Teil 22 * Berlins neues Symbol

Mehrere Jahrzehnte war der 1969 fertiggestellte Fernsehturm am Alexanderplatz das Wahrzeichen Berlins und mit 368 Metern Höhe das höchste Bauwerk Deutschlands. Nach dem Fall der Mauer wurden aus konservativen Kreisen Rufe laut, den zu DDR-Zeiten errichteten Fernsehturm ebenso abzureißen wie den »Palast der Republik«. Diese Bestrebungen konnten sich nicht offen durchsetzen. Dann tötete ein Brand im Foyer des Fernsehturms über hundert Menschen. Der Brand wurde islamistischen Extremisten angelastet, doch es gab nie eine Verurteilung seiner Urheber. Als Verdächtige festgenommene Einwanderer aus islamischen Ländern mussten freigelassen werden oder wiederriefen ihre Geständnisse. Eine Frau beging in der Untersuchungshaft Selbstmord.
Nach dem Brand wurde der Fernsehturm für den Publikumsverkehr gesperrt. Pläne zu seiner Renovierung scheiterten am fehlenden Geld bei dem in Finanzangelegenheiten stets klammen Berliner Senat. Ein Erdbeben, das vom Rheingraben bis nach Berlin ausstrahlte, brachte den Turm in eine bedenkliche Schieflage. Wegen akuter Einsturzgefahr musste er abgerissen werden und das wiederaufgebaute Stadtschloss beherrschte allein den Alexanderplatz.
Die Konservativen hatten gesiegt, doch die Vorgänge weckten in ihren eigenen Reihen Zweifel. »Es ist wie der Reichstagsbrand«, hatte Karl-Arnold nach einem langen Tag und nicht mehr ganz nüchtern zu Manfred in der Parlamentskantine geflüstert. »Die Islamis mussten als Schuldige herhalten, so wie immer.«
Manfred zuckte die Achseln. Den Schuldzuweisungen im »Kampf gegen den Terror« glaubte er schon lange nicht mehr. Wer in das Mahlwerk von Geheimdiensten, Politik, Justiz und Medien kam, entschied nicht tatsächliches Verhalten, sondern politische Opportunität. Mehr aus Höflichkeit als aus Interesse fragte er: »Aber warum sollte jemand den Fernsehturm abbrennen?«
»Weil er ein nationales Wahrzeichen war. Selbst wer die DDR und Ulbricht gehasst hatte, identifizierte den Fernsehturm nicht damit, sondern mit Deutschland und Berlin.«
»Jetzt haben wir das Stadtschloss.«
»Pah.« Karl-Arnold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da feiern sie die fröhliche Kopulation reaktionärer feudaler und bourgeoiser Traditionen. Man könnte zum Kommunisten werden, wenn man das sieht!«
»Das bist du für deine Parteifreunde doch schon.«
»Ja.« Karl-Arnold lachte. »Er denkt, also ist er Kommunist. Dabei waren die Kommunisten zu ihrer Zeit meistens ebenso große Dummköpfe wie jetzt die Konservativen.«
»Die der Nation ihr Wahrzeichen nehmen, wenn ich deine Andeutungen richtig verstanden habe. Ist alles andere als logisch.«
»Die Logik kommt, wenn du begreifst, dass sie gar kein Volk haben wollen, das auf seine Sprache und Kultur, seine Leistungen und seine Geschichte stolz ist. Der Fernsehturm war so eine Leistung und ein weithin sichtbares Identifikationsmerkmal. Das musste weg, damit aus Bürgern Duckmäuser und Untertanen wurden. Sie wollen keine Menschen mit Stolz und Selbstachtung und nehmen ihnen daher alle Symbole und sei es nur der Fernsehturm am Alex!«

Nun allerdings entstand am Alexanderplatz ein neues Symbol und Mercy überlegte, dass, wer immer für den Abriss des Fernsehturms verantwortlich war, damit den Weg für die Quetzals bereitet hatte.
Immer, wenn sie bei klarem Himmel nach Norden sah, erblickte sie gigantische Kräne. Zwischen ihnen wuchs steil ein Bauwerk in die Höhe, das Mercy den Kopf schnell wieder abwenden ließ: die Große Pyramide zu Berlin. Auch des Nachts gingen die Bauarbeiten weiter, ein Luftschiff schwebte über dem Platz und gewaltige Lampen an seiner Unterseite strahlten so hell, dass sie noch aus etlichen Kilometern Entfernung gut sichtbar waren.
Zu allem Übel führte sie ihr Weg eines Tages zum ehemaligen Roten Rathaus, direkt gegenüber der Baustelle der Großen Pyramide. Einen Flügel des Gebäudes hatte die Stiftung »Kulturerbe« mit Beschlag belegt und Mercy musste unbedingt mit ihnen reden. So stöckelte sie zwischen Rathaus und der halbfertigen Pyramide und hörte die Bauarbeiter singen:

Ja, wir bauen eine Stadt!
Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand!
Ja, wir bauen eine Stadt!
Gibst du mir Wasser, geb ich dir Kalk!
Ja, wir bauen eine Stadt!

Die Bauarbeiter, Deutsche, Osteuropäer und sogar zwei Afrikaner, strahlten und scherzten. So viel Begeisterung hatte Mercy noch an keiner Baustelle erlebt. Einer rief ihr prompt zu: »Willst du bei uns anfangen, Süße? Zwanzig Euro die Stunde, musst auch nicht viel machen.«
Alle lachten und Mercy begriff, was »nicht viel« bedeutete. Doch? »Bekommt ihr wirklich zwanzig Euro?«
»Netto auf die Hand. Krankenversicherung kostenlos dazu. N bisschen mehr als vor der Großen Schlange isses schon.«
»N bisschen sehr viel mehr.«
Alle lachten. KZ-Baumeister! Mercy ging ins Rote Rathaus.
Es gab niemand, der dem Spuk ein Ende bereiten konnte! Verzweifelt starrte Mercy auf die Massen, die sich in den Nachrichtensendungen vor den Pyramiden in New York und Tenochtitlan, Los Angeles und Buenos Aires, Paris und Madrid drängten, johlten und schrien. Die Große Schlange hatte die ganze westliche Welt geschluckt und die Weißen huldigten ihr begeisterter als Schwarze oder Indianer. Auch in den Gassen von Kairo und Istanbul und auf den Hügeln von Amman rannten nackte und mit Federn verzierte Menschen und riefen: »Gro-ße Sclan-ge! Gro-ße Schlan-ge!«. In Lahore ragte das erste Drittel einer Pyramide in den blauen Himmel, die fertiggestellt zu den höchsten Bauwerken auf der Erde gehören würde. In Indien schütteten Millionen Neubekehrte der Großen Schlange einen künstlichen Berg auf.
»Alles nur SPEID«, flüsterte Ulf. »SPEID und Geld, das sie verteilen. Aber es verbreitet sich wie ein Lauffeuer.«
»Wenn die Große Schlange in einem Land Fuß gefasst hat, wird es zur leichten Beute für Angreifer«, erklärte Mercy. »Es sei denn, die Große Schlange erreicht auch übel wollende Nachbarn. Sogar Angehörige der Alten Ordnung verbreiten den Schlangenglauben in anderen Ländern, um so ihr eigenes Land vor Angriffen zu schützen.«
»So schaufeln sich alle ihr eigenes Grab«, flüsterte Ulf. Laut fragte er: »Will noch jemand weiter gucken?«
Die anderen schüttelten den Kopf und er stellte einen anderen Kanal ein. Nun zeigte der große Monitor im Foyer anstelle des Kanals der Quetzals die Viertelnachrichten: Berichte über Einbrüche und Schlägereien, die Arbeit der Viertelbanken, Treffen von Kellerchristen und Veranstaltungen über Anarchismus. Mercy sah sich selbst in einem Lernraum der Viertelhochschule, wo sie einen Vortrag über die Geschichte Amerikas hielt. »Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gingen aus den überseeischen Kolonien der Europäer unabhängige Staaten hervor«, sagte ihr Abbild. Ulf meinte: »Untergegangene Kulturen.«
»Ja«, antwortete Mercy tonlos. Mit fester Stimme sagte sie: »Ich muss los.«
Im bauschigem schwarzem Kleid, das ihre Arme frei ließ und nur über den Po reichte, stöckelte sie über die Brücke zur M-Bahn-Station. Auf der Nachrichtentafel neben der Treppe stand:

ERWÄHLTE DER GROSSEN SCHLANGE

Fotos und Namen folgten. Da bei ihm die Datenlöscher ganze Arbeit geleistet hatten, gab es von Manfred Limberg nur ein vom Computer scharf gerechnetes altes und verschwommenes Foto, das einen Mann Mitte Dreißig mit fleischiger Nase, vollen Wangen und Bürstenhaarschnitt zeigte. Darunter stand:

Manfred Limberg, Staatssekretär im Außenministerium des Gefallenen Deutschland. Erwählter der Großen Schlange im Reich von Quetzalcoatlus. Die Große Schlange belohnt den mit 500 000 Euro, der hilft, Manfred Limberg seiner Bestimmung zuzuführen.

Außenminister Sutterling war der Großen Schlange zwei Millionen Euro wert und Staatssekretär Ruters, Manfreds dienstälterer Kollege im Außenministerium, eine Million. Auf die »Dienerin der Gefallenen USA in Berlin« Patrisha Hughes war mit zwei Millionen Euro eine ebenso hohe Belohnung wie auf den ehemaligen Außenminister ausgesetzt, obwohl sie nur eine Diplomatin gewesen war. Schaudernd überlegte Mercy, dass die Diener der Großen Schlange so viel Geld für sie boten, weil sie ihren nackten, weißen Leib nur zu gern auf dem Opferstein sehen würden. Andererseits war ihr Name auf der Fahndungsliste ein Beweis, dass sie noch lebte und in Freiheit war.
»Na, biste auch drauf?«
Mercy zuckte zusammen. Lachend ging der Passant weiter. Ein Bild des Dalai Lama erschien in der Fahndungsliste, in brillanten Farben und gestochen scharf. Mercy erkannte jede Falte und musste lächeln. Das Gerücht ging um, der Dalai Lama hätte den Quetzals selbst aktuelle Aufnahmen von sich geschickt, »um der Großen Schlange ihre Mühen zu erleichtern«.
»Na, dasse den ooch auffer Liste ham, is ja ne Riesensauerei!«, schimpfte eine dickliche Frau mit grauen Haaren, die am M-Bahnhof Pfannkuchen verkauften. Sie fixierte Mercy und sagte: »Willsten Pfannkuchen mit Honig? Du bist so dünn, du könntest etwas Fleisch vertragen. Und mehr Titten, darauf fahren die Kerle am meisten ab.«
Sie lachte, doch Mercy schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
»Wasse mit dem alten Mann«, sie deutete auf das Bild des Dalai Lama, »wollen, is mirn Rätsel.«
»Sie haben Angst vor ihm«, erklärte Mercy. »Er appelliert an das Gute im Menschen und das bricht immer wieder durch, wenn sich die Menschen vor ihren Untaten ekeln. Die Quetzals werden enden wie die Nazis und das weltweit! Kommt dann einer und gewährt dem Mob, der an den Pyramiden gefeiert hat, Absolution, rennen sie dem hinterher. Der Dalai Lama war schon in der Alten Ordnung so einer: das moralische Feigenblatt für einen Haufen Heuchler! Jetzt kann er seine Rolle noch viel besser spielen, weil die Quetzals die Alte Ordnung zerschlagen haben.«
»Ihn auffe Pyramide zu zerren und aufzuschneiden nützt dann ooch nix«, erkannte die Pfannkuchenverkäuferin. »Sowas ham die Römer mit Jesus gemacht und was hats gebracht? Das Christentum!«
»Das wissen die Quetzals auch, aber ignorieren können sie ihn nicht. Sonst taucht er unverhofft aus der Versenkung auf. Sie müssen so tun, als ob er nur wie all die anderen ist, hinter denen sie her sind.« Mercy zuckte mit den Schultern. »Aber ich glaube, wenn sie ihn erwischen, bringen sie ihn um, ohne dass es jemand mitkriegt. Auf den Stein zerren sie ihn nicht. Wie Sie gesagt haben: sie wollen keine Märtyrer schaffen.«
 



 
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