Teil IV

Bilbo

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Eine merkwürdige Begegnung

Wie jeden Donnerstag holte ich meine Tochter von ihrem nachmittäglichen Malunterricht in der „Kindermalschule Janssen" ab. Die Malschule war leider recht verkehrsungünstig situiert; weder per Bus noch Straßenbahn erreichte man sie auch nur annähernd.
So stand ich also draußen an mein Auto gelehnt und wartete. Mit mir warteten noch andere Eltern und auch ein älterer Mann (wohl auf seine Enkelkinder).
Nach etwa zehnminütiger Wartezeit kamen einige Kinder heraus; meine Tochter war immer noch nicht dabei. Der ältere Mann sah sich die Kinder an, schüttelte mit dem Kopf und kam auf mich zu.
"Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin? Ich kenne mich hier nicht aus und habe mich verlaufen."
Ich fragte ihn, woher er denn gekommen sei. Er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, ob er alleine oder in Gesellschaft hierher gekommen war. Er wusste allerdings, dass er in dieser Stadt wohnte. Aber nicht, WO er wohnte.
Als ich ihn fragte, wie er denn hieße, sagte er:
"Das habe ich vergessen. Ich weiß es nicht. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich an diese Situation erst gewöhnen."

***

Entgeistert schaute ich ihn an. Sammelte mich einen Moment und griff behände unter seinen Arm.
»Sie haben doch bestimmt Ihre Brieftasche dabei?«
»Ich weiß es nicht.« Seine rechte Hand tastete in Brusthöhe über seinen Mantel, dann schüttelte er den Kopf.
»Ein Portemonai vielleicht?«
Seine Hand klopfte an seiner Gesäßtasche, dann schüttelte er wieder den Kopf. »Tut mir leid«, fügte er verwirrt hinzu.
»Macht nichts, wir werden Sie schon finden«, sagte ich schmunzelnd und überspielte so meine Unsicherheit. Meine Augen flogen über die Köpfe der herausströmenden Kinder, meine Tochter konnte ich noch immer nicht entdecken. Nervös blickte ich auf meine Armbanduhr. Es wurde höchste Zeit.
»Ich muss nach oben, schauen wo meine Tochter bleibt. Sie hätte schon längst hier sein müssen. Bitte warten Sie solange auf uns.«
»Das werde ich gerne machen«, sagte er und lehnte sich an meinen Wagen, während ich in Richtung Gebäude ging und schnellen Schrittes die vierzehn Treppenstufen hinauflief.

***

Unterwegs dachte ich an meine Schwester Christiane. Sie war Krankenschwester und wusste sicher, was man in einer solchen Situation machen musste. Vielleicht wusste sie auch, was mit dem Mann los war. War es ein vorübergehender Anfall geistiger Verwirrtheit oder chronische Alzheimer? Ich blieb vor der Tür zur Malschule stehen und fummelte mein Handy aus der Manteltasche, drückte die Kurzwahltaste und wartete. Nachdem das Rufzeichen eine Weile alarmiert hatte, meldete sich die Automatenstimme. So ein Mist, immer wenn man dringend jemand braucht, ist er nicht erreichbar. Ich hinterließ eine Nachricht in ihrer Mailbox und überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Sollte ich einfach die Polizei alarmieren? Es war schließlich ihre Aufgabe, hilflose Personen einzusammeln und ihren Angehörigen zuzustellen. So hilflos schien mir der Mann aber nicht. Er war nur nicht im Bilde, wer und wo er war. Aber wie war er hierher gekommen? Offensichtlich zu Fuß. Also konnte er auch nicht allzuweit entfernt wohnen. Meine Neugier ließ mich die Idee mit der Polizei erstmal vergessen.
"Mami, schau mal, was ich heute gemalt habe!" Die Stimme meiner Tochter unterbrach meine Gedanken. Sie hielt mir ihren Zeichenblock unter die Nase und ich musste laut losprusten.

***

Auf dem Bild war eine dunkelhaarige, bebrillte Gestalt mit langen Zähnen und erhobenem Zeigefinger zu sehen - ganz unverkennbar sollte diese Frau Jannsen, die gestrenge Leiterin der Malschule darstellen. Auf der Zeichnung sah sie allerdings wirklich zum Fürchten aus...
"Wunderschön!" lobte ich meine Tochter, während wir die Stufen zum Ausgang hinuntergingen. "Hast du Frau Jannsen dein Bild gezeigt?" fragte ich dann scheinheilig.
Laura schüttelte den Kopf. "Nein, nur Frau Ackermann. Sie hat gesagt, ich soll das Bild unter meinen Block schieben und lieber etwas anderes malen. Und weil mir gaaar nichts einfiel, hab ich einfach gemalt, was ich draußen durch das Fenster gesehen habe. Guck mal!"
Wir waren gerade unten angekommen, und ich wollte den Mann anschauen, als Laura mir ihre zweite Zeichnung unter die Nase hielt.
"Ja, sehr schön, meine Kleine", sagte ich und schickte mich an, den Block zwecks besserer Sicht zur Seite zu schieben. In den zwei Sekunden, während deren ich glaubte, Laura für's erste abgewimmelt zu haben, konnte ich gerade noch sehen, dass der Fremde nicht mehr an meinem Wagen stand.
Dann schob sich erneut das Blatt Papier vor mein Gesicht, begleitet von den quengelnden Worten: "Jetzt guck doch mal richtig, Mama."
Ich seufzte geschlagen, nahm den Block in meine eigenen Hände, und betrachtete das Bild genauer. Es zeigte den Parkplatz vor der Malschule, so wie er wohl vor einer dreiviertel Stunde noch ausgesehen hatte - natürlich aus der Sicht eines Kindes. Nur wenige Autos standen dort, an der Seite ein braungrünes Etwas, das wohl ein Baum sein sollte und ein Mülleimer im Hintergrund.
Mitten auf dem Parkplatz jedoch stand ein Mann. Ein dürrer Mann mit weißen Haaren und einem Spitzbart... - genau so hatte der Mann ausgesehen, mit dem ich mich vor gerade einmal fünf Minuten unterhalten hatte und der jetzt - ein schneller Blick in die Runde bestätigte mir dies - spurlos verschwunden war.
Nein, nicht ganz spurlos: Auf meinem Wagen lag ein schwarzer Hut!
 



 
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