Teil 6 * Ein Messias

Lucia, wo war Lucia?
»Immer schreit er nach Lucia, der blöden Trine!« Eine Tür knallte und Stevens sagte: »Die hast du vergrault. Ich verstehe sowieso nicht, was du an den Transen findest.«
Wolodyn lag in einem großen Zimmer unter einer viel zu schweren Bettdecke. Er wollte sie beiseite schieben, um sich in der Hitze Kühlung zu verschaffen, aber seine Arme bewegten sich nicht. Was? Stevens sah ihm in die offenen Augen und nickte: »Bist noch bei uns, hattest wohl keine Lust auf den Großen Manitou oder an was für einen Scheiß die jetzt glauben.« Er nickte. »Hast mir das Leben gerettet, dein ukrainischer Charme muss auf die Mexen und dieses Ding eine ganz besondere Wirkung haben.«
»Wärt ihr Amis nicht so arrogant gewesen, wäre das alles nicht passiert«, flüsterte Wolodyn.
Es war kühl.
Stevens war nicht mehr da, aber Wolodyns Zimmer war voller Geschenke. Gladys war wieder da, in einem schicken schwarzen Kostüm und ihre Pumps waren zwölf Zentimeter hoch. »Hola, Gladys.« Wolodyn lächelte, doch sie sah ihn finster an: »Hättest du wieder nach Lucia geschrien, hätte ich da weiter gemacht, wo der Priester aufhören musste.«
»Heute nicht blond?«, fragte er.
»Blond ist außer Mode gekommen. Sogar bei den Nortes.«
»Nortes?«
»Nordamerikaner. Man sagt nicht mehr Amis oder Gringos. Die Große Schlange liebt alle Menschen, auch die in den Gefallenen USA.«
»Bloß weil ihr ein bisschen Rabatz macht, gehen die USA nicht unter.«
»Die Nortes machen beim Rabatz selbst am eifrigsten mit.«
Wolodyn wollte mit den Achseln zucken, doch sein kraftloser Körper bewegte sich nicht. Er wollte schlafen, nur noch s c h l a f e n !
»Wasn?«, nuschelte er, dann begriff er, dass Gladys nicht mehr da war. Eben hatte noch Tageslicht das Zimmer erhellt, nun brannte eine Deckenlampe. Wolodyn wusste, dass in gehobenen Krankenhäusern Licht und andere Geräte, die auf Stimmen reagierten, allgemein üblich waren. Doch solchen Luxus hatte er sich ebenso wenig leisten können wie die meisten Bewohner von La Perdida.
Nun allerdings begrüßte ihn das Zimmer sogar auf Ukrainisch, wenn auch gebrochen: »Willkommen, Wolodyn. Es ist der einundsiebzigste Tag des Jahres Eins der Rückkehr der Großen Gefiederten Schlange.«
Ach herrje!, dachte Wolodyn. Ein neuer Kalender!
Hatten nicht die Bolschewisten nach 1917 damit experimentiert? Der Kalender der Französischen Revolution war vierzehn Jahre in Gebrauch gewesen, dann kehrte Frankreich unter Napoleon zum Gregorianischen Kalender zurück. Und nun das Jahr Eins der Großen Schlange!
»Möchten Sie Informationen zum Kalender?«, fragte das Zimmer und Wolodyn antwortete: »NEIN!«
»Das ist sehr unklug von dir.«
Wolodyn hatte nicht bemerkt, wie Stevens eingetreten war. Der US-Amerikaner schüttelte missbilligend den Kopf: »Als Messias sollte man sich mit dem Kalender auskennen, den man geschaffen hat.«
»Welcher Messias?«
»Na, du.«
»Ich?«
»Ja, du! Frag nicht so blöd, sondern überleg dir mal, warum du noch lebst. Oder schau dich im Zimmer um.«
Überall in Wolodyns Krankenzimmer standen Blumenvasen oder Töpfe mit prächtigen Zierpflanzen. Auf Beistelltischen häuften sich Pakete, manche in schlichtem grauen oder braunen Packpapier, andere in glänzendem blauen oder roten Hüllen. Eine rosafarbene Cremetorte zierte ein großes fleischfarbenes Herz und eine grün aufgespritzte Schlangenfigur. Darüber war eine Widmung aus gelber Sahne:

DEM ERWÄHLTEN
UND AUSGEZEICHNETEN DER
GROSSEN GEFIEDERTEN SCHLANGE
QUETZALCOATLUS
WOLODYN
»Ich habe Hunger!«, platzte Wolodyn heraus.
Ein Arzt, der ebenso lautlos wie Stevens ins Zimmer getreten war, setzte zu einer Verbeugung an, doch Wolodyn hob abwehrend die Hand: »Es ziemt sich nicht, dass ein Mensch sich vor einem anderen Menschen verbeugt! Wir sind alle gleich!«
Der Arzt lächelte und Stevens flüsterte: »Gut gemacht! Jetzt fressen sie dir erst recht aus der Hand.«
»Sie dürfen essen, doch nur in Maßen. Ein Sandwich und ein Stück von der Torte«, erklärte der Arzt. »Ein kleines Stück!«
»Gut.« Wolodyn nickte. Erfreut stellte er fest, dass ihm sein Körper wieder gehorchte. »Ein Stück von der Torte für mich, eines für ihn und die übrige Torte ist mein Geschenk für alle in dem Hospital.«
»Die Kranken werden sich über das Geschenk des Ersten Erwählten freuen.«
Ein automatischer Teewagen kam, auf dem Geschirr, ein Sandwich und eine Kanne Milchkaffee waren. Der Arzt lächelte wieder und deutete darauf: »So müssen wir niemanden mehr für niedrige Arbeiten abstellen. Wie Sie schon sagten, sind alle gleich.«
»Für diese Erkenntnis sollte man Menschen nicht bei lebendigem Leib das Herz herausreißen«, murmelte Wolodyn zu sich selbst und auf Ukrainisch.
Als sie wieder allein waren, sagte er zu Stevens: »Du erklärst mir jetzt, warum ich für die hier der Messias bin!«
»Ganz einfach«, murmelte Stevens, ein Stück Torte im Mund. »Früher bei den ollen Azteken waren Menschenopfer so etwas wie eine Auszeichnung. Für die Geopferten, meine ich. Das haben diese Irren wieder aufgegriffen. Wen sie nicht leiden können, der ist halt erwählt. Richtig lustige Hinrichtungsrituale ergibt das. Vor allem, wenn sich ein gewisser Delinquent vorher einen blasen lässt.
Du warst also schon ausgezeichnet, als dir dieses Stück white trash die Brust aufschlitzte und das Herz rausriss. Dann kam dieses Schlangending, das ihr neuer Götze ist, und befahl, dir das Herz wieder einzusetzen.« Mit dumpfer Stimme intonierte er: »Es Ist Mein Wille, Dass Der Erwählte In Frieden Weiter Leben Soll! Das hast du nicht mehr mitgekriegt, aber die Leute waren hellauf begeistert. Vielleicht schämten sie sich für das, was sie schon angestellt hatten und waren froh, mal die Gnadentour zu fahren. Wie auch immer: du bist für sie so was wie Isaak, Lazarus und Ironman in Personalunion. Wie Isaak solltest du geopfert werden, aber der jeweilige Gott hat das Opfer in letzter Sekunde verhindert. Du warst allerdings schon so gut wie tot, bist aber wie Lazarus von den Toten auferstanden. Als jemand, der noch unter den Lebenden weilt, nachdem er sein eigenes Herz in der Hand eines Irren gesehen hat, schlägst du Ironman um Längen.« Stevens spülte den letzten Bissen der Torte mit Kaffee herunter. »Dein Glanz ist sogar auf mich gefallen und die Irren behandeln mich jetzt voller Respekt.«
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Werd erst mal gesund. Von der, äh, Operation dürfte eine hässliche Narbe zurück bleiben, aber lass sie um Himmels willen nicht wegmachen. Sie ist deine und meine Lebensversicherung.«
»Ich.« Wolodyn hatte sagen wollen, dass er nicht die Galionsfigur für Amok laufende Mörder sein wollte. Aber was wollte er sonst sein? Und wo? Zwischen all den anderen Geschenken sah er Röcke, Strumpfhosen und ein mit glitzerndem Strass besetztes goldenes Trägerkleid.
»Nicht ganz deine Konfektionsgröße.« Stevens lachte. »Geschenke für deine Gefährtin Gladys.«
Wolodyn fragte sich, ob Gladys operiert war oder sie wie Lucia noch ihren Schwanz hatte. Sein Schwanz regte sich bei diesen Überlegungen nicht, er war noch immer so schwach, so schwach. Ein Pfleger griff ihm unter die Achsel und führte ihn zur Toilette, wo er sich erleichterte. »Vielleicht sollten wir ihm SPEID geben«, sagte jemand wie aus weiter Ferne und Wolodyn hob verlangend den Arm.
»Den Teufel werdet ihr tun!«, polterte Stevens. »Macht ihn noch ganz zum Junkie, was?!«
»Er ist so schwach und S P E i d k a n n i hm «
Ein Tropf gluckerte neben Wolodyns Bett. Hatten sie ihm nun S.PEID gegeben oder nicht? Er fühlte sich seltsam leicht. Die Bettdecke drückte nicht mehr, es war, als ob er auf Luft lag. So musste es in Schwerelosigkeit gewesen sein, damals, als die Menschen noch in den Weltraum flogen.
»So, jetzt werden wir aufstehen, auch wenn wir der Erste Erwählte sind!«
Eine Schwester und ein Pfleger hoben Wolodyn aus dem Viskosebett, das ihn vor dem Wundliegen bewahrt hatte, und trugen ihn zu einem Sessel. Zu seiner eigenen Überraschung fühlte sich Wolodyn ausgeruht. Die Tortilla, die auf einem Tablett vor ihm lag, aß er mit großem Appetit und zur Toilette ging er danach aus eigener Kraft, auf einen eigens angebrachten Handlauf gestützt. Die Schwester und der Pfleger nickten zufrieden und Wolodyn überlegte. Wie hatten sie ihn genannt? Erster Erwählter, also war der Spuk noch nicht vorbei und Wolodyn wusste nicht, ob er das bedauern sollte.
Es war gut, wie es war. Er musste sich um nichts kümmern, sein Zimmer war voll mit Geschenken, von denen er die meisten weiter gab. Gladys posierte im gelben Trägerkleid vor ihm, doch mehr erlaubten die Ärzte nicht. »Dein Herz könnte wieder aus der Brust hüpfen, wenn ich gewisse Dinge mit dir mache«, erklärte Gladys und lächelte kokett.
»Lass uns wenigstens ausgehen«, verlangte Wolodyn. »Ich will raus!«
»Wir können in den Innenhof gehen, aber mehr nicht. Vergiss nicht, du bist der Erste Erwählte und ich muss gut auf dich Acht geben.«
»Hast du auch einen Titel?«`
»Du hast mich gesalbt mit dem Saft von Liebe und Leben.«
»Mit, ach so.« Wolodyn musste lachen, doch sie konterte: »Lach nicht!«
»Du glaubst daran.«
»Natürlich. Das tun fast alle hier. Die Große Schlange hat uns unser Leben und unsere Geschichte wiedergegeben. Ach übrigens, La Perdida wurde von ihr erhöht und heißt jetzt Quetztlan. Die Verlorene wurde gefunden und erlöst.«
Ihre Augen leuchteten.
Wolodyn musste an eine Erzählung aus dem 20. Jahrhundert denken. Da wurde ein hoher Funktionär der Kirche ausgesandt, um eine neue Religion zu bekämpfen. Die Anhänger des neuen Glaubens sagten ihm, dass die Menschheit die alten Lügen der Kirche satt hatte und sie neue Mythen wollte. Der Kirchenmann konnte die neue Religion vernichten, doch er verlor darüber seinen eigenen Glauben.
Vollzog sich nun vor seinen Augen, dass die alten Lügen, die keiner mehr ernst nahm, gegen neue, frische (und tödliche) Lügen ausgetauscht wurden? Auf dem Weg von seinem Zimmer zum Innenhof sah Wolodyn an Wänden und von Decken herab Figuren einer Schlange mit Federn und vier Augen hängen. Patienten und Angehörige, denen sie begegneten, nickten ihnen zu, lächelten, einige Männer pfiffen Gladys hinterher. Eine Frau fasste ihr unter das Kleid und die Umstehenden lachten, aber es war ein fröhliches Lachen und auch Gladys lächelte: »Die Große Schlange liebt uns alle, ob Männer, Frauen oder Transen. Sie wird die ganze Welt von Angst und Leid erlösen.«
»Das haben die Kommunisten auch gesagt«, murmelte Wolodyn.
»Die Große Schlange ist gekommen, um das zu vollbringen, woran die Kommunisten gescheitert sind.«
Wolodyn gab es auf.
 



 
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