Teil 26 * Ein Hilferuf

Ein Schrei ließ Mercy senkrecht im Bett stehen. Hatte sie wieder von den Opferungen geträumt und im Schlaf geschrien? Der nächste Schrei folgte, noch lauter. Es war ihr Mobil. Verdammt, wo hatte sie es hingelegt? Den Schreien folgte haltloses Weinen, das aus ihrem Wäschekorb kam. Mercy wühlte in getragenen Schlüpfern, Unterhemden und Pullovern und fand das Mobil in einer Tasche ihrer schwarzen Jeanshose.
»Manfred, du musst mir helfen«, schluchzte Daniela. »Ich habe dem Schwein den Schwanz abgebissen.«
»Hier ist kein Manfred«, sagte Mercy. »Ich bin es, Mercy. Ich habe das Mobil gebraucht gekauft und jetzt rufen alle an und denken, ich sei Manfred.«
»Ich bin in der Pyramide am Alex, im Wachraum«, sagte Daniela. »Da, rechts.« »Hier ist kein Manfred«, sagte Mercy und beendete die Verbindung.
Es konnte eine Falle sein. Jemand wollte den Erwählten der Großen Schlange Manfred Limberg aus der Reserve locken und sich die kürzlich auf zwei Millionen Euro erhöhte Belohnung verdienen. Allerdings hatte dann dieser Jemand die Geheimnummer, die nur wenige gute Freunde kannten. Zu ihnen gehörte Daniela. Wenn das wahr war, was die Konservativen über Ehre und Anstand von sich gegeben hatten, würde sie sich weder freiwillig noch gezwungen dafür hergeben, Manfred auf den Stein zu bringen. Eher würde sie, ach du Scheiße!
Mercy wollte schon in eine bequeme Damenhose steigen, da entschied sie, dass ihr kürzester Rock, dünne Strümpfe und die höchsten Pumps für ihr Vorhaben besser geeignet waren. Dazu nahm sie die Handtasche mit dem stahlverstärkten Boden. Ganz gegen ihre Gewohnheit setzte sie eine Perücke aus glattem schwarzem Echthaar auf und steckte für Daniela ihre blonde Perücke ein. Beide hatte sie nie getragen und so konnten sie nicht so leicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Schminken musste sie sich im Taxi, denn es war keine Zeit mehr zu verlieren. Daniela hatte ihr erzählt, dass die harten Radikalen für den »Tag X« nicht nur Waffen bereithielten. Viele würden auch Giftkapseln bei sich tragen, um im Fall einer Gefangennahme nicht unter Folter Genossen und Kameraden zu verraten. Daniela hatte selbst über diese Polit-Romantiker gelacht. Doch nun? Mit Sicherheit hatte sie sich selbst eine Giftkapsel besorgt und wenn ihre Nerven versagten, würde sie draufbeißen.
Wenigstens wartete das von Mercy gerufene Taxi schon, als sie aus der Haustür trat.
»Zum Alex!«, sagte sie.
»Was wollen Sie denn am Alex?«, fragte der Taxifahrer. »Die Nutten stehen doch am Hackeschen Markt.«
»Hackescher Markt?«
»Das, was früher Smith-Friedman-Platz war.«
»Mit diesen Benennungen komme ich nicht klar«, klagte Mercy. Die Quetzals oder ein Viertelrat hatten auch den von einem vermögenden Sponsor nach Adam Smith und Milton Friedman, den beiden größten Theoretikern der Selbstregulierenden Ökonomie, benannten Platz wieder umbenannt.
»Am Alex wartet ein Kunde auf mich. Ein Diener der Großen Schlange, gleich an der Pyramide. Fahren Sie schnell, wenn Sie ihn nicht verärgern wollen.«
Der Taxifahrer drückte auf das Pedal und bald hielten sie vor der bei Nacht von indirektem Licht erhellten Pyramide. Jetzt, wo ihre Aufmerksamkeit nicht auf das, was sich auf ihrer Spitze abspielte, gebunden war, sah Mercy, dass ihre Seiten voll mythischer Motive waren. Ein Wesen mit Fischschwanz, menschlichem Oberkörper und Armen und einem Kopf wie ein Tintenfisch saß auf einem steinernen Stuhl, eine Hand mit erhobenem Zeigefinger, als ob es den um ihn versammelten Fischen und anderen Meerestieren etwas vortrug. Ein Ding? Etwas? Eine Entität auf zahllosen Beinen und mit einem hakennasigem Gesicht auf seinem Rücken identifizierte Mercy als eine Kreatur aus einer Geschichte von Lovecraft. Neben ihr war ein Mann, dessen Unterleib in Tentakel und rot klaffende Mäuler überging. Auch er eine Figur von Lovecraft.
Der Gefallene Gott der Christen, Juden und Moslems wurde ausgiebig verhöhnt. So reisten die Pilger zum Heiligtum der Flasche, das sie mit zum Hitlergruß erhobenen Arm umkreisten. Der dünne und blasse Achternbusch hing anstelle von Jesus am Kreuz, seinen abgeschnittenen Penis im Mund. Moses führte die Kinder Israel im Schlauchboot über das Meer, das sich vor ihnen nicht teilen wollte.
Auch Hindus und Buddhisten wurden von den Quetzals verspottet. Der Gefallene Buddha betrieb wohlgenährt einen Imbissstand mit asiatischen Spezialitäten und die Gefallene Kali arbeitete als Domina, mit einer Peitsche in jeder ihrer acht Arme. Ihr »Kollege« aus dem Hindu-Pantheon, Gott Krischna, verwandelte sich in eine Frau, um so unerkannt dem Zorn der Großen Schlange zu entgehen. Mercy zuckte zusammen, als sie das sah. Was war, wenn die Quetzals dahinter kamen, dass sich Erwählte als Frauen verkleideten und die Fahndung darauf ausrichteten?
Wie den Gefallenen Göttern, so geschah es ihren Dienern. Päpste und Kardinäle bildeten eine Fickkette auf halber Höher rund um die Pyramide, der Schwanz des einen im Arschloch seines Vordermannes, alldieweil sein Hintermann ihn fickte. Priester, Rabbis und Imame taten Buße und lobpreisten mit erhobenem rechten Arm IHN: Satanas Luzifer Triumphans, Gott der Entropie und Bruder der Großen Gefiederten Schlange Quetzalcoatlus, dessen blutrünstige Verehrung die Quetzals ohne Einschränkungen zuließen. Protestantische Fernsehprediger und indische Gurus, die sich an die Fleischtöpfe eines reichen und orientierungslosen Westens gedrängt hatten, hielten dem Betrachter ihre nackten Ärsche hin. Das deutete an, welchen Beruf sie im Reich der Großen Schlange ausübten. Shinto-Priester und buddhistische Mönche erlitten keine schlimmere Demütigung als die, schmutzig Toiletten reinigen zu müssen.
Zwischen Monstermotiven und Verhöhnungen der Gefallenen Götter wand sich immer wieder die Große Gefiederte Schlange mit Dienern der Gefallenen Ordnung in ihrem Maul. Präsidenten und Prominente, Könige und Klatschkolummnisten, Wirtschaftsführer und Wissenschaftler, Talk-Master und Fernsehmoderatoren mussten sich für ihre Lügen und Untaten, Hinterlist und Feigheit vor ihrer Fleisch gewordenen Nemesis verantworten.
Es flimmerte, Licht spielte über die Seiten der Großen Pyramide und Mercy begriff, warum ihr ihre Kanten unscharf erschienen. Ihre Fassade war eine holografische Projektion, auf der immer neue Motive erschienen, Variationen zu den Themen Monster und Menschen, die schlimmer als jedes Monster waren. Nun zeigte die ihr zugewandte Seite der Großen Pyramide afrikanische Warlords und die Gewinner des Kongo-Booms, ihre laisseristischen Berater aus den Gefallenen USA und ihre Bankiers, die über einem Berg zum Skelett abgemagerter, noch lebender oder schon toter Menschen thronten. Hinter ihnen und von ihnen unbemerkt erhob sich die Große Gefiederte Schlange. Ihre vier Augen blitzten in gerechtem Zorn und ihr Maul voller langer scharfer Zähne hatte sie weit aufgerissen. Die nächste Szene. Mercy schloss die Augen, weil sie wusste, was kam. Die Bilder vom Wüten der Quetzals in Afrika waren noch entsetzlicher als das, was seit Jahrzehnten an Elend aus dem Schwarzen Kontinent über die Fernseher geflimmert war. Alles nur Lügen und Propaganda, dachte sie. Die Quetzals machen sich die Wut über Massenmörder wie Daran und Bashîr zunutze, um ihren eigenen Dreck zu rechtfertigen. Es konnte doch nicht sein, dass die Neureichen in Afrika Geldbörsen aus Menschenhaut besessen hatten, um so ihren Erfolg und ihre Unabhängigkeit von allen moralischen Normen zu demonstrieren.
Ihre Knie waren wie Butter und sie war wie gelähmt, konnte weder vor noch zurück. Als ob die Große Pyramide ihre Gedanken las und sie weiter hypnotisieren wollte, änderte sich ihre Fassade erneut. Die Führer des Gefallenen Deutschlands erschienen, über die die Große Gefiederte Schlange und ihr Bruder Satanas, Feuriger Gott der Entropie und Sieger über den Gefallen Gott Jahwe-Allah-HERR, Gericht hielten. Alle waren sie da, schon lange Vergangene und erst kürzlich Erwählte. Karl der Große, der mit Mord und Terror den Kult des Gefallenen Gottes verbreitet hatte, musste ebenso Rechenschaft ablegen wie Bruno Etterling. Die Erben des Großen Karls, die sein Reich zerstückelten, wurden ebenso vor Gericht zitiert wie Konrad Adenauer und Walter Ulbricht, die Architekten der deutschen Teilung nach 1945. Satanas schalt Hitler, der als Würstchen in Nazi-Uniform karikiert wurde, für sein jämmerliches Versagen als Inkarnation des Bösen. Hitler als Würstchen. Mercy schauderte. Wie krank musste jemand sein, für den der größte Massenmörder in der deutschen Geschichte nur ein »Würstchen« war.
Längst verblichene Welfen, Wittelsbacher, Habsburger und Hohenzollern beschwor die Große Pyramide ebenso herauf und verdammte sie wie noch kürzlich in Amt und Würden befindliche Politiker der Neuen Mitte, der Konservativen, der Ökolibs, der Sozialunion und der Laisseristen. Nur Politiker der Linkspartei sah Mercy nicht. Vielleicht rettete sie ihr Abgleiten in Bedeutungslosigkeit vor den Nachstellungen der Quetzals. Oder? Da war wieder dieser entsetzliche Verdacht, fast schon Gewissheit, wer die Quetzals heraufbeschworen hatte.
Unter zahllosen anderen Gesichtern sah Mercy den frischgebackenen Staatssekretär Manfred Limberg mit einem neu berechneten Bild, das ihm viel ähnlicher sah als die Darstellungen auf den Fahndungsplakaten und Monitoren. Ein fantasievoller Quetzal hatte das Haar länger gemacht als es zu Manfreds Zeiten in der Bundesregierung gebührlich gewesen war. Es sah Mercys jetziger Frisur schon sehr ähnlich. Sie wollte schreien, um sich Erleichterung zu verschaffen, doch kein Ton kam aus ihrer Kehle. Ihr Mobil piepte. »Piep.« »Piep.« »PIEP.« Das riss sie aus der Erstarrung. Vielleicht war es wieder Daniela, doch sie wagte nicht, abzunehmen. Als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre, stöckelte sie auf das kleine Tor am Fuß der Pyramide zu. Ein Schild informierte sie, dass es auch einen Lieferanteneingang gab und ein Aushang teilte ihr mit, dass sich Reinigungskräfte beim Oberwächter melden musste und die Imbissboten der Firma »Cui« Mittags um 13 Uhr kommen sollten. Die deutsche Pedanterie machte nicht einmal vor dem Grauen Halt. Wir werden wohl noch die Hölle durchorganisieren, dachte Mercy. Hieronymus Bosch macht die Öffentlichkeitsarbeit und irgendein Spießer von Buchhalter organisiert die Verwaltung.
Das Tor war angelehnt und offen. Mercy legte einen Ast auf die Schwelle, damit es nicht zufiel, und schlüpfte hindurch.
»Was machst DU denn?!«
Ein Schlag mit der stahlverstärkten Handtasche beendete den Satz des Quetzals. Ein zweiter Schlag sorgte dafür, dass er nie wieder Fragen stellen oder Mercy beschreiben konnte. Hastig durchsuchte sie den toten Wächter und fand neben Kondomen und Gleitmitteln, einem Anhänger mit einer Figur der Großen Schlange und einer für zweitausend Euro ersteigerten Karte für die Deutschlandpremiere von »Endymion« auch eine Schlüsselkarte. Vermutlich waren die Schlüssel mit einem Bioscan gekoppelt und deshalb musste sie sich beeilen. »Daniela, ich bin hier, gleich hinter dem Eingang«, flüsterte sie ins Mobil.
»Die zweite Tür rechts«, kam gepresst die Antwort.
Mercy schleifte den Quetzal zu einer Tür mit der Aufschrift

Dienstraum
Unbefugten
Zutritt verboten!

Sie wuchtete ihn hoch, legte die Schlüsselkarte in den Schlitz und presste seine Hand gegen die Scanfläche. Es summte und die Tür ging auf. Damit sie sich nicht wieder schließen konnte, ließ Mercy die Leiche über die Schwelle fallen.
Nackt und von oben bis unten mit Blut bespritzt kauerte Daniela in einer Ecke, die Hand um das Mobil gekrallt, mit dem sie Mercy angerufen hatte. Mercy begriff schnell, dass es nicht ihr eigenes Blut war, sondern von dem Wächter stammte, der tot am Boden lag. Zwischen seinen Beinen klaffte eine blutrote Wunde und sein Penis lag wie in einer grausigen Parodie auf den an der Pyramide verhöhnten Gekreuzigten über seinem Mund.
»Hab ihn abbissen«, stammelte Daniela. »Abgebissen, hab ihn abgebissen, wollte mit mir Sex, hab ihn abgebissen, hab sein Mobil genommen.«
»Schon gut.«
Mercy sah sich in dem Raum um. Es gab ein Waschbecken und Handtücher. Sie drehte den Wasserhahn auf, machte ein Tuch nass und wusch damit das Blut von Daniela. Sie wrang es über dem Becken aus und rot lief eine Mischung aus Wasser und Blut in den Ausguss. Soweit war es also gekommen! Die Transe quetschte nicht dem Schwamm mit Make-up aus, sondern das blutgetränkte Handtuch! Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte losgeschrien, doch nicht jetzt. Noch nicht. Sie wandte sich zu Daniela: »Kannst du laufen?«
»Ja. Muss ja.«
Mercys Handtasche hatte nicht nur einen verstärkten Boden, sondern auch ein Kleines Schwarzes, das sie Daniela reichte. Zusammengefaltete Plastiksandalen hatten auch noch darin Platz gefunden und als Daniela skeptisch auf die hohen Absätze sah, erklärte Mercy: »Wir sind zwei Nutten, welche die Diener der Großen Schlange unterhalten hatten. Ich heiße übrigens Mercy und du bist die Luxy.«
»Luxy, ja, Luxy.«
»Du bist blond!« Mit einigen Spangen fixierte Mercy Danielas volles schwarzes Haar eng an ihrem Kopf und setzte ihr die mitgebrachte blonde Perücke auf. »So erkennt dich keiner.«
Danielas Kleidung lag am Boden und war blutverschmiert. Sie holte unter dem Kleiderbündel ein Kosmetiktäschchen hervor und gab es Mercy. »Damit wollte ich ihn erschießen, aber er hat mich nicht dran gelassen. So musste ich ihn abbeißen. Hier, ist für dich, falls du es brauchst!«
»Aber das sind doch nur Kosmeiksachen.« Mercy sah sich Lippenstifte, Puderdosen und andere Kosmetika genauer an und begriff. Zusammengesetzt ergab die »Kosmetik« eine handliche und tödliche Pistole. »Ja.« Die Frau, die nun Luxy war, nickte heftig. »Konnte es nich mehr zusammensetzen. Musste ihn abbeißen.«
»Schon gut.« Mercy drückte sie an sich, bis sie nicht mehr weinte.
Sie zog den erschlagenen Quetzal ganz in den Raum und tat die Schlüsselkarte wieder in seine Tasche. Sie packte Luxy und zog sie nach draußen, in den Gang. Das Tor war noch immer offen und sie traten hinaus. Fast wären sie einigen Quetzals in die Arme gelaufen. Mist! Mercy legte den Arm um Luxys zitternden Leib und spazierte ganz selbstverständlich an ihnen vorbei über den Platz.
»Da hat sich wohl ein Diener was gegönnt«, meinte ein Quetzal.
»Elende Hurerei hier!«, murmelte ein anderer.
»Ach, Sebastian, du bist nicht mehr in deinem Kloster«, meinte ein Quetzal und hob den Arm. »Schau mal, da steht wieder die Transennutte.«
Die anderen Quetzals lachten und auch Sebastian griente. Mercy sah in die Richtung, in die der Quetzal gezeigt hatte, und erblickte Lucia unweit einer Ecke der Großen Pyramide. Fehlte nur noch, dass die Transe aus Mexiko winkte und »Hola Mercy« rief, dann konnten sie sich gleich selbst für den Stein anmelden.
Ein Taxi fuhr vorbei und Mercy winkte und tatsächlich hielt es! Luxy fiel schluchzend auf den Rücksitz. Mercy dachte wieder an die Kinokarte in der Tasche des toten Quetzals. Sie selbst hatte für die Premiere von »Endymion« 1700 Euro zahlen müssen, womit für dieses Jahr alle sowieso riskanten Reisepläne hinfällig geworden waren. Ohne diesen Wahn wären sie sich dort begegnet, der Quetzal und sie. Sie hatte einen Menschen getötet, der die gleiche Sehnsucht nach dem Schönen und Erhabenen gehabt hatte wie sie! Tränen liefen über ihre Wangen und verschmierten ihr Make-up, haltlos schluchzend sank sie in Luxys Arme.
»Was haben die Schweine nur mit euch gemacht?«, fragte der Taxifahrer. »Die sollte man über ihren eigenen Stein legen, mit dem nackten Arsch nach oben, um ihn tüchtig zu versohlen.«
»Warum tun Sie es dann nicht?«, schluchzte Luxy.
»Was nützt das? Die Welt ist voll von denen. Ham se inner Alten Ordnung kräftig für gesorgt, dat janze Gesocks durchgefüttert! Dachten wohl, den Abschaum könnte man mal brauchen und ihm immer kräftig das Hirn mit Scheiße füllen, damit er nicht anfängt, zu denken. Naja.« Er lachte. »Hab gut von gelebt als Taxifahrer, weil sich die Leute wegen dem Gesindel nich inne M-Bahn mehr trauten. Nun hat das Gesockse seinen Messias gefunden und verfüttert die, die oben waren, an ihn.« Misstrauisch sah er über die Schulter zu ihnen. »Sagt mal, erwählt seid ihr nicht?«
»Nein.« Mercy fasste in ihre Handtasche, um den stählernen Boden herauszulösen. Als Schlagwaffe sollte er reichen und falls der Taxifahrer auch eine Premierenkarte für »Endymion« hatte, würden da zwei Sitze frei sein.
Der Taxifahrer schüttelte den Kopf: »So sehta auch nich aus. Obwohl, hab schon die dollsten Dinger gehört, was Erwählte alles anstellen, um nich aufm Stein zu müssen. Manche ham sich sogar zu Negern gemacht. Dumm nur, dasse innen DNA-Scan geraten sind und die noch ihre Daten hatten. Schön blöd. Da würd ick lieba als Weißer sterben.«
Luxy drückte sich in Mercys Arme und Mercy spürte ihren weichen, warmen und noch immer zitternden Leib durch den dünnen Stoff ihrer Kleider. Trostsuchend schmiegte Luxy sich an Mercy und die nahm sie nur zu gern auf.
»Alle Nutten sind lesbisch!« Der Taxifahrer lachte. »Ich mag auch lieber ne Frau als so nen Quetzal-Zottel im Bett. Aber ich muss das traute Beisammensein stören. Wir sind da!«
Sie waren an der Quetzalcoatlus-Bibliothek. Mercy hatte nicht gewagt, dem Fahrer ihre Adresse zu nennen. Jetzt nur noch nach Hause und hoffen, dass kein Dödel sie erkannte und »hallo Mercy« grölte!
Glücklich zuhause angekommen überlegte Mercy, dass sie bei ihrer Befreiungsaktion eine Spur so breit wie die Große Pyramide hinterlassen hatte. Alles, was sie und Luxy dabei getragen hatten, Kleider, Schuhe und Perücken, Mercys Handtasche und ihre Schminkutensilien, warf sie in den Müllkonverter des Viertels, wo Nanos die Gegenstände in ihre Grundsubstanzen auflösten. Trotzdem fühlte sie sich alles andere als sicher, aber niemand kam, um sie und Luxy festzunehmen. Tage vergingen, in denen die ehemalige Fraktionsassistentin der Konservativen kein Wort sprach. Mechanisch stand die Frau, die nur noch »Luxy« sein durfte, auf, wusch sich, aß, saß da und starrte ins Leere, bis es wieder Zeit zum Schlafen wurde. Dann glitt sie unter die Bettdecke zu Mercy und kuschelte sich an sie. Des Morgens wollte Luxy oft nicht früh aufstehen und hielt dann auch Mercy im Bett fest. »Luxy, das geht nicht!«, schimpfte Mercy schließlich. »Ich muss arbeiten, das Wissen der Welt muss gerettet werden, wenn diese Zombie-Zivilisation untergeht.«
»Fünf Millionen«, flüsterte Luxy. »Ich war den Quetzals fünf Millionen Euro wert.«
»Mehr als ich.«
»Die perversen Schweine sind ganz scharf auf junge Frauen in ehemals gehobenen Positionen. Machen sich gut, wenn man ihnen das Herz rausreißt und sie dem Mob zum Fraß vorwirft.«
»Wir haben uns das selbst eingebrockt.«
»Ich weiß, ich weiß.« Luxy liefen die Tränen über die Wangen. »Selbst ein Umsturz von uns hätte nur in einem neuen Obrigkeitsstaat geendet. Es steckte zu tief in den Leuten drin. Duckmäusern, solange man unten ist und alle um einen herum zum Duckmäusern anhalten. Sich bei der ersten Gelegenheit nach oben schleimen und dem dummen Volk Vorschriften machen. Dann dieser grässliche Etterling.« Lauernd sah sie Mercy an: »Ist er tot?«
»Ja. Vom johlenden Mob auf der Großen Pyramide gelyncht.«
»Ah! Die Deutschen haben einen Tyrannenmord begangen. Also besteht noch Hoffnung.« Sie lachte hysterisch. »Ich hätte zu gern gesehen, wie sie das reaktionäre Schwein ausgeweidet haben.«
»Es wurde alles aufgezeichnet. Du kannst es im Fernseh-Archiv abrufen.«
»Das will ich dann auch machen. Komm, ich mach uns Frühstück und wir sehen dabei ein bisschen fern.«
Gut gelaunt wirtschaftete sie in der Küche, kochte Kaffee und bereitete ein deftiges Schinkenomelett zu, während Mercy den Tisch deckte. Als Frühstücksfernsehen gab es die Opferung des letzten Kanzlers des Gefallenen Deutschlands Bruno Etterling. »Ah, er durfte noch eine Rede halten«, meinte Luxy und biss in ihr Brötchen. »Die Quetzals sind ganz schön gerissen.«
»Meinst du?« Da saß eine Frau, die vor nicht allzu langer Zeit selbst für den Stein vorgesehen war und sah sich dieses erbärmliche Ritual an, als ob es Kino wäre! »Wie war die Stimmung auf dem Platz. Haben wirklich alle so nach seinem Blut geschrien oder ist das montiert?«
»Das war wirklich so. Ein paar haben gemurrt, aber die meisten fanden es ganz geil.« Mercy schrie: »Ich wäre zu dem Dreck nicht hingegangen, wenn mich Sina nicht gezwungen hätte!«
»Reg dich ab! Das ist Geschichte.«
»Das hat Sina auch gesagt. Wir sind Zeitzeugen. Schöne Zeit!«
»Jetzt find ich es fast lustig.« Sie kicherte. »Der deutsche Michel feiert blutrünstige Azteken-Rituale. Wer hätte das gedacht?«
»Ja, wer hätte das gedacht?«
»Schau mich nicht so an. Ich hab mir das weiß Gott nicht gewünscht.«
»Gott ist gefallen!«
»Gott ist tot. Früher wusste das nur Nietzsche, jetzt wissen es alle.«
 



 
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