Teil 27 * Sei tolerant!

Mercys Mobil zeigte »15-6-6-5 5-09« an. Das war der fünfte Tag des sechsten Fünfers im Sonnenmonat genannten sechsten Monat im 15. Jahr der Großen Gefiederten Schlange. Es war 5 Uhr 9 im wie zur Zeit der Französischen Revolution in zehn Stunden zu hundert Minuten mit hundert Sekunden eingeteilten Tag.
Vor fünfzehn Jahren hatte sich Quetzalcoatlus das erste Mal nach einem Schlaf von fünfhundert Jahren der Welt gezeigt, um die Herrschaft über sie anzutreten und seit zehn Jahren herrschte er auch in Deutschland. Mercy wusste aus dem Gedächtnis nicht mehr, welches Jahr es im alten Kalender war. Waren sie noch in den 40ern oder schon in den 50ern? Sie machte sich nicht die Mühe, im Mobil nachzusehen, es war doch egal! Schluchzend sank sie auf ihrem Sitz in der M-Bahn zusammen. Der Wahn dauerte nun schon ein Jahrzehnt und sie hatte sogar die alten Datumsangaben vergessen.
»Mercy, was ist mit dir?«, fragte Philoxena. »Heute ist der CSD und keine Opferung!«
»Ja, und welches Jahr haben wir?«
»Na, das Jahr 15. Zum neunten Mal feiern wir den Christopher-Street-Day ohne Pfaffenterror. So wie ganz früher, ehe dieses reaktionäre Zeug mit Etterling anfing. Das Motto dieses Jahr ist: sei tolerant!«
»Welches Jahr ist dieses Jahr?«
»Na, 15. Das.« »Das ist es ja! Ihr wisst nicht mal mehr, welches Jahr wir haben.«
»Ich glaub 2049, bin mir aber nicht sicher. So wichtig ist das auch nicht.«
Mercy und Luxy sahen sich an. Beide wussten, was die andere dachte: Hoffnungslos.
An jenem M-Bahnhof, der wieder Wittenbergplatz hieß, stiegen sie aus. Über einen blauen Himmel zogen weiße Schäfchenwolken und es war weder zu heiß noch zu kalt. Die Menschen drängten sich auf dem Platz und den umliegenden Straßen, schlicht gekleidete Zuschauer und schrill kostümierte Teilnehmer, Heterosexuelle, Bisexuellen, Homosexuellen, Männer, Drag-Kings, Frauen und Transen.
In den letzten Jahren der Alten Ordnung hatte es nirgendwo die bunten Umzüge in großem Stil gegeben. Anschläge von Fundamentalisten und Rechtsextremisten oder Verbote hatten den Christopher-Street-Day zu einer Erinnerung an bessere Zeiten gemacht. Mit der Großen Schlange, die die Alte Ordnung hinwegfegte, kehrten die CSDs zurück. Aus bescheidenen Anfängen wurden schnell wieder große, bunte und schrille Umzüge. Viele, denen die Rituale um die Große Pyramide zu grausig waren, zogen es vor, sich hier zu amüsieren.
Lange Zeit hatte sich Mercy geweigert, zu den neuen CSDs zu gehen, weil sie mit nichts etwas zu tun haben wollte, das von der Großen Schlange auch nur indirekt profitierte. Ausgerechnet Karl-Arnold änderte ihre Meinung. Er war nach einer Irrfahrt durch die deutsche Provinz wieder in Berlin gelandet und hatte sich eine Tarnexistenz als Türsteher im »Neuen Tom« geschaffen. Niemand brachte einen hochrangigen Konservativen mit dem Kerl in Lederkluft in Verbindung, der vor der berüchtigten Fickkneipe in der Motzstraße stand. »Ich muss sie ja nicht ficken«, meinte Karl-Arnold. »Nur rausschmeißen, wenn sie Ärger machen.«
»Was hat es mit dem CSD zu tun, dass ein Heteromann sich als Schwuler ausgibt, um nicht auf dem Stein zu enden?«, fragte Mercy missgelaunt.
»Hast du dir schon mal überlegt, ob die Quetzals so viel Zulauf gehabt hätten, wenn es noch richtige CSDs gegeben hätte?«
»Nein.« Mercy schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«`
»Menschen haben das Bedürfnis, sich in Massen zu versammeln, zu schauen und zur Schau gestellt zu werden. Das ist in allen Kulturen so, egal mit welcher Begründung. Die Homos haben dieses Bedürfnis auch für Teile der Mehrheitsgesellschaft befriedigt. Deswegen waren ihre Umzüge früher ein Massenereignis, nicht, weil sich alle für ein paar Schwestern interessiert hätten.«
»Als es das nicht mehr gab, war ein Vakuum da, das die Quetzals füllten.«
»Richtig.« Karl-Arnold nickte. »Es ist schon erstaunlich, wie dumm die Masse ist. Brot und Spiele, egal ob von den Homos oder den Quetzals. Wobei mir die Homos lieber sind.«
Mercy überlegte: »Nach dem, was du sagst, ist es noch erstaunlicher, wie wir uns damals das eigene Grab schaufelten.«
»Die Menschen sollten wieder mehr in die Kirche gehen.« Karl-Arnold lachte zynisch. »Ich kenne doch die Diskussionen bei den Konservativen. Religion als sittliches Fundament hat ja wunderbar geklappt!«
»Demzufolge schwächt man die Quetzals, wenn man zum Christopher-Street-Day geht.«
»Man schwächt die Quetzals, wenn man zeigt, dass sich Menschen auch amüsieren können, wenn dabei niemandem das Herz rausgerissen wird. Deswegen komme ich auch.«

Längst war der Christopher-Street-Day zu einer Veranstaltung für die Allgemeinheit geworden. Da unter der Großen Schlange zusammen mit der Alten Ordnung auch alle sexuelle Minderheiten diskriminierenden Gesetze und Regeln gefallen waren, gab es für die Homobewegung noch weniger zu fordern als in den »guten Zeiten« vor Etterling. So versammelten sich alle unter dem Motto »Sei tolerant!«, um sich einen schönen, bunten und lustigen Tag zu machen.
Luxy trug ihr elegantestes aprikosenfarbenes Kleid und hielt trotz ihrer kürzlichen Verlobung mit Karl-Arnold nach attraktiven Männern Ausschau. Karl-Arnold trug einen schwarzen Anzug mit auffälliger Sonnenbrille, dazu ein Hemd in der gleichen Farbe wie Luxys Kleid, aber keine Krawatte. Mercy und Sina hatten sich in leuchtend rote Kleider gehüllt, die von dreißig Zentimeter breiten Gürteln zusammengehalten wurden.
Die bunt geschmückten Wagen von Genossenschaftskooperativen, Viertelräten, Debattierklubs, Männergruppen, Frauengruppen, Transengruppen, Cafédiscobars, Volksküchen, Initiativen und allen anderen denkbaren Einrichtungen zogen vorbei. Luxy jubelte, als der Wagen von »Plus Ultra« mit als silberhäutige Aliens verkleideten Teilnehmern vorbei rollte. Sogar Freiländer aus Norddeutschland, seit dem Fall der Alten Ordnung selbstverwaltete Gemeinwesen, hatten Wagen geschickt, um den Menschen zu zeigen, dass es in Deutschland noch Orte ohne Quetzals und ihre Pyramiden gab. Männer und Frauen aus dem Freien Dreieck zwischen Magdeburg und Lüchow warfen Äpfel unter die Menschen, auf denen Etikette mit einer rot durchgestrichenen Schlange und der Aufschrift »VORSICHT VOR GIFTSCHLANGEN!« geklebt waren. Viele lachten, nur wenige empörten sich.
Die Wagen arabischer und türkischer Homosexueller folgten. Eine persische Homogruppe zeigte ein Bild aus dem Mittelalter. Auf ihm waren einige Männer mit Turban, die sich beim Ficken an einem liegenden Mann abwechselten. Sogar Karl-Arnold musste lachen: »Requiescat in Pace, eifernde Islamisten.«
Dann folgte ein Wagen, der seine gute Laune mit einem Schlag vertrieb. Es war eine auf vielen Rädern fahrende Plattform, auf der sich eine Stufenpyramide aus grün gefärbtem Styropor erhob. An ihren Seiten prangte in roter Schrift das Motto des CSDs: »SEI TOLERANTNT!« Die Quetzals, sowohl Männer als Frauen, warfen bunte Kapseln mit SPEID in die Menge und riefen: »Die Große Schlange liebt euch alle!« Von Kopf bis Fuß waren sie mit weißen Federn beklebt.
»Geteert und gefedert!«, brüllte Karl-Arnold. »Das ist schon mal ein guter Anfang!«
Ehe ihn jemand zurückhalten konnte, stürmte er auf die Quetzals zu, packte einen und schleuderte ihn weg. Er fiel vor den nachfolgenden Wagen einer Landkommune. Seine Fahrerin konnte nicht mehr bremsen und stellte die Räder ihres Wagens quer, um den Quetzal nicht zu überfahren. Der hochbeladene Wagen schwankte, Obstkisten stürzten heraus und Äpfel und Birnen rollten umher. Die Quetzals nahmen vor Karl-Arnold Reißaus, doch er packte eine Seite ihres Wagens, hob ihn an und ließ ihn zu Boden krachen. Einmal, zweimal, dreimal. Etwas knirschte und der Wagen blieb stehen. Karl-Arnold sprang hinauf und trat gegen die Pyramide. Große Stücke Styropor flogen umher, er boxte und trat in die Pyramide, bis sie vom Wagen rutschte. Luxy war längst an seiner Seite und demolierte den Wagen der Quetzals nach Kräften. Die rotteten sich um sie und Karl-Arnold zusammen und sahen dabei nicht, wie Mercy hinter ihnen ihre Handtasche schwang. »Wack!« »Wack!« Zwei lagen besinnungslos am Boden, ehe sich die anderen zu der Gefahr in ihrem Rücken wandten. Nun traten allerdings andere Zuschauer an die Seite von Karl-Arnold, Luxy und Mercy und kreisten die Quetzals ein. Einige gingen im SPEID-Rausch auf die Überzahl los, doch die meisten flüchteten. Irgendjemand kippte Reinigungsmittel über die Trümmer ihres Wagens und zündete es an. Bald brannte und qualmte er, alldieweil die Menschen um ihn schrien und johlten.
»Ein Kampftag gegen die Quetzals!«, lachte Mercy. »Karl, du hast nicht zu viel versprochen!« Sie wurde gleich wieder ernst. Würde sie es noch erleben, dass auch die richtigen Pyramiden so brannten wie ihr Abbild aus Styropor?

Noch huldigten alle der Großen Schlange, die der Menschheit Frieden, Liebe und Wohlstand gebracht hatte. Nur wenige waren so entschieden gegen die Quetzals wie Karl-Arnold. Er kam einige Tage nach dem denkwürdigen CSD wutentbrannt in Mercys Büro und polterte los: »Ich habe da was für das Wissen der Welt.« Er schnippte eine Datennadel auf Mercys Schreibtisch. »Hier. Frisch im Q2-Format die Memoiren des letzten Außenministers unseres geliebten untergegangenen Vaterlandes!«
In großen Lettern erschien ein Titel auf Mercys Monitor:

Ich diente dem Gefallenen Deutschland!

Die Memoiren des letzten Außenministers
des Gefallenen Deutschlands Ronald Sutterling.

Ronald Sutterling sprach selbst und Mercy fragte sich, ob die Menschen das Lesen verlernen würden, wenn immer mehr Filmbücher verbreitet wurden. Bei einem Filmbuch gab es allerdings gestalterische Möglichkeiten, die Text nicht hatte, und in Sutterlings Memoiren wurden sie genutzt.
»So einen Haufen Dreck habe ich nicht mehr gelesen, seitdem die BLÖD-Zeitung Werbung mit Gandhi gemacht hat!«, schimpfte Karl-Arnold. Sutterling sprach über seine Arbeit bei den Ökolibs und äußerte sich ausführlich über die anderen hochrangigen Diener des Gefallenen Deutschlands. Zum Staatssekretär Manfred Limberg sagte er: »Herr Limberg war immer etwas blass und farblos. Ich glaube, er hatte sogar noch Ideale und wusste, wie falsch die Politik des Gefallenen Deutschlands war, aber ihm fehlte der Mut, sich dagegen zu stellen.«
»Elender Lump!«, schrie Mercy und schlug mit der flachen Hand gegen den Monitor. »Der sitzt begnadigt in Bonn und schwingt große Reden! Ein Dreckschwein ist das!«
»Deswegen haben ihn die Quetzals laufen lassen. Lebend und mit diesem Buch ist er ihnen nützlicher als auf dem Stein. Mich stellt er als verblendeten Faschisten hin und behauptet auch noch, mein Widerstand gegen die Zweite Stufe sei reiner Populismus gewesen.«
»Schreib doch auch eine Biografie.«
»Werde ich. Du weist, wann.«
»Ja, wenn du und wir alle im GULAG sind! Was bisher war, war nur das Vorspiel. Denk an die Sowjetunion nach der Oktoberrevolution. Ein Jahrzehnt lang war es da genauso wie jetzt: ein blutdürstiges und rabiates Regime fegte eine verrottete Ordnung hinweg. Trotz Diktatur gab es Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Kunst. Dann kam Stalin und als er ging, waren fünfzig Millionen tot und das nur in einem Land.«
»Mann, bist du finster drauf.«
»Du kannst es gern noch finsterer haben. Der Menschheit mag es besser gehen als vorher und bisher haben die Quetzals auf der ganzen Welt nicht mehr umgebracht als Pol Pot in Kambodscha. Aber lass eine Krise kommen, weil mehr Wohlstand auch mehr Verbrauch an Rohstoffen bedeutet. Oder lass einen Personalwechsel in der Führung der Quetzals geschehen.« Über diese Führung, die nie in Erscheinung trat, hatte Mercy mittlerweile recht klare Vorstellungen und sie schwankte zwischen dem heißen Wunsch, sie zu töten, und der Einsicht, dass nach ihr das Grauen erst richtig anfangen würde. »Oder lass Krise und Führungswechsel zusammenfallen. Schon in der Alten Ordnung wurde darüber sinniert, die Ressourcenprobleme durch drastische Reduzierung der, äh, Verbraucher sozusagen endzulösen. Eine neue, pragmatische und realistische Generation Quetzals könnte das wieder aufgreifen.«
»Dann werden sie wirklich wie Hitler, meinst du?«
»Hitler war ein Würstchen. Das sagen jedenfalls die Quetzals an ihrer Dreckspyramide. Dann kannst du dir vielleicht vorstellen, was sie noch alles tun werden.« Hilflos schluchzend sank Mercy auf ihrem Schreibtisch zusammen. »Dieser Wahn muss beendet werden, bevor er uns alle frisst. Alle tun so fröhlich und lachen sich ins Fäustchen über die abgesetzten kleinen und großen Tyrannen, die auf dem Stein enden. Dabei sind sie als Nächste dran! Die Gören auf dem Spielplatz mit ihrer Pyramide, Sina mit ihrer Nuttengilde und Luxy mit ihrem Weltraumprojekt! Die Probleme auf der Erde lösen. Diesen Quatsch werden sie dann auch wieder abspulen. Damit niemand vor ihnen fliehen kann.«
 



 
Oben Unten