Teil V

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Stella

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Eine merkwürdige Begegnung

Wie jeden Donnerstag holte ich meine Tochter von ihrem nachmittäglichen Malunterricht in der „Kindermalschule Janssen" ab. Die Malschule war leider recht verkehrsungünstig situiert; weder per Bus noch Straßenbahn erreichte man sie auch nur annähernd.
So stand ich also draußen an mein Auto gelehnt und wartete. Mit mir warteten noch andere Eltern und auch ein älterer Mann (wohl auf seine Enkelkinder).
Nach etwa zehnminütiger Wartezeit kamen einige Kinder heraus; meine Tochter war immer noch nicht dabei. Der ältere Mann sah sich die Kinder an, schüttelte mit dem Kopf und kam auf mich zu.
"Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin? Ich kenne mich hier nicht aus und habe mich verlaufen."
Ich fragte ihn, woher er denn gekommen sei. Er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, ob er alleine oder in Gesellschaft hierher gekommen war. Er wusste allerdings, dass er in dieser Stadt wohnte. Aber nicht, WO er wohnte.
Als ich ihn fragte, wie er denn hieße, sagte er:
"Das habe ich vergessen. Ich weiß es nicht. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich an diese Situation erst gewöhnen."

***

Entgeistert schaute ich ihn an. Sammelte mich einen Moment und griff behände unter seinen Arm.
»Sie haben doch bestimmt Ihre Brieftasche dabei?«
»Ich weiß es nicht.« Seine rechte Hand tastete in Brusthöhe über seinen Mantel, dann schüttelte er den Kopf.
»Ein Portemonai vielleicht?«
Seine Hand klopfte an seiner Gesäßtasche, dann schüttelte er wieder den Kopf. »Tut mir leid«, fügte er verwirrt hinzu.
»Macht nichts, wir werden Sie schon finden«, sagte ich schmunzelnd und überspielte so meine Unsicherheit. Meine Augen flogen über die Köpfe der herausströmenden Kinder, meine Tochter konnte ich noch immer nicht entdecken. Nervös blickte ich auf meine Armbanduhr. Es wurde höchste Zeit.
»Ich muss nach oben, schauen wo meine Tochter bleibt. Sie hätte schon längst hier sein müssen. Bitte warten Sie solange auf uns.«
»Das werde ich gerne machen«, sagte er und lehnte sich an meinen Wagen, während ich in Richtung Gebäude ging und schnellen Schrittes die vierzehn Treppenstufen hinauflief.

***

Unterwegs dachte ich an meine Schwester Christiane. Sie war Krankenschwester und wusste sicher, was man in einer solchen Situation machen musste. Vielleicht wusste sie auch, was mit dem Mann los war. War es ein vorübergehender Anfall geistiger Verwirrtheit oder chronische Alzheimer? Ich blieb vor der Tür zur Malschule stehen und fummelte mein Handy aus der Manteltasche, drückte die Kurzwahltaste und wartete. Nachdem das Rufzeichen eine Weile alarmiert hatte, meldete sich die Automatenstimme. So ein Mist, immer wenn man dringend jemand braucht, ist er nicht erreichbar. Ich hinterließ eine Nachricht in ihrer Mailbox und überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Sollte ich einfach die Polizei alarmieren? Es war schließlich ihre Aufgabe, hilflose Personen einzusammeln und ihren Angehörigen zuzustellen. So hilflos schien mir der Mann aber nicht. Er war nur nicht im Bilde, wer und wo er war. Aber wie war er hierher gekommen? Offensichtlich zu Fuß. Also konnte er auch nicht allzuweit entfernt wohnen. Meine Neugier ließ mich die Idee mit der Polizei erstmal vergessen.
"Mami, schau mal, was ich heute gemalt habe!" Die Stimme meiner Tochter unterbrach meine Gedanken. Sie hielt mir ihren Zeichenblock unter die Nase und ich musste laut losprusten.

***

“Sag mal, Annabelle, hast Du das Bild etwa auch Frau Janssen gezeigt?“ fragte ich sie grinsend.
„Na klar! Wir sollten jemanden malen, der komisch oder lustig aussieht. Sie meinte wohl einen Clown oder so was. Ich finde aber, dass Frau Janssen komisch aussieht. Sie hat so eine lange Nase und immer so altmodische Sachen an und so…“
„Verstehe. Und Du dachtest beim Zeichnen an Harry Potter und die Professorin Sprout. Deshalb hat sie auch lauter Grünzeug anstelle von Haaren auf dem Kopf, oder? Was hat Frau Janssen denn dazu gesagt?“
„Sie fand es gut, glaube ich. Sie hat ein bisschen gelacht.“
Während unseres Gesprächs waren wir die Treppe wieder hinuntergegangen. Ich öffnete die Tür, die aus der Malschule herausführte. Draußen wurde der alte Mann gerade freudig von einem kleinen Mädchen begrüßt. Er nahm es an die Hand und ging mit ihm gemeinsam zu einem roten Wagen, der ganz in der Nähe von meinem abgestellt war. Er öffnete die Autotür, das Mädchen kletterte auf den Rücksitz und wurde von ihm angeschnallt. Als Annabelle und ich uns unserem Auto näherten, meinte ich, dass das Mädchen Annabelle kurz zuwinkte, bevor der rote Wagen davonfuhr.


***


"Das war doch Christine!" rief ich erschrocken.
"Ja, warum?"
"Sie sitzt bei dem alten Mann im Auto!" erwiderte ich mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen.
"Klar, ist doch ihr Opa!" kopfschüttelnd blickte mich meine kleine Tochter an. "Heute holt er sie eben ab, na und?"
"Hat er das schon öfters getan?"
"Ja, letzte Woche. Er hat ein tolles Auto, gell! Christine hat erzählt, dass es ganz schnell fahren würde! Sie haben einen ganz tollen Ausflug gemacht!"
"Aha......Ausflug.....schnell fahren...Hilfe" murmelte ich vor mich hin während wir ins Auto einstiegen. Ich fand es unfassbar, dass ein so alter Mann, der anscheinend nicht im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten war, Auto fuhr und dies auch noch in Begleitung seines Enkelkindes. Mir war vor Angst und Sorge ganz bang. Es war nicht Auszudenken, was passieren könnte, wenn er während der Fahrt wieder einen solchen Gedächtnisverlust erleiden würde.
Ich wusste, diese eigenartige Begegnung wurde mir keine Ruhe lassen und so beschloss ich, zu Hause angekommen, sofort Christines Eltern anzurufen.
Zum Glück hatten wir eine Telefonliste daheim, auf der alle Mitschüler Annabelles aufgelistet waren und so war es nicht schwer Christines Eltern zu erreichen.
"Arnegger" meldete sich eine leise Stimme am Telefon.
"Guten Tag, ich bin Frau Schröder, die Mutter von Annabelle. Ihre Tochter Christine geht zusammen mit meiner Tochter in die Malschule für Kinder" meldete ich mich ein wenig unsicher.
"Was ist mit Christine, wissen sie wo sie ist?"
Mir blieb das Herz fast stehen. Die Stimme klang so unendlich verzweifelt und in Sorge, dass es mir durch Mark und Bein fuhr.
 

Frieda

Mitglied
Hallo Stella,

mir will nicht ganz einleuchten, warum Christines Mutter am Telefon schon so verzweifelt klingt. Die Protagonistin ist mit ihrer Tochter gerade erst zu Hause angekommen. Selbst wenn man annimmt, daß mit dem Opa alles in Ordnung ist, kann Chistine immer noch unterwegs sein, ohne daß die Mutter sich jetzt schon Sorgen machen müßte (außer wenn Christine ganz in der Nähe der Malschule wohnt, dann wäre es aber seltsam, daß niemand sich darüber wundert, daß sie mit dem Auto abgeholt wird).

Liebe Grüße
von Frieda
 

Stella

Mitglied
Hi Frieda,

ich ging davon aus, dass alle Kinder normalerweise von ihren Eltern von der Schule abgeholt werden (außer sie wohnen direkt daneben). Wer weiß, vielleicht waren Christines Eltern spät dran und wußten evtl. gar nicht, dass der Opa sie abgeholt hat......

....ich denke da gibt es einige Möglichkeiten, aber dies möchte ich gerne der Fantasie der nachfolgenden Autoren überlassen....

Liebe Grüße
Stella
 



 
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