Teil 4 * Verschwunden!

»Du wirst verschwinden«, sagte Carlos. »Natürlich nicht wirklich. Außer, du redest!«
Alles in Lucia wurde eiskalt. Das Verschwinden lastete wie ein Alptraum auf La Perdida, aus dem es kein Erwachen gab. Sie trug stets eine Giftkapsel bei sich, um bei einer Entführung ihr Leben beenden zu können und so dem zuvor zu kommen, was die Entführer ihren Opfern antaten. Verena hatte ihr erzählt, dass früher nur Nazi-Größen solche Kapseln getragen hatten, um der Verurteilung und Hinrichtung durch die Alliierten zu entkommen. »Bei uns tragen das nicht nur die Nutten, sondern ganz gewöhnliche Jungen und Mädchen«, hatte Lucia ihr erzählt. »Man weiß nicht, auf was die Entführer aus sind und was sie ihren Opfern antun. Vielleicht ist es besser, vorher tot zu sein.«
»Vielleicht ist es besser, überhaupt tot zu sein«, hatte Verena entgegnet. »Vielleicht wissen die Entführer längst, dass ihr Kapseln trägt.«
Nun fragte Carlos: »Lucia?«
»Ja?«
Blitzschnell griff er in ihren Mund und hielt die Giftkapsel in seiner Hand. Soviel dazu, Verena hatte Recht gehabt.
»Du siehst, das würde dir nichts nützen. Man kontrolliert die Ware sehr genau auf unliebsame Überraschungen.«
»Gehörst du zu den Schweinen?«`
»Na, na, na.« Boshaft hob er den Zeigefinger. »Sagen wir mal so: Ich habe mein eigenes Unternehmen aufgemacht.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, du kommst für schlappe zweitausend Dollar nach Berlin, wenn du keine dummen Fragen mehr stellst. In Berlin sind noch mal tausend Dollar zu zahlen, sonst könntest du wirklich verschwinden. Also: ja oder nein?«
Plötzlich schien alles um Lucia zu erstarren. Sie konnte hier raus und nach Europa! Die Tore der hermetisch abgeriegelten EU würden sich für sie öffnen, wenn auch! Verärgert biss sie sich auf die Zunge. Fast hätte sie Carlos (von dem sie nicht glaubte, dass Carlos sein richtiger Name war) gefragt, warum sie ausgerechnet als »Verschwundene« nach Berlin kommen konnte.
»Also: ja oder nein?«, wiederholte Carlos.
Lucia nickte: »Ja.«

Die nächsten Tage verlief ihr Leben scheinbar wie gewohnt. Sie stöckelte ihr Revier in der Nähe der Kathedrale entlang, sehr oft, ohne dass ein Freier kam. Entweder haben die Gringos wirklich kein Geld mehr oder sie haben Angst, dachte sie. Normale Touristen ließen sich in La Perdida kaum noch blicken, dafür sah Lucia immer mehr von den Kerlen, die denen ähnelten, die sie im Lagerraum gefickt hatten und von denen sie glaubte, sie hatten den dänischen Touristen umgebracht. Es waren Männer in schlichter bis schäbiger, aber peinlich sauberer Kleidung. Alle trugen Vollbart und das Haar ließen sie bis zu den Schultern wachsen. Auch heute streunten wieder einige von ihnen durch die Straßen und sahen zu ihr hinüber, sagten oder taten aber nichts.
Lucia drehte ihre Runde und beachtete sie nicht mehr. Ihre hohen Absätze klackten auf dem Bürgersteig, der in der Nähe der Kathedrale gepflastert und sauber war. Mit der Spitze ihres Schuhs stieß sie gegen etwas Weiches, das in einer dunklen Ecke am Boden lag. Es war ein Mensch und nun sah Lucia auch den Schlitz, der von seinem Halsansatz bis zum Bauch lief. Eine Ratte hob ihren Kopf aus dem klaffenden Schlitz und sah sie aus dunklen Knopfaugen an.
Lucia musste schon hundert Meter gerannt sein, ehe sie wieder zu sich kam. Der Schrei, der über den Platz vor der Kathedrale hallte, war aus ihrer Kehle gekommen, doch sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Nun schrie wieder jemand und Lucia glaubte, dass es Gladys war. Ein Polizeiwagen raste mit Blaulicht über den Platz zu dem Ort, wo Lucia die Leiche gefunden hatte. Was ist nur mit den Plastikmützen los, dass sie sich so viel Mühe geben?, dachte Lucia. Macht ihnen wer Angst oder Druck?
Eine Ratte hob ihren Kopf aus dem Schlitz in der Brust und sah sie aus dunklen Knopfaugen an. Unschuldig. Wieder schrie sie, schrie, bis sie heiser war. Ohne auch nur ihre Pumps gegen flache Schuhe zu tauschen, rannte sie nach Hause, riss die Tür ihrer Hütte auf und verriegelte sie hinter sich. Agustin war da. »Lucia, was ist? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Die Ratte! Sie haben eine Ratte in die Brust gesetzt. Eine Ratte!« Unschuldig.
»Ach so. Das war ja zu erwarten. Wie bei Orwells 1984, da foltern sie Winston Smith auch mit einer Ratte. Beruhige dich und erzähle niemanden was davon, das wollen die nur.«
»Wer will das?«
»Na, die Diener Quetzalcoatlus, der Großen Gefiederten Schlange.«
»Du meinst die Schlange, die im Kathedralenfenster ist?«
»Genau die.«
»Aber das ist doch eine Legende.«
»Eine Legende, die jetzt zum Leben erwacht.«
»Ist es das, worüber du dich mit Manolo gestritten hast? Wo ist er eigentlich? Er schuldet mir noch zwanzig Dollar für die Miete.«
»Manolo hat jetzt wichtigere Dinge zu tun, als Mietschulden zu begleichen.«
»Ich kann das Geld gut brauchen.« Dass es für ein neues Leben in Europa bestimmt war, sagte sie nicht.
Agustin zuckte die Achseln: »Wer kann Geld nicht gut brauchen?«
»Mierde!«, schimpfte Lucia. »Kein Freier und jetzt sind da überall die Plastikmützen.«
»Es ist bestimmt wieder so ein reicher Tourist oder ein Geschäftsmann. Ein Ausländer mit Geld.«
Lucia erblasste. Hoffentlich nicht Wolodyn! Sie nahm ihr Mobiltelefon und rief ihn an. »Ich habe keine Zeit!«, schnauzte er, doch trotz des rüden Tons war sie unendlich erleichtert. »Es h hat wieder.« Haltlos schluchzte sie. »Ihm ist eine Ratte aus der Brust gekommen.«
»Ich weiß«, sagte er sanft. »Es kam in den Nachrichten. Sie haben einen Abteilungsleiter von Q-I-T umgebracht. Aber ich muss jetzt aufhören, ich bin mitten in einer Konferenz und hier sind alle wie die kopflosen Hühner.«
Agustin hatte sich neben Lucia gestellt und das Gespräch mitgehört. »Ja, kopflose Hühner«, murmelte er. »Es wird hier bald kopflose Hühner geben. Kopflos oder ausgenommen!«
Lucia vergrub den Kopf zwischen den Knien und weinte leise. Wie lange noch? Wie lange noch?
Pock pock pock. Pock! Pock! Lucia sprang auf, nahm ihre fertig gepackte Reisetasche und ging zur Tür. Dreimal kurz und zweimal lang war das mit Carlos verabredete Zeichen. Es ging los! Auf Nimmerwiedersehen La Perdida! Sie drückte dem schlafenden Agustin einen Kuss auf die stoppelige Wange und huschte nach draußen. Ängstlich überlegte sie, ob aus dem vorgetäuschten V e r s c h w i n d e n e i n E c h t es werden würde, da begriff sie, dass sie nicht mehr in La Perdida war. Es war kalt, eine feuchte Kälte, die durch Mark und Bein ging. Carlos hatte sie gewarnt. Berlin war kalt, sogar im Sommer. Wurde es heiß, drückte die Hitze unerträglicher als in ihrer Heimat. Sie war also in Berlin und hatte als menschliche Schmuggelware die Grenzen der Europäischen Union überwunden.
Sie konnte sich nicht bewegen, lag stocksteif da, den Blick zur grauen Decke einer Lagerhalle gerichtet. Ewigkeiten schienen zu vergehen, bis sie den Oberkörper etwas nach vorn beugen konnte, nur um sofort wieder hart auf den Rücken zu fallen. Zu schnell! Sie wandte den Kopf zur Seite und sah prompt eine Spinne auf ihre Nase zu krabbeln. Lucia nieste. Das vertrieb das Tier und ließ etwas Gefühl in ihre Glieder zurückkehren. Lucia hob ihre Arme und noch immer taub fielen ihre Hände auf die Kanten des Behälters, in dem sie transportiert worden war. Geduldig wartete sie auf das erlösende Kribbeln und richtete sich auf.

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stand auf einer Wand und Lucia ahnte, was aus den Verschwundenen wurde. Wolodyn hatte ihr von Experimenten erzählt, bei denen die noch lebenden Gehirne von Ratten für Hirnforschung benutzt wurden. Lucia hatte sich davor geekelt, weil sie selbst bei Ratten genug Bewusstsein vermutete, dass die Tiere entsetzliche Qualen erlitten. Was ist, wenn das Gleiche mit Menschen gemacht wurde? Vielleicht gab es ebenso viel Bedarf an Menschenversuchen wie an Versuchen mit Tieren und man brauchte billige Quellen. Andere Verschwundene endeten vielleicht als »Sexspielzeug« oder in »Spielen« mit tödlichem Ausgang. Da musste eine Stadt her, wo man das benötigte Menschenmaterial »abschöpfen« konnte, ohne dass einen übereifrige Behörden daran hinderten. La Perdida. Gab es noch andere La Perdidas auf der Erde? Mit Sicherheit. Was war das nur für ein verkommener Drecksplanet!
Von einem Gang außerhalb der Lagerhalle kamen Schritte. Carlos hatte ihr gesagt, jemand würde sie »in Empfang« nehmen und dafür tausend Dollar verlangen. Plötzlich war Lucia nur noch wütend, wütend auf Schleuser, die sich für edel und moralisch hielten, weil sie ihre Opfer nicht umbrachten, sondern ihnen nur Geld wegnahmen!
Sie stieg aus der Kiste, in der sie gelegen hatte, und ging auf noch wackeligen Beinen zu einem Stück Holz, das am Boden lag. Sie bückte sich, um es aufzuheben, hinter ihr öffnete sich eine Tür und »wack!« Mit blutender Stirn sank die Frau, die im Türrahmen stand, zu Boden. Lucia ließ das Holzstück fallen und rannte aus der Tür. Wie im SPEID-Rausch eilte sie durch lange Gänge, hörte Klappern und derbe Männerstimmen. »Himme. Wat wat watden?« Obwohl sie auch dank Verena recht gut Deutsch konnte, verstand sie nicht, was die Kerle sagten, aber das war egal. Sie folgte den Stimmen und kam auf einen Hof, wo einige Arbeiter um einen umgestürzten Container standen. Lucia hastete zwischen LKWs hindurch, an einem Pförtnerhäuschen vorbei und war auf einer belebten Straße.
Nun ging sie im Schritttempo zwischen den anderen Passanten. Vor sich sah sie ein Schild: M-BAHN SERVINIUSSTRASSE. Eine der nach ihren Sponsoren benannten Stationen des Berliner Nahverkehrssystems. Lucia hatte es geschafft. Sie war in Berlin! Seltsamerweise musste sie an Wolodyn denken. Ob sie ihm eine Nachricht schicken sollte, dass es ihr gut ging?
 



 
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