Teil 31 * Das Votum der Menschheit

Der Stoff von Thompsons Zelt hatte Streifen in Rot, Weiß und Blau. »Eine nostalgische Geste an die USA«, erklärte er. »Man hängt auch dann noch an seinem Land, wenn man weiß, dass es von oben bis unten korrupt ist.«
»Ja, bei uns gibt es auch solche Träumer«, entgegnete Mercy.
Thompson lachte: »Du bist reifer geworden, aber auch zynischer. Sehr viel zynischer. Na, lass uns gleich zum Geschäft kommen. Du willst mich ermorden?«
»Ja.« Mercy holte ihre Pistole hervor und schoss nach oben. Im Zeltdach entstand ein ovales Loch, durch das die Sonne in das schattige Innere schien. Thompson saß nun in einem Lichtkreis und lächelte. Mercy richtete die Pistole auf ihn, um es zu beenden.
»Halt! Ich verbiete es!« Die Stimme der Großen Schlange erklang und Mercy lachte: »Deine Gummipuppe wird mich nicht aufhalten!« Sie schoss, doch Thompson hatte sich vom Stuhl fallen lassen und in der Zeltwand hinter ihm erschien ein zweites Loch.
»Ich bin ein lebendes und denkendes Wesen so wie du!«
»Papperlapapp! Sag mir lieber, wer an deiner Fernsteuerung sitzt, Puppe!«
»Sag mir, wer an deiner Fernsteuerung sitzt!«
Thompson hatte die Ablenkung genutzt, um durch das Loch in der Wand ins Freie zu springen. Mercy war mit dem Ding allein. Sie richtete ihre Pistole auf den großen Kopf mit den vier Augen, wusste aber zugleich, wie sinnlos das war. War es nur eine mechanische Puppe, dann half es ihr nicht, sie zu zerstören. War es wirklich, was es behauptete? Konnte das sein? Hatte sie das Recht, ein vernunftbegabtes Wesen auszulöschen?
Sie richtete ihre Pistole auf die Augen, hinter denen das Gehirn sitzen musste. »Wer bist du? Antworte!«
»Ich bin einsam.«
Wie von selbst sank die Hand herunter, in der Mercy die Pistole hielt. Das Wesen sprach weiter: »Wann ich zur Welt kam, weiß ich nicht. Es muss viele Tausend Jahre her sein. Zunächst lebte ich wie ein Tier. Fressen und Schlafen und vor Tieren flüchten, die mich fressen wollten. Irgendwann begriff ich, dass ich war. Ich sah ein Wesen mit einem langem Leib und einem Kopf mit vier Augen auf der Oberfläche eines Tümpels. Bewegte ich mich, bewegte sich auch das Wesen. Das war ich! Damals empfand ich nur das Begreifen, konnte es aber noch nicht in Worte fassen.
Die Worte kamen aufrecht auf zwei Beinen und mit zwei Armen, mit denen sie greifen konnten. Menschen. Dass sie anders waren als die Tiere, die ich tötete, um sie zu fressen, war mir schnell klar.«
»Sag mal, wie verstehst du mich überhaupt?«, fragte Mercy. »Schlangen sind doch taub.«
»Ich bin ebenso wenig eine Schlange wie du ein Affe. Ich höre über Vibrationen im Boden und ich hatte Jahrtausende, um zu üben.« Die Große Schlange erzählte von ihrer Begegnung mit den Menschen:

Als die Menschen kamen, war ich schon so groß, dass kein Tier stark genug war, mich anzugreifen. Alles flüchtete, wenn ich kam, und so wurde das Jagen für mich immer mühsamer. Nun, ihr seid seltsam, damals wie heute. Die zweibeinigen Wesen begegneten mir mal mit Furcht und Respekt, mal mit Aggression und Gewalt. Einmal tat sich ein halbes Dutzend von ihnen zusammen und griff mich mit seltsam geraden Ästen an, an deren Spitzen Steine saßen. Dieses Verhalten überzeugte mich noch mehr davon, dass ihr keine gewöhnlichen Tiere seid, allerdings viel grausamer als Tiere. Denn ich hatte zuvor nie einen von euch angegriffen oder gar getötet, weil ich euer Anderssein spürte und ihr zudem zu schnell und zu verschlagen seid, um gut gejagt zu werden.
Nun, diese Gruppe ließ mir keine andere Wahl, als mich zu wehren. Ich packte ihr größtes und schwerstes Mitglied mit meinen Zähnen, um so die anderen zu erschrecken, und hob ihn hoch in die Luft, um ihnen Angst zu machen. Plötzlich standen die anderen ganz starr da, ihre seltsamen Äste, von denen ich später erfuhr, dass es Speere waren, regungslos in den Händen. Ich ließ den, den ich in meinem Mund hielt, vorsichtig zu Boden sinken, und erhob mich langsam so hoch wie möglich über sie. Vielleicht würden sie jetzt weggehen und mich in Frieden lassen. Der, den ich verschont hatte, stand auf und sie machten seltsame Bewegungen und Gesten. Das machte mich neugierig und ich fühlte etwas, was ich nie zuvor gekannt hatte, was aber wunderschön war. Später wurde mir klar, dass es das Gefühl von Gemeinschaft war. Ich war nicht mehr allein, die zweibeinigen Wesen waren um mich und zeigten mir eine Zuwendung, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. Sie gaben mir auch Tiere zum Essen und ersparten mir so weitgehend die Mühe der Jagd.
Es erschreckte mich aber, dass sie mir ihresgleichen als Speise anboten. Wesen, die so besonders und anders als vernunftlose Tiere sind, sollten einander nicht töten, sondern sich freuen, das es andere gibt, die wie sie sind! Ich war so lange einsam gewesen und hatte, ohne es zu wissen oder in Worten ausdrücken zu können, nach Wesen gesucht, die wie ich waren. Ein solches Wesen zu töten, war mir unvorstellbar. Die zweibeinigen Wesen hatten da keine Hemmungen und es kostete mich große Mühe, ihnen begreiflich zu machen, dass ich keinen von ihnen zur Speise haben wollte. Damals lernte ich unter großen Mühen ihre Sprachen und fand Wege, mich mit ihnen zu verständigen. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis ich so gut sprechen konnte, wie du es jetzt hörst.
Ich wurde für die Menschen ein Gott, ein höheres, mächtigeres und unsterbliches Wesen. All das war ich auch und so nahm ich diese Rolle an. So ging es lange Zeit, Reiche entstanden und vergingen, Volk folgte auf Volk, doch für alle war ich ein Gott. Mal zog ich mich zurück und schlief lange Jahre, dann kam ich wieder unter sie, weil ich mich nach ihrer Gesellschaft sehnte und es genoss, von ihnen gefüttert zu werden. Du wirst es kaum glauben nach dem, was geschehen ist, aber damals ermahnte ich die Menschen, vom Töten untereinander abzulassen. Sie hörten mir zwar zu, töteten sich aber weiterhin. Langsam begriff ich, dass die Menschen ihre Götter zwar verehrten, aber ihnen oft nicht gehorchten. Damals glaubte ich, dass es lange Zeit dauern würde, die Menschen zu ändern. So wie ich lange gebraucht hatte, um mich und die Welt zu verstehen, so würden die Menschen lange brauchen, um zu lernen, in Frieden miteinander zu leben. Es tröstete mich aber, dass alle in mir ein höheres und weises Wesen sahen und mich mit Respekt, manchmal sogar mit Liebe behandelten. Dass ich für mich außer ein oder zwei Fleischmahlzeiten im Jahr nichts verlangte und meine Forderungen an sie sich darauf bezogen, miteinander besser umzugehen, vergrößerte ihre Liebe für mich noch. Ich war das Gute in einem Pantheon aus blutdürstigen und grausamen Göttern.
Doch eines Tages kam ein Volk, das war anders! Noch grausamer als die Völker, die mich verehrt hatten und es wollte mich töten. Für sie war ich nur ein Ungeheuer, ein Monstrum, dem sie mit seltsamen, glänzenden und knallenden Waffen zu Leibe rückten, um es umzubringen und seine Haut ihrem Herrscher auf der anderen Seite des Meeres zu schicken. Damals starben auch viele von denen, deren Gesellschaft mir trotz ihrer Grausamkeit untereinander so lieb geworden war. Nun lernte ich ein neues Gefühl: Hass! Ich hasste diese neuen Menschen, und ich hasste ihren Gott, der keinen anderen Gott neben sich duldete, weshalb sie mich töten wollten. Ich hasste sie dafür, am Tod so vieler der mich verehrenden Menschen schuld zu sein. Sie und ihr Gott sollten für ihre Grausamkeit und Unduldsamkeit leiden!

»Das hast du erreicht«, erklärte Mercy. »Aber welche Rolle spielte Thomson dabei?«
Schon längst hatte sie ihr Mobil eingeschaltet und auf Sendung gestellt. Immer mehr Videonetze übertrugen jedes Bit von der Großen Schlange und ihrer Geschichte. Quetzalcoatlus erzählte den Rest:
»Jahrhunderte der Einsamkeit folgten. Die neuen Menschen zerstörten die Welt, in der ich so lange gelebt hatte, und setzten eine neue an ihre Stelle. Überall bauten sie Häuser für ihren entsetzlichen Gott, der grausamer als Huitzilopochtli war und für den ich nur eine Missgeburt war. Ich lebte wieder wie ein Tier. Ab und zu schlug ich ein Rind oder ein Schwein und zog mich dann zurück, um zu schlafen und zu träumen. Ich träumte von der Welt wie sie früher war, glaubte aber nicht, dass sie wieder auferstehen könnte. Dann kam Thompson. Er war anders als alle Menschen zuvor, die alten wie die neuen.«
»Ja, sicher«, murmelte Mercy. »Von Thompson können wir viel lernen. Wenn es ums Lügen und Intrigieren geht!«
Quetzalcoatlus betrachtete sie ernst: »Du bist auch anders.« Dann sprach sie weiter:
»Thompson war fast wie ich. Ein Geist, der nach seinesgleichen sucht, ihn aber nicht finden kann. Er akzeptierte mich sofort und wir verbrachten viele Stunden im Gespräch. Durch ihn begriff ich, dass die neuen Menschen nicht nur Schlechtes gebracht hatten, sondern auch über großes Wissen verfügten. Ich sog dieses Wissen in mich auf wie eine seit Jahren trockene Wüste den Regen aufsaugt.«
Thompson spähte durch das Loch in der Zeltwand herein und Mercy warf demonstrativ ihre Waffe weg. Die Linse ihres Mobils lugte durch ein Loch in ihrer Handtasche hervor und glitzerte nicht anders als die Verzierungen darauf. Tatsächlich trat Thompson lächelnd und siegesgewiss herein.
»Ich gönnte mir ab und zu Urlaub von den USA und den arschkalten Wintern in Maine. Auf einer eigenen Hacienda mitsamt einer mexikanischen Geliebten. In Baja California, nette Gegend und ein bisschen ab vom Trubel. Da saß ich dann abends auf der Veranda, schaute zu dem Mond hoch, zu dem keiner mehr flog, und konnte mir für einige Stunden einbilden, nicht im größten Dreckloch zu leben, das es in der Weltgeschichte gegeben hatte. Einige Wächter sorgten dafür, dass kein Klatschreporter mir und meiner Chica zu nahe kam. Als Egalitarist sollte man ja nach dem Willen von Gegnern und Freunden ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben. Weißt du, was mich auf die Idee mit alledem gebracht hat?«
»Machtgier und Größenwahn. Du warst die kleinlichen Intrigen von Hoboken und den Zweihundert Leid und wolltest deinen Eliten-Kumpels an der Ostküste zeigen, was eine Harke ist. Richtig geil deine Nachricht an mich: die Quetzals sind KEIN Fake. Ich blöde Kuh habe das auch noch lange geglaubt. Deine Nachricht war aber trotzdem dumm. Irgendwann las ich sie nochmal und wusste, dass sie Fakes sind und wer der Faker ist.«
Mercys Mobil piepte. Irgendein Trottel von einem der Videonetze wollte ihr wahrscheinlich sagen, wie gigantomanisch die Zugriffe auf ihre Übertragung waren und begriff nicht, dass er zum allerschlechtesten Zeitpunkt anrief. Zum Glück hatte sie es leise eingestellt und das Piepen hörte nach einigen Sekunden auf. Thompson schien nichts bemerkt zu haben, denn er sprach weiter:
»Ich hatte die Idee mit alledem, als ich von den Verschwundenen in La Perdida gehört hatte. Eine Stadt, in der Tausende Menschen verschwanden und es hatte sich niemand darum gekümmert. Die Behörden hatten alles vertuscht und im Zweifelsfall die verfolgt, die darüber berichteten.«
»Ich habe davon gehört«, entgegnete Mercy. »Eine Freundin von mir ist aus La Perdida.« Die Runde ging an Thompson. Eine Welt, die so etwas zugelassen hatte, brauchte sich über die Quetzals nicht zu wundern. »In La Perdida fing es an mit den Quetzals. Nur fand Lucia die schon damals zum Kotzen und ist vor ihnen geflohen!«
»Felisa berichtete mir von einer, hm Sage, der zufolge die von den Indianern verehrte Große Schlange wirklich gelebt haben soll und noch immer lebt«, erzählte Thompson. »So war es! Die Quetzals gab es auch schon, ich habe sie nicht gefakt.«
»Aber gesponsort!«
Thompson entblößte seine Zähne und jetzt wusste Mercy, dass er auch das Piepen ihres Mobils gehört und zwei und zwei zusammengezählt hatte. Sie beschloss, ihm ein bisschen die Schau zu stehlen und erzählte:
»Dann hast du diese Irren und dieses bedauernswerte Wesen«, sie deutete auf Quetzalcoatlus, »gefunden und beschlossen, sie für deine Zwecke zu nutzen. Ein Ostküsten-Aristokrat, der seine Mit-Aristokraten so satt hatte, dass er vorhatte, sie von Wahnsinnigen aus dem Weg räumen zu lassen. Auf sich selbst ließ er ein irre hohes Kopfgeld ausloben, um den Verdacht von sich abzulenken. Und nun, wo alles vorbei ist, tritt er als gütiger Onkel aus Amerika vor die Menschheit. Ich glaub, mein Mobil kann ich rausnehmen, du weißt eh, dass wir auf Sendung sind.«
Mercy stellte ihr Mobil auf einem Tisch, von dem aus seine Kamera sie, Thompson und die Große Schlange erfasste. Thompson breitete die Arme aus und lachte: »Was soll ich da noch sagen, außer dass ich den schüchternen Unterstaatssekretär Manfred Limberg nicht wiedererkenne.«
»Manfred Limberg wäre durch dich fast auf dem Stein verreckt!«
»Hätte ich anders gehandelt, wären noch mehr umgekommen. Die Alte Ordnung war am Ende, das weißt du so gut wie ich. Es fand sich nur keiner, der ihr ein Ende setzen wollte. Die Rechten und Linken waren zu schwach und hatten die falschen Ideen. Das fundamentalistische Kroppzeug hatte außer einem pathologischem Hass gegen Andersdenkende nichts zu bieten.« Er lachte wieder. »In Washington war die republikanische Administration, die nach Obama dran kam, über die Quetzals hellauf begeistert. Sie haben denen Säcke voll Geld gegeben, damit sie es unters Volk bringen.«
»Wie bitte? Die US-amerikanische Regierung hat « » die Quetzals aufgebaut und gefördert. Denk doch mal nach, wer in Lateinamerika seine Wiederauferstehung erlebt hat. Bolivien, Brasilien, insbesondere Venezuela.«
Nun musste auch Mercy lachen. »Diese Idioten! Diese Volltrottel! Sie wollten die Sozialisten in Lateinamerika mit den Quetzals bekämpfen!«
»Ja, sicher. Gewalt ging nicht mehr, also musste eine Kontra-Ideologie her. Nur fand sie in den meisten sozialistischen Staaten kaum Anhänger. Die Kubaner sperrten die Quetzals in Guantanamo ein, als wir das räumen mussten, das wars. Gleichzeitig schwappten die Quetzals über die Grenze in unser eigenes Land. Irgendein korrupter Trottel bei unseren Streitkräften hat dann noch das Rezept für SPEID an sie verkauft und es ging los. Du solltest meine eigene Rolle dabei nicht überschätzen. Ich habe eher, nun, die richtigen Akzente gesetzt. Ach, hast du übrigens dein Geld bekommen? Die fünfzig Euro.«
»Ja.«
»Das war ein kleines Geschenk vor mir an die Deutschen, aus meiner damals noch reich gefüllten Privatschatulle.«
»Ich glaube, von da an war es vorbei. In der Regierung hatten sie nichts Besseres zu tun, als sich zu überlegen, wie sie den Menschen das Geld wieder wegnehmen. Das haben sie dann aber nicht gewagt.«
»Ihr Deutschen seid so klug und lasst euch immer von so erbärmlich dummen Scheißern tyrannisieren.«
»Dass es damit vorbei ist, dafür sollen wir dir auch noch dankbar sein!«
»Etterling hat auf dem Stein wenigstens einmal in seinem Leben eine wirklich gute Show hingelegt.«
»Das nennst du eine Show?! Dank dir wissen jetzt die meisten Menschen, wie ein Herz aussieht, das gerade jemand bei lebendigem Leib aus der Brust gerissen wurde!«
Ihr Mobil piepte wieder. Sie hielt es ans Ohr: »Ja?«
»Bring das Schwein um!«, rief Karl-Arnold. »Sofort!«
Mercy ging in die Hocke, hob ihre Pistole vom Boden auf und richtete sie auf Thompson. Sein Gesicht war weiß, also hatte er mit dieser Wendung nicht gerechnet. Mercy stellte ihr Mobil wieder auf den Tisch, die Kamera auf ihn gerichtet. Sollten doch alle sehen, wie er abkratzte!
Bei der Annahme von Karl-Arnolds Anruf hatte sie auch die Nachrichten eingeschaltet. Auf dem kleinen Monitor war das Zelt mit ihr, Thompson und Quetzalcoatlus zu sehen. Davor sagte ein Nachrichtensprecher: »Jetzt nimmt das Drama in Teotihuacan eine neue, unerwartete Wendung. Soll die Gesandte Deutschlands beim Großen Feuer den Ex-Senator Thompson für seine Rolle als Hintermann der Quetzals töten? Stimmen Sie ab!«
Ein Feld mit

( ) ja
( ) nein

erschien, darunter zwei schnell wachsende Säulen. Mal war die Säule für »ja« länger, dann die Säule für »nein«. Einige Minuten wuchsen so beide Säulen gleich schnell, dann wurde die Säule für »nein« immer höher. »Sag jetzt nichts Falsches, sonst knall ich dich trotzdem ab!«, zischte Mercy. »Und sollte das ein Fake sein, dann bist du tot!«
Die Säule für »ja« begann wieder zu wachsen, ohne die für »nein« einzuholen. Immer mehr Sender schalteten sich zu und legten eine Verbindung zu dem Kanal, der die Abstimmung gestartet hatte. Simultanübersetzer übertrugen das zwischen Thompson, Quetzalcoatlus und Mercy auf Englisch geführte Gespräch in andere Sprachen. Auch ohne nach draußen zu blicken wusste Mercy, dass sich um Thompsons Zelt eine riesige Menschenmenge versammelt hatte. Schafften der Quetzal-Wahn und sein Urheber wirklich das, was alle früher für unmöglich gehalten hatten: die Menschheit zu einen?
»Wir schließen die Abstimmung in einer halben Stunde«, sagte der Moderator. »Mercy, halten Sie so lange durch?«
»Ja.«
»Noch 29 Minuten bis zum Ende der Abstimmung. Wer abstimmen will, identifiziere sich mit dem Abdruck seines linken Daumens. Der wird nur für die Dauer der Abstimmung gespeichert, um Mehrfachabstimmungen zu verhindern.«
Mal wuchs die eine Säule, dann die andere. Mercy hörte das dumpfe Bellen von Afugs, Aufruhrbekämpfungsgeschossen, also prügelten sie sich vor dem Zelt. »Du hast nicht nur Freunde«, sagte sie zu Thompson. »Was erzählst du den Eltern, deren Kinder Quetzals geworden sind und bei den abscheulichen Riten zerfleischt wurden? Das waren keine von deinen Ostküsten-Aristokraten, sondern arme Schweine.«
Thompson schwieg. Etwas schlug gegen die Zeltwand, kam aber nicht hindurch.
»Hörst du es, Thompson? Deinetwegen bringen sich die Menschen jetzt wieder um!«
Wieder bellten Afugs, dann rief die Menge: »Thompson! Thompson!«, und er lächelte. Als Echo kam: »Must die! Thompson must die! Die! DIE!«
»Die Abstimmung ist geschlossen!«, erklärte der Moderator. »1 321 233 222 Teilnehmer sagen, Thompson soll sterben.« Er machte eine Pause. »2 945 455 433 Teilnehmer sagen, Thompson soll leben.«
»Man, Mercy, bring das Schwein um!«, rief Karl-Arnold. »Ich beschwöre dich, bring das Schwein um!«
»Ich kann nicht!« Mercys Finger lösten sich vom Griff ihrer Pistole. Sie entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden. »Karl, ich kann nicht!«
»Warum nicht?«
»Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass die Menschheit gemeinsam eine bewusste Entscheidung getroffen hat. Dieser Vorgang an sich ist unendlich viel wichtiger als das Ergebnis und ich darf das nicht zunichte machen.«
»Ach Scheiß Menschheit!« Etwas krachte und die Verbindung zu Karl-Arnold war tot. Vermutlich hatte er sein Mobil frustriert gegen die Wand geschmissen.
»Die Menschheit lässt dich leben, aber das gilt nicht für alle ihre Mitglieder«, sagte Mercy zu Thompson. »Pass auf dich auf.«
 



 
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