großen Schlange.«
»Das nehmen wir doch gern an.« Ulf lächelte gequält. Der Diener der Großen Schlange reichte ihm einen dicken Umschlag und erklärte: »Das sind fünfzigtausend Euro in bar. Leider sind noch keine Transaktionen über Datenleitung möglich, deswegen diese Umstände.«
»Kein Problem, ich bringe es gleich in die Viertelbank«, entgegnete Ulf und steckte den Umschlag weg. Mercy betrachtete verstohlen den Quetzal. An den Vollbart und das ebenmäßige Gesicht konnte sie sich noch von Empfängen des Bürgermeisters und aus Nachrichtensendungen erinnern, nur die Haare waren jetzt länger. Es war Lukius van Wright, ehemals Superintendent und Oberster Armenpfleger der Reformierten Allgemeinen Kirche für das Bistum Berlin. Er hatte es nicht nur geschafft, den Kiefern der Großen Schlange zu entgehen, sondern war sogar zu einem ihrer Diener geworden.
»Äh, Ulf«, begann sie, als van Wright gegangen war. »Können wir nachher zur Viertelbank gehen? Ich will mir die einmal ansehen.«
»Gern.«
Da Mercy fürchtete, ihre Ersparnisse durch Einbruch oder Raub zu verlieren, nahm sie sie mit, um sie in der »Viertelbank« zu deponieren. Auf dem Weg dorthin flüsterte sie: »Passt auf mit diesem Schlangendiener. Ich kenne den noch aus der Zeit, als er in der Gefallenen Kirche war.«
»Die sind doch alle ausgetreten oder Kellerchristen geworden.«
»Einen wie Superintendent Lukius van Wright hält es in keinem Keller. Und der Glaube spielt für solche Leute keine Rolle.«
»Du scheinst dich ja gut auszukennen mit Leuten von der Alten Ordnung.«
»Sollte ich auf dem Opferstein landen, dann nicht allein!«, zischte Mercy. Wenn es zum Schlimmsten käme, würden ihr ein pflichtvergessener Diener der Großen Schlange und ein Diener des Gefallenen Gottes in den Rachen der Schlange folgen.
»So hat jeder seine kleinen Geheimnisse.« Ulf lächelte bedrückt. »Ich hoffe, du wirst nicht mich anzeigen, weil ich von den Quetzals abgehauen bin.«
»N nein, natürlich nicht.«
 



 
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