Teil 24 * Die Große Pyramide

Grünlich schimmernd und an den Rändern etwas unscharf erhob sich die Große Pyramide zu Berlin über dem Alexanderplatz. An ihren vier Seiten führten breite Treppen bis zur Plattform auf der Spitze. Dort befanden sich der Opferstein und ein Loch, durch das Überreste der Opfer geworfen werden sollten. Mercy schauderte. Das waren nicht mehr Bilder in den Nachrichten. Das war hier und jetzt. Vor ihren Augen. Freiwillig wäre sie nie auf den Alexanderplatz gegangen. Sina hatte darauf bestanden, zweifellos, um sie zu ängstigen und gefügig zu machen. Ihre Liebhaberin strich über Mercys Schenkel und flüsterte: »Schau es dir gut an. Das gibt sicher eine interessante neue Datei für dein Wissensarchiv.«
»Es ist krank!«
»Hat das jemals wer bestritten?«
Vor den Opferungen erschienen an riesigen Schautafeln an den Seiten des Alexanderplatzes die Bilder noch flüchtiger Erwählter der Großen Schlange. Mercy erkannte das kantige Gesicht von Senator Thompson und las darunter: »Eine Milliarde Euro sind dem gewiss, der hilft, den ehemaligen Diener der Gefallenen USA Cyrus Thompson mit der Großen Schlange zu vereinen.«
Eine Milliarde! Aufgeregt überlegte Mercy, dass die Quetzals nicht ohne Grund so eine exorbitante Belohnung für Thompson aussetzten. Vielleicht war er nicht nur in Freiheit, sondern TAT etwas gegen diese Wahnsinnigen.
»Mehr als für den Präsidenten.« Sina pfiff durch die Zähne. »Dann muss dieser Thompson ein besonders großes Arschloch gewesen sein.«
»Thompson ist kein Arschloch!« Mercy senkte die Stimme und sprach weiter: »Er war einer der wenigen Egalitaristen im Senat und wollte sogar die USA auflösen, um ganz neu anzufangen.«
»Dann hat er sein Ziel ja erreicht. Aber jetzt geht es los.«
Auf der Plattform erschien eine gebeugte Gestalt, die Mercy nur zu gut kannte: der Außenminister des Gefallenen Deutschlands, Ronald Sutterling. Sie zuckte zusammen. Bald würde ihr ehemaliger Dienstherr auf dem Stein liegen und einer dieser Wahnsinnigen in seine offene Brust greifen. Um das noch schlagende Herz heraus zu reißen.
»Contenance, Schätzchen«, sagte Sina, die ihre Gedanken erriet. »Und hingucken! Los, du sollst alles sehen!«
»Fick dich!«, flüsterte Mercy.
»Später.«
Ein Quetzal trat neben Sutterling und seine Stimme hallte über den Alexanderplatz: »In ihrer Güte und unermesslichen Weisheit hat Quetzalcoatlus, die Große Gefiederte Schlange, das Flehen um Gnade des Dieners des Gefallenen Deutschlands Ronald Sutterling erhört. Ronald Sutterling soll leben und in Frieden alt werden!«
Unendlich erleichtert sah Mercy zu der Pyramide hoch. Schritt für Schritt ging Sutterling eine ihrer Treppen herunter und erreichte den Boden. Die Zuschauer bildeten eine Gasse und er ging zu einem der Taxis. »Weg hier«, flüsterte er. »Bringen Sie mich weg!«
»Nenee«, entgegnete der Taxifahrer. »Die haben den Etterling und det will ick nich verpassen!«
»Kommen Sie, ich fahre Sie«, sagte eine Taxifahrerin und zischte ihren Kollegen zu: »Sadistisches Schwein!«
Sie öffnete die Tür des Wagens und half dem ehemaligen Außenminister hinein. Sic transit gloria mundi, dachte Mercy, als sie sah, wie Ronald Sutterling zitternd auf den Rücksitz kletterte. Die Fahrerin musste ihn unter der Achsel festhalten, damit er nicht stürzte. »Ich habe sie gesehen«, jammerte er. »Leibhaftig!«
»Schon gut«, sagte die Fahrerin. »Es ist vorbei, beruhigen Sie sich.«
Sie machte die Türen ihres Taxis zu und raste mit quietschenden Reifen davon.
Auf der Plattform erschien Bruno Etterling, letzter Kanzler des Gefallenen Deutschlands. Er hielt sich aufrecht und gerade, war nicht gebrochen wie sein Außenminister. Sein Vollbart und die Haare waren ordentlich frisiert und er trug einen adretten anthrazitfarbenen Anzug. Sina stieß Mercy in die Seite: »Er tut so, als ob er noch immer Kanzler ist.«
»Ist er das nicht? Er hat nie seinen Rücktritt erklärt und es gab weder eine Abwahl noch ein Amtsenthebungsverfahren.«
»Was er ist, wirst du gleich sehen!«
»Mitbürger!« Etterlings Stimme hallte über den Alexanderplatz. »Ich beschwöre Sie, machen Sie dem irrsinnigen Treiben ein Ende und lassen Sie uns die Probleme gemeinsam lösen. Kehren wir zur verfassungsmäßigen Ordnung zurück und bauen unser Land neu auf. Ich weiß, wir müssen wieder Vertrauen zueinander finden nach dem, was geschehen ist. Aber das ist möglich und nur so können wir die Wahnsinnigen, die dieses Schandmal errichtet haben, stoppen!«
Die Menschen um die Pyramide sahen sich skeptisch an und Mercy begriff: die Quetzals ließen Etterling reden, weil sie wussten, dass seine Phrasen ins Leere laufen würden. »Mitbürger. Probleme gemeinsam lösen. Unser. Verfassungsmäßige Ordnung. Vertrauen.« Es waren die Elemente aus einem Rhetorikbaukasten, aus dem sich Politiker der BRD und der DDR fast ein Jahrhundert lang bedient hatten. Viel zu oft hatte diese Rhetorik nur dazu gedient, die Menschen über die wahren Absichten derjenigen zu täuschen, die angeblich zum Wohle des Volkes regierten. »Man kann ein ganzes Volk eine Zeit lang belügen. Man kann einen Teil des Volkes für immer belügen. Aber man kann nicht ein ganzes Volk für immer belügen.« Wer hatte dieses Abraham Lincoln zugeschriebene Sprichwort zitiert? Sina applaudierte spöttisch und erst jetzt begriff Mercy, dass sie es selbst mit leiser Stimme gesagt hatte.
»Es sind Fehler gemacht worden!« Etterling breitete beschwörend die Arme aus. »Aber Fehler kann man korrigieren und lassen Sie uns das gemeinsam anpacken!«
»Ja, Fehler wurden gemacht«, flüsterte Mercy. »Idiot!«
Die Leute um sie nickten beifällig.
»So muss es nicht enden!« Jetzt schrie Etterling. »Lassen Sie uns diesen Wahnsinn sofort beenden, um uns wieder wie zivilisierte Menschen zu benehmen!«
»Zivilisiert?!« Eine Frau schrie. »Meine Tochter haben sie im AC so fertig gemacht, dass sie in der Psychiatrie gelandet ist. War das zivilisiert? Ich sag dir, was das war, du Schwein! Ein Verbrechen war das und dafür kommst du jetzt auf den Stein!«
»Auf den Stein!«
»Auf den Stein!«
»Auf den Stein!«
»AUF DEN STEIN!«
Mercy hielt sich die Ohren zu, doch Sina schlug ihre Hände herunter: »Wir wollen doch nichts verpassen als Zeitzeugen! Dein Kanzler geht jetzt in die Geschichte ein!«
Plötzlich standen Quetzals neben Etterling, packten ihn an Armen und Beinen und hielten ihn hoch in die Luft. Ein Quetzal rief: »Die Große Gefiederte Schlange hat den Kanzler des Gefallenen Deutschlands dem Urteil seines Volkes überlassen. Sein Volk hat sein Urteil gesprochen und nun wird es vollstreckt!«
»Nicht! Aufhören! Es reicht!«, rief Mercy, doch keiner hörte sie. Noch immer schrien die Zuschauer: »Auf den Stein!« Etwas prasselte wie Hagelkörner. Pillen mit SPEID, von den Quetzals in die Menge geworfen, um sie weiter aufzuputschen.
Die Quetzals warfen Etterling auf den spitzen Opferstein, der sein Rückgrat nach oben drückte und Bauch und Brust hervorwölbte. »Nein!« »NEIN!« Jetzt schrie Etterling nur noch. »NEIN!«
Der Opferpriester, ein riesiger nackter Kerl mit behaartem Leib, langen dunkelbraunen Haaren und zottigem Bart, von Kopf bis Fuß mit Federn beklebt, hob etwas, das wie ein Faustkeil aussah. Immer wieder fuhr das Steinmesser auf Etterling herab und zerfetzte seinen Anzug, Krawatte, Unterhemd und Unterhose. Etterlings Schreie hatten nichts Menschliches mehr, doch noch lauter als er schrie der Mob:
»AUF DEN STEIN!«
»AUF DEN STEIN!«
»AUF DEN STEIN!«
Auch Sina schrie, bis Mercy ihr ins Gesicht schlug. Sie blickte Mercy an, als ob sie aus einem Traum erwacht wäre.
Etterlings Schreie gellten über den Alexanderplatz. Ein Quetzal trat immer wieder gegen seinen Kopf, bis die Schreie abbrachen. Vermutlich war er bewusstlos oder schon tot und Mercy fragte sich, ob der Quetzal das praktiziert hatte, was bei ihnen als Mitleid galt. So spürte der ehemalige Kanzler nichts mehr, als der Opferpriester das scharfe Steinmesser in seine Brust senkte, sie aufschnitt und das Herz heraus riss. Hoch hielt er es in die Luft und schrie: »So stirbt der letzte Kanzler des Gefallenen Deutschlands!«
»So stirbt der letzte Kanzler des Gefallenen Deutschlands!«
Eine Stimme dröhnte über den Alexanderplatz und über den Opferstein erhob sich ein massiger Kopf mit vier Augen, darunter ein riesiger Schlangenleib.
»Ich bin Quetzalcoatlus, die Große Gefiederte Schlange und Bruno Etterling hat Mir Rechenschaft abgelegt! So wie ich sein Leben genommen habe, werde ich sein Herz nehmen!«
Der Kopf senkte sich und der Opferpriester warf Etterlings Herz in das riesige Maul.
»Die Große Gefiederte Schlange hat Etterlings Herz genommen!«, schrie er. »Preist Quetzalcoatlus!«
»Quet-zal-co-at-lus!«, schrien die Quetzals und das Ding, Roboter? Biotech-Konstrukt?, verschwand wieder in der Pyramide.
Der von Etterlings Blut rot gefärbte Opferstein sank nach unten und als er wieder zum Vorschein kam, war auf ihm ein nackter Mann, mit Händen und Füßen an seine vier Ecken gefesselt. Der Opferpriester hob sein Steinmesser hoch in die Luft und Mercy starrte auf ihre Fußspitzen und hielt sich die Ohren zu. Sina nahm sie in die Arme und flüsterte: »Es tut mir Leid, unendlich Leid. Ich habe diese Schweine so gehasst, den Etterling und all die kleinen Dreckschweine unter ihm. Aber ich.« Sie schluchzte haltlos.
»Schon gut.« Mercy erwiderte ihre Umarmung und nun hörte sie die Schreie von der Spitze der Pyramide. Es waren Lustschreie, laute, gellende Schreie der Ekstase, die erst abbrachen, als der Opferpriester dem Opfer das Herz heraus riss. Mehr wollte Mercy nicht sehen, doch sie war unfähig, sich zu bewegen und rings um sie und Sina drängten sich Schaulustige und nackte, bunt bemalte und mir Federn beklebte Quetzals.
Das nächste Opfer, eine junge, langgliedrige Frau, schrie sein Leben ebenfalls in Geilheit und Ekstase heraus. Erst jetzt sah Mercy die Fleischstückchen, die von der Spitze der Pyramide flogen und von den Quetzals aufgesammelt und gierig gegessen wurden. Jeder Erwählte wurde in kleine Stücke zerteilt und sein Fleisch unter die Anhänger der Großen Schlange verteilt. Die waren rings um die Große Pyramide bald unter sich. Zusammen mit anderen Zuschauern zwängten sich Mercy und Sina zum Rand des Alexanderplatzes. »Zum Kotzen, wie die Nazis!«, schimpfte eine alte Frau und die Umstehenden nickten. »Nach Etterling hätten sie aufhören sollen«, meinte ein Mann.
»Schon vorher!«, widersprach Mercy. »Das Schwein abzusetzen hätte genügt.«
»Das nun nicht«, entgegnete eine Frau. »Er musste totgemacht werden, damit er nicht seine Kontakte für einen Putsch nutzen konnte.«
»Seine Kontakte sind entweder tot oder auf der Flucht, da hätte er nichts nutzen können.«
Ein Knall ließ Mercy zusammenzucken. Sie sah wieder zur Pyramide.
Es war ein Schuss aus einem der umliegenden Hochhäuser. Ihm folgte noch einer, der den hoch gewachsenen Opferpriester traf. Er schwankte, hielt sich aber aufrecht und schrie: »Nehmt mein Fleisch und werdet zu meinem Fleisch! Nehmt mein Fleisch, so wie euer Fleisch genommen wird!«
Kugel auf Kugel schlug in ihn ein. Schon der erste Schuss hätte einen normalen Menschen getötet, doch er hielt sich unnatürlich lange aufrecht. »Mein Fleisch ist euer Fleisch!«, schrie er. »Nehmt mein Fleisch und euer Fleisch wird genommen!« Endlich legte der Schütze ein Dum-Dum-Geschoss ein und zielte auf seinen Kopf. Er traf und der Kopf des Priesters zerplatzte in einer Explosion wie eine blutrote Blume. Sein kopfloser Leib wäre vielleicht noch aufrecht geblieben, doch die Kollegen des Priesters packten ihn, zerteilten ihn und warfen sein Fleisch unter die Quetzals am Fuße der Pyramide. In die kam nun Bewegung, ihre nackten Leiber zuckten und wogten hin und her wie ein einziges, großes Lebewesen. Sie sind randvoll mit SPEID, begriff Mercy. Die Priester, die Opfer, alle!
Immer hektischer wurden die Bewegungen der nackten Quetzals. Gekrümmte Finger mit langen Fingernägeln fuhren in nackte Haut, rissen Fleischstücke heraus und führten sie in wartende Münder. Zähne bissen in Leiber und die Gebissenen schrien freudig auf, von SPEID so aufgeputscht, dass sie es nicht erwarten konnten, zerrissen zu werden. Das SPEID in den Leibern der Zerfleischten trieb die, die davon gegessen hatten, zur Raserei, sie töteten oder wurden getötet und es war ihnen egal. In die Lustschreie mischte sich Hysterie, Erkennen und Entsetzen. Nach und nach lösten sich Quetzals aus dem blutigen Pulk um die Große Pyramide und rannten schreiend und johlend durch die Straßen.
Ärzte, Polizisten und Feuerwehrleute kamen auf den Platz. Die Ärzte versorgten verletzte Quetzals und die Feuerwehr äscherte die mit SPEID angereicherten Leichten ein. Ein Trupp Polizisten stürmte im Laufschritt auf die Spitze der Großen Pyramide und führte die dort verbliebenen Priester der Großen Schlange ab.
Trotz ihrer hohen Stöckel rannte Mercy zu den Polizeiautos und tobte: »Warum seid ihr Fettärsche nicht vorher gekommen?«
»Weil sie uns vorher so zerfleischt hätten wie sich selbst«, entgegnete ein Polizist. »Wir können nur auf den Platz, wenn alles vorbei ist und sie zu KO sind, um noch auf jemand los zu gehen. Die Vögel da«, er deutete auf die mit Federn geschmückten Opferpriester, »sind entweder bald auf Kaution draußen oder den Quetzals ist es egal, ob sie im Knast verschimmeln. Hör lieber auf, dich aufzuregen und Beamte zu beleidigen. Mach dir noch ein paar schöne Tage und sei froh, dass die Große Schlange nur in Partylaune ist.«
»Ich wünschte, ich wäre tot!«, explodierte Mercy, doch Sina, die ihr gefolgt war, zerrte sie von den Polizisten weg. »Hör auf!«, zischte sie. »Ich geb ja zu, dass es eine Riesendummheit von mir war, uns hier hin gehen zu lassen. Aber hör jetzt auf und mach dich nicht selbst kaputt!«
 



 
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