Teil 23 * Transe Mercy

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erschien auf der Anzeige über dem Eingang der M-Bahn-Station und hastig stieg Mercy die Rolltreppe zum Bahnsteig hoch. Sie fuhr einige Stationen bis zur Haltestelle »Bernhard Feldmann«. Besonders eifrige Viertel-Aktivisten hatten den Namen des schwerreichen Sponsors durchgestrichen und darüber in Großbuchstaben den alten Namen NOLLENDORFPLATZ gepinselt. Diesen Namen hatte der Platz rings um die M-Bahn-Station auch behalten, nachdem die Verkehrsbetriebe auf Sponsoring umgestellt worden waren und sich die Sponsoren in ihren Stationen ein Denkmal gesetzt hatten. Von ihrem einstigen Sponsor zeugte nur noch ein großes Fahndungsplakat an einer Tür zur Station. Sie glitt vor Mercy beiseite, sie ging über den Platz und bog in eine Seitenstraße ein. Im Erdgeschoss eines der Häuser befanden sich die Studios von »Epifast«. Mercy wandte sich an die Transe hinter dem Empfang und sagte: »Ich habe für zwölf Uhr einen Termin.«
»Gesicht oder Körper?«
»Ge Gesicht und Körper«, stotterte Mercy.
»Bist du das erste Mal hier?«
»Ja.«
Mercy setzte sich auf einen freien Stuhl. Fast wäre sie aufgesprungen und gegangen. Entbarter reichte doch auch und vielleicht konnte sie bald in ihr früheres Leben zurück.
Auf dem Tisch vor ihr lagen Lesetafeln der verschiedenen Nachrichtengesellschaften, die das Kommen der Großen Schlange und Flucht oder Tod ihrer Besitzer überstanden hatten. Mercy nahm eine Tafel und las:
Ex-Außenminister Sutterling festgenommen

Bonn (dpa). Der ehemalige BRD-Außenminister Ronald Sutterling wurde vor wenigen Minuten in seinem Bonner Wochenendhaus von Dienern der Großen Schlange festgenommen. Wie alle Angehörigen der Regierung des Gefallenen Deutschlands ist Sutterling von der Großen Schlange erwählt und wird ihr bei der Einweihung der Großen Pyramide zu Berlin zugeführt.
Der Diener der Großen Schlange Hilarion Benn-Sterzing wertete Sutterlings Ergreifung als großen Erfolg. »Die Alte Ordnung ist vergangen und ihre Diener werden der Großen Schlange Rechenschaft ablegen müssen«, erklärte Benn-Sterzing. »Ich bin zuversichtlich, dass auch die noch freien Diener des Gefallenen Deutschlands den Weg in den Rachen der Großen Schlange antreten werden.« Der Diener appellierte an die Gesuchten, sich freiwillig zu stellen. »Es ist eine Ehre, von der Großen Schlange erwählt zu werden. Diese Ehre darf man nicht ablehnen.« Er sprach, Er sprach, Er sprach (Er sprach).
Mercy legte die Tafel beiseite. Wurden die Menschen jetzt vollends verrückt? Offenbar hatten selbst die abgebrühtesten Laisseristen die Bereitschaft der Leute, JEDEN Quatsch zu glauben und nachzuplappern, weit unterschätzt.
Vale Manfred Limberg, dachte Mercy. Du überlebst in dieser Zeit so lange wie ein Schneeball in der Hölle.
Sie nahm die Tafel wieder zur Hand und sah nach dem Verfasser der Nachricht: Lukas Landgraf. Ein kleines Licht in der Berliner Polit-Szene, das sich jetzt diebisch darüber freute, dass prominentere Konkurrenten sich bedeckt halten mussten und er die Artikel für Seite Eins schreiben konnte. Ja, der Herr Landgraf, dachte Mercy. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging sie über ihr Mobil ins Netz und suchte nach anderen Artikeln von ihm. Einer fiel ihr auf:

Eine Welt ohne Folter und staatlich befohlenen Mord

Mit dem Kommen der Großen Schlange öffneten sich für alle zu Unrecht Verfolgte die Tore der Gefängnisse. Wer wegen seiner Meinung, der Weltanschauung oder sexuellen Orientierung Repressalien, Folter oder gar den Tod fürchten musste, kann nun aufatmen. Was die Alte Ordnung in den zweihundert Jahren seit der offiziellen Abschaffung der Folter in Preußen nicht geschafft hat, hat die Große Schlange sofort vollbracht: alle Formen körperlicher und seelischer Misshandlung weltweit zu ächten! Das schließt auch die Todesstrafe ein. Jetzt hat kein Land das »Recht«, Straftäter zu ermorden, um Gerechtigkeit zu üben. Nur die Große Schlange darf das Leben eines Menschen nehmen!
Fast hätte Mercy ihr Mobil auf den Boden geschleudert und zertreten. Sehr vorsichtig schaltete sie es aus und steckte es weg.
»Äh, Mercy, du bist dran«, sagte die Transe vom Empfang. »Zimmer drei, zweite Tür links.«
In dem Gang mit den Studios befanden sich vom Boden bis zur Decke reichende Spiegel. Mercy erblickte darin eine Frau in kurzem Kleid, mit hoch gesteckten Haaren und schwarzen Pumps, wegen der Epilierung bis auf die Botu-Maske ungeschminkt. »Bist schön«, flüsterte sie ihrem Ebenbild zu und trat in das Studio.
»Haben Sie sich das auch gut überlegt?«, fragte der Kosmetik-Arzt. »Wir können zwar Haarwurzeln nicht nur entfernen, sondern auch wieder einpflanzen, aber der Aufwand ist beträchtlich.«
»Wie viel kostet die Epilation?«, fragte Mercy.
»Gesicht neunhundert Euro«, antwortete der Arzt. »Körper noch einmal zweitausend bis dreitausend Euro.«
»Und die, äh, Wiederherstellung?«
»Die Grundlage für einen schönen Vollbart zu schaffen kostet zweitausend Euro, Verdichtung des Kopfhaares ungefähr das Gleiche, falls Sie das mal benötigen. Wenn Sie mittellos sind, können Sie Unterstützung von Ihrem Viertel erhalten, Geld oder einen Arbeitskredit.« Der Arzt lächelte kurz. »Manche Dinge haben sich auch verbessert.«
Haben sie das?, dachte Mercy und schlug ihre nur von hauchdünnen Strümpfen bedeckten Beine übereinander. Sie sagte: »Unterstützung brauche ich nicht, ich möchte nur, dass es schnell geht.«
»Selbstverständlich«, antwortete der Arzt. »Wir arbeiten mit Nanodrähten, da merken Sie kaum etwas. Fangen wir gleich an.«
Mercy setzte sich in den Behandlungsstuhl und ließ ihren Kopf nach hinten sinken. Eine Schale schloss sich um ihren Hinterkopf und hielt ihn so sanft als ob sie in Wasser treiben würde. Ein Gerät wie eine Maske schloss sich um ihre Wangen, das Kinn und den Mund. Ihr Gesicht wurde taub und so saß sie eine halbe Stunde da. »Fertig!«, sagte der Arzt und nahm den Epilierer von ihrem Gesicht. Er sprühte eine ölige Substanz auf die Haut und erklärte: »Die Heilsalbe desinfiziert und beruhigt die gereizte Haut. Lassen Sie sie ein, zwei Stunden wirken, dann können Sie sie abwaschen. Morgen geht es weiter!«
Nach Mercys Gesicht folgten Arme und Beine, Brust und Bauch. Drei Fünfer schlängelten sich vom zweiten bis zum vierten Tag Nanodrähte in die Haarwurzeln auf ihrem Körper und zerstörten sie. Zunächst waren die behandelten Stellen von der örtlichen Betäubung gefühllos, dann brannten sie trotz der Heilsalbe und zum Schluss waren sie angenehm glatt. Verdichtung des Kopfhaares hatte Mercy schon gemacht, als sie noch der aufstrebende Referent Manfred Limberg gewesen war.
Das Wissen von Manfred Limberg nutzte Mercy weiterhin. In ihrer Viertelhochschule gab sie Kurse in Geschichte, Englisch und Geografie, half beim Ausbau des Datennetzes zu den anderen Hochschulen, die in Stadtvierteln überall in Berlin und anderen Städten entstanden und entwickelte Lehrpläne. Das Wissen der Welt vor dem Wahn der Großen Schlange zu retten war wichtiger als alles andere und so arbeitete sie oft bis nach Mitternacht.
»Wenn im Viertelhaus nur in einem einzigen Büro noch Licht ist, kann man sicher sein, dass du da drin bist«, meinte Ulf.
»Dann gehen die Lichter jedenfalls nicht ganz aus«, entgegnete Mercy. »Kannst du morgen die Backups für die Lernprogramme checken?«
»Morgen kann ich gar nichts, weil da Fünfttag ist und ich mal ausschlafen will.« Ulf langte nach dem Lichtschalter. »Du solltest das auch tun und den 5-1-Dienst Teymen und Lisa überlassen.«
Die Große Schlange hatte nicht nur das organisierte Christentum und seine Schwesterreligionen entmachtet, sondern auch die Sieben-Tage-Woche abgeschafft. An ihrer Stelle gab es die »Fünfer«, Einheiten zu fünf Tagen, von denen der letzte und erste Tag, die 5-1-Tage, arbeitsfrei waren. Mercy hatte an diesen Tagen meistens an ihrer Idee eines weltumspannenden und die Zeiten überdauernden interaktiven Wissensarchivs gearbeitet. Nun beschloss sie, die kommenden zwei Tage nicht zu arbeiten und nach dem Ende der Epilierung mal richtig Frau zu sein. Sie stand auf, schaltete ihren Computer aus, nahm ihre Handtasche und sagte: »Ich muss mich umziehen, dann gehen wir ins Transfer.«
Für die neu eröffnete Cafébardisco gönnte sich Mercy einen schwarzen Rock, der kaum mehr als ein breiter Gürtel war, hauchdünne Strümpfe und ein Oberteil an dünnen Trägern, das einen Streifen Bauch frei ließ. Am Eingang des »Transfer« hob Ulf ihren Rock und entblößte die mit Rouge geschminkten Hinterbacken. »Die werden bald noch röter«, lachte der Türsteher. »Ihr könnt so rein.«
Ohne bezahlen zu müssen, passierten Ulf und Mercy die Sperre. »Praktisch, mit dir auszugehen«, meinte er und zog ihren Rock wieder herunter. An Tischen und auf Stühlen, an Tresen und auf den Tanzflächen drängten sich die Menschen. Die früher stets mit Geld klammen Berliner ließen es sich gut gehen, aßen und tranken und zahlten mit den neuen, bunten Scheinen mit dem Antlitz Quetzalcoatls. »Arik, Beni, bringt das zur Viertelbank!«, rief Paul, der Besitzer des »Transfer«, und winkte den beiden schwer bewaffneten Secs, die Mercy noch als Sicherheitsleute bei der israelischen Botschaft kannte. Paul reichte ihnen je eine Geldbombe und sie marschierten damit an Mercy vorbei, ohne sie zu erkennen.
»Die Große Schlange macht Party!« Paul füllte ein Glas Sekt für Mercy und reichte Ulf einen Humpen Ale. »Prost, geht aufs Haus.«
»Prost.« Ulf und der Wirt ließen die Humpen klirren, doch Mercy sah, dass Paul an seinem Bier nur verhalten nippte, während Ulf es in großen Zügen trank. »Prost«, machte sie und trank. »Noch einen!«
Die Tanzfläche lockte und wenn sie schon Frau sein musste, dann richtig! Selbstvergessen drehte sich Mercy zur Musik und als Ulf zum Ausgang deutete, schüttelte sie nur den Kopf. So ging er allein nach Hause. Mercy ließ sich noch einen Sekt von Paul ausgeben und tanzte weiter.
»Na, das ist aber eine Überraschung!« Sina lachte hell und laut. »Der Erwählte der Großen Schlange Manfred Limberg tanzt und ist fröhlich.«
Einige Gäste hielten das für einen guten Witz und lachten. Mercy brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie entdeckt war. Ack! Ack! Ack! Sie musste der einzigen Person, die sie als Mann und Frau kannte, nur ein paar Meter von ihrem neuen Zuhause entfernt über den Weg laufen! Im »Transfer« war sie vor den Quetzals sicher, da Paul die wegen des Rufes seiner Bar hier nicht duldete. Doch Sina musste nur über ihr Mobil eine Meldung machen und Mercys Bild durchgeben, dann würden die Quetzals sie früher oder später erwischen. Dann kam sie noch rechtzeitig zur Einweihung der Großen Pyramide auf den Stein und Sina war um eine halbe Million Euro reicher. Was sie wohl mit dem Geld tun würde? Vielleicht ein Bordell aufmachen, das war ebenso Erfolg versprechend wie das »Transfer«. Mercys Herz klopfte bis zum Hals und mit einem Kloß im Hals ging sie auf Sina zu. »Du kannst mich haben! Lebend bin ich dir mehr wert.«
»Als Nutte kriegst du nie eine halbe Million zusammen, dazu ist die Konkurrenz zu groß.« Sina ließ ihre Hand zwischen Mercys Oberschenkel gleiten. »Schade wäre es um dich aber schon, du kommst gut als Frau.«
»Danke.« Mercy kniete vor ihr und küsste ihre Hände. Sina strich ihr durchs Haar, zog sie zu sich hoch und küsste sie. »Der Stein kann warten. Vorher will ich sehen, was du wert bist.« Um Sina noch mehr zu erregen, nahm Mercy ihre Hand und führte sie unter ihren Rock. Tatsächlich seufzte Sina zufrieden, aber auch durch Mercy zuckte Erregung. »Komm, lass uns gehen«, flüsterte Sina und Mercy nickte stumm, vor Erregung unfähig, zu sprechen.
 



 
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