Teil 9 * Unterstaatssekretär Manfred Limberg

Wie jeden Morgen stieg Manfred in die M-Bahn ein, in schwarzem Anzug mit grauem Hemd und gelbgrün gestreifter Krawatte, den Arbeitskoffer an der Hand. Baraka. Herrberg. Loses. Aldidl. Peo17. Eine nach der anderen glitten die nach Namen und Marken von Sponsoren benannten Stationen vorbei. Trump. Fink. MBS. In den nach dem Ende des Berlin-Booms wieder verarmten Vierteln von Kreuzberg und Neukölln flog ein Stein gegen den Zug, aber sonst geschah nichts. Dafür wäre Manfred beim Aussteigen in der Station »Quand« fast über einen am Boden liegenden Mann gestolpert. Er wollte sich schon über den zweifellos Betrunkenen beugen, da sah er einen kleinen schwarzen Griff aus dessen Brust ragen. Es war der Griff eines Messers mit kurzer Klinge, wie es Manfred selbst zum Gemüseschneiden verwendete. Seine Klinge war allerdings lang genug, damit der Mann tot war. Tot. Fassungslos stand Manfred da. Es war so unwirklich, der Mann musste sich doch gleich hochrappeln, den anderen am Bahnsteig seine Schnapsfahne ins Gesicht hauchen und davon schlurfen, wie so viele andere Penner.
Die Security kam mit einem flachen Wagen und einem Leichensack. Der Mann regte sich nicht, als ihn die stämmigen Secs anhoben und den Sack über ihn stülpten. Sie verschlossen den Sack und wuchteten ihn auf den Wagen. Noch immer regte sich sein menschlicher Inhalt nicht. Erst jetzt begriff Manfred wirklich, was geschehen war. Er hatte seinen ersten Toten gesehen und da war nichts und das machte es noch schlimmer.
Zum ersten Mal seit den Demonstrationen nach der Atomkatastrophe in Japan vor vielen Jahren fragte er sich, in was für einer Welt er lebte. Ideen über Reformen oder gleich Revolution, die ihn als Jugendlichen zum Eintritt bei den Ökolibs (die damals noch »Grüne« hießen) bewegt hatten, kamen wieder hoch. In Gedanken versunken verließ er die M-Bahn-Station und ging durch den Tunnel zum Regierungsviertel. Jemand hatte an die Wand

QUETZALCOATLUS VIENES

geschmiert und Manfred fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
An der für die Öffentlichkeit gesperrten Abzweigung, die zum Außenministerium führte, kontrollierten ihn zwei Polizisten, neben denen zwei Elitesoldaten mit Vollhelm und Panzermontur standen. Ihre Waffen senkten sich erst, als einer der beiden Polizisten sagte: »Alles OK. Einen schönen Tag noch, Herr Limberg.«
»Danke«, entgegnete Manfred und überlegte, dass sie schon oft Tote gesehen haben mussten. Gehörte doch zu ihrem Beruf dazu. Durch den Tunnel ging er zum Unteren Foyer des Ministeriumskomplexes, stieg in den Lift und saß wenig später in seinem Büro.
Aufenthalte als Austauschschüler und Student in den USA zusammen mit Parteiarbeit für die Ökolibs und den richtigen Beziehungen hatten Manfred nach der Beteiligung an der Regierung zu einem Posten als Referent für Nordamerikafragen verholfen. Vor drei Monaten war aus dem Referenten Manfred Limberg der Unterstaatssekretär Manfred Limberg geworden.
Manfred schaltete seinen Computer ein und holte die Nachrichten seiner Kontakte in den USA auf den Schirm. Es waren Journalisten, Polit-Aktivisten und Wissenschaftler. Seit seiner Beförderung mischte sich auch der eine oder andere Kongressabgeordnete und Anwalt darunter. Ganz oben war Senator Thompson aus Maine, Manfreds wichtigster Kontakt, den er vor zwanzig Jahren als Austauschschüler kennen gelernt hatte. Damals war der Senator noch ein Anwalt für arme Klienten gewesen und hatte radikale Ideen vertreten. Finanzielle Unabhängigkeit und Popularität hatten ihm den Aufstieg zum Senator mit radikalen Ideen ermöglicht. Im Gegensatz zu Barack Obama, dessen Ansichten Thompson teilte und den er unterstützt hatte, hatte er weder das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten noch einen wichtigen Ministerposten angestrebt. Der Senator zog es vor, im Hintergrund zu bleiben und das Comeback der Republikaner nach dem Ende von Obamas Präsidentschaft bestätigte ihn in seiner Haltung.
In einer Nachricht von Senator Thompson las Manfred: »Be careful with that Quetzalcoatlus-stuff, theyre NO fake und theyre MAD from the bottom to the top. Fucking MAD!«
Quetzalcoatlus? Das hatte Manfred heute Morgen an der Wand des Tunnels im M-Bahnhof gesehen. Er gab im Computer eine Suchanfrage nach »Quetzalcoatlus Politik aktuell kurz« ein. Auf seinem Monitor erschien:

Quetzalcoatlus, Kult der Großen Schlange

Eine in Mittel- und Nordamerika verbreitete chiliastische Bewegung. Die Anhänger von Quetzalcoatlus berufen sich auf den alten Glauben der Azteken und verstehen sich als Wiedergeburt indigener Traditionen. Obwohl sie Menschen indianischer Herkunft in ihren Reihen haben, werden sie von den anderen indigenen Bewegungen abgelehnt. Der Hauptteil ihrer Anhänger besteht aus deklassierten Weißen, zu denen aber immer mehr Angehörige der Mittelschicht stoßen. Dabei mag helfen, dass jener Quetzalcoatl, auf den sich die Kultisten berufen, wie ein Weißer einen Vollbart trug. Deshalb tragen zum Kult gehörende Männer gewöhnlich einen Vollbart. Politisch stehen (Gelaber über Religion und Ideologie kombiniert mit Pöbelsozialismus).
Manfred las weiter, was Senator Thompson mitzuteilen hatte.
Beim Weg zur Kantine sah Manfred Patrisha und Leejon aus der Tür des großen Konferenzraums treten. Seitdem er nach Berlin gekommen war, gehörten die beiden US-amerikanischen Diplomaten zu seinem Bekanntenkreis. Patrisha war groß, hatte blasse Haut und tiefschwarze Haare. Damit glich sie Manfred so sehr, dass man die beiden für Geschwister halten könnte. Leejon hatte tiefschwarze Haut, kurzes und glatt frisiertes Haar und er überragte Patrisha und Manfred um eine Handbreit.
Die beiden Diplomaten wirkten müde. Leejon sagte etwas in einem Slang, dem Manfred nicht folgen konnte. Nur das Wort »Quetzalcoatlus« verstand er. Die Tür des Konferenzraumes öffnete sich erneut und der US-amerikanische Botschafter in Berlin, Paul Roberts, kam heraus. Er nickte Manfred zu (also hatten die Amis seine Beförderung zur Kenntnis genommen) und wandte sich zu Leejon und Patrisha, um mit ihnen eilig fortzugehen.
Manfred arbeitete bis in die Nacht. Als er müde durch den Tunnel zum M-Bahnhof trottete, fiel sein Blick auf die Stelle, wo am Morgen der Quetzalcoatlus-Graffiti gewesen war. Den hatte das Bahnpersonal entfernt, doch seine Stelle hatte eine stilisierte Schlange eingenommen, deren Kiefer sich um ein Strichmännchen schlossen.
Eine Nutte in hohen Pumps, schwarzem Minirock aus Lack und rotem Oberteil stöckelte vorbei. Manfred sah ihr nach, war aber zu müde, um sie anzusprechen. Doch so konnte das nicht immer sein, nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Er holte sein Mobil hervor und wählte »Sina«. Sie war nicht erreichbar, so hinterließ er ihr eine Nachricht: »Hallo Sina, ich bins. Hast du am Sonntag Zeit? Ruf mich an!«
SPEIDlinge rannten über den Bahnsteig, verfolgt von Polizisten. Die Drogen-User liefen zum Ausgang zum Regierungsviertel und wandten sich zur rechten Treppe, die Polizisten hinterher. Auf der linken Treppe kamen zwei der SPEIDlinge wieder in den Bahnhof und flitzten über den Bahnsteig zum Ausgang, der zum Reichstag führte. Die anderen wurden von den Polizisten noch an der Treppe zum Regierungsviertel festgehalten. An Armen und Beinen gefesselt zerrten die Polizisten sie davon. Manfreds Zug kam, er hockte sich in eine Ecke, setzte den Kopfhörer auf und hörte klassische Musik, die er so laut abspielte, wie es das Gerät zuließ.

Aufgeregt stieg Manfred das enge Treppenhaus zu Sinas Wohnung hoch. Sie wartete schon auf ihm, nur im Body und Strümpfen. Sina war groß, hatte eine üppige Figur und schwarze, lockige Haare. »Komm rein«, sagte sie und schloss die Tür hinter ihm. Er zog seinen Mantel aus und setzte sich zu ihr auf das Sofa. Sie nahm zwei kelchförmige Gläser und reichte eines Manfred.
»Prost.« Die Gläser klirrten und sie tranken schaumiges, rotes Kroyy, das Sina Sekt vorzog. Ihr kleines Zimmer war voller alter, abgeschabter Möbel, doch so gefiel es Manfred.
»Was macht die Arbeit?«
»Das Übliche«, antwortete Manfred. »In Amerika gibt es eine neue Religion und die Welt fault vor sich hin.«
»Soll sie ohne uns faulen!« Sina lachte, doch Manfred kaute nervös an seiner Unterlippe. Er stand auf und ging zu ihrem Schrank, öffnete ihn und strich über Röcke und Blusen, Oberteile, Strümpfe und Strumpfhosen. Sina sah ihm interessiert zu, sagte aber nichts.
»Kann ich was davon anziehen?«, platzte er heraus.
»Gern.« Sina trat zu ihm. »Aber wenn, dann richte ich dich auch her.« Sie strich über seinen Hintern. »Die richtige Figur dazu hast du. Zieh dich erst einmal aus.«
Entbarter musste Manfred nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper auftragen. Eine Botu-Maske machte sein Gesicht glatt und faltenlos, so dass Sina nur noch etwas Puder auflegte. Blitzschnell trug sie Lippenstift auf und frisierte seine Haare zu einem Bubikopf. Nun durfte er Slip und Unterhemd, Rock und Oberteil anziehen und in größenverstellbare Pumps steigen. Der enge Rock spannte um seinen Hintern und zwischen den Beinen war es kühl und luftig. Alles trug sich, als ob es schon immer zu ihm gehört hätte. Aufgedreht wirbelte er um seine Achse und Sina musste lächeln.
»Hey, Kollegin, noch einen Kroyy?«
»Gern!«
Gläser klirrten und Manfred schlug die bestrumpften Beine übereinander.
 



 
Oben Unten