Todeskünstler

HerrK

Mitglied
Nach dem Absprung gibt es einen Moment in dem man schon in der Luft ist, aber noch nicht wirklich fällt. Die Zeit scheint für Sekunden still zu stehen und man kann kurz den Herzschlag der Welt hören, bevor die Schwerkraft zu saugen und lecken beginnt. Es war dieser Augenblick, in dem ich bemerkte, wie fröhlich die Sonne schien und wie lebendig die Vögel sangen. Das scheint als Begleitkulisse für einen vierzehn Stockwerke anhaltenden Flug etwas paradox, war es aber in meinem Fall nicht. Ich wollte das Diesseits nicht ebenso weinerlich und hilflos verlassen, wie ich es betreten hatte, hatte nie Lust in einem uninspirierten Krankenhausbett von der großen Bühne geschoben zu werden, links hysterisches Gepiepse und rechts ein solches Labyrinth aus Kabeln, dass sogar die Infusionen selbst nicht mehr wissen durch welchen Schlauch sie eigentlich fließen sollen. Nein, mein Tod würde ein letztes lautes Auflachen sein, halb sarkastisch, halb lustvoll und er würde die Welt genau zwischen die Augen treffen, das stand fest. Auf mein Zeichen würde sich der Vorhang zum letzten Mal schließen und man würde mich mit stehenden Ovationen verabschieden. Keine Zugabe, das macht den Reiz der Sache aus, hier und heute Premiere und Abschiedskonzert zugleich, kommen Sie, sehen Sie, fühlen Sie! Das Leben ist eine verdammte Aufführung und sie sollte gut inszeniert sein! Wenn es dabei dem Stück zugute kommt, den Hauptdarsteller sterben zu lassen, dann ist es so.

Für Ideen dieser oder ähnlich selbstzerstörerischer Art war ich oft aufs Schärfste kritisiert worden, vor Allem, wenn ich wieder ein Mal kurz davor stand sie in die Tat umsetzen zu wollen. Am liebsten hätten sie mich in eine schöne einsame Gummizelle gesteckt in der ich nicht mir oder sonst wem schaden konnte, wo Tag und Nacht vier weiche Wände zur Verfügung standen um sich meiner anzunehmen. Aber diese Bekanntschaft blieb uns beiden erspart, das Schicksal (oder für die, die nicht daran glauben ich selbst) hatte es anders gewollt. Vielmehr hatte ich schließlich das Glück Künstler zu werden, was meinem Charakter sehr entgegenkam. Ich gehörte dabei nicht zu dieser Art von Malern aus gutem Elternhaus, die vor lauter Langeweile ab und an ein paar uninspirierte Kleckse auf die Leinwand ejakulieren. Wenn ich meinen Samen auf einem Gemälde gewollt hätte, dann hätte ich ihn mit dem Messer rausgeholt. Der Kunst müssen Opfer gebracht werden und ich wusste wie.
So wusste ich auch was zu tun war, als mir eines Tages (oder eigentlich über Monate hinweg) die Inspiration ausging. Als Kreativer, der keiner mehr war, beschloss ich der Kunst direkt auf den Opfertisch zu springen.
Dafür stieg ich ein paar hundert Stufen, bis ich auf dem grauen Dach ankam. Es war ein wunderbarer Aufstieg, ich als Christus ohne Dornenkrone, bei einem kreuzlosen Kreuzweg über vierzehn Etagen. Während meiner Passion wuchs die Lust in mir ins Unermessliche und mein Leib pulsierte voll bunter Lebenssäfte.
Diejenigen die das nicht nachvollziehen können, haben ihn noch nie gespürt, den herzlichen Würgegriff der Muse, die mit einem leidenschaftlichen Kuss alles aus einem rausholt. Alles, bis zum luststöhnend hergegebenen letzten Tropfen. Und dann, wenn man innerlich leer ist, wenn all das Blut und alle Magensäfte auf Papier gebannt wurden, dann beginnt die Kunst sich an die äußere Hülle zu machen und das Fleisch wird zur Modelliermasse.
Diese Bilder gingen mir durch den Kopf, als ich den Aufstieg hinter mir hatte und auch der Absprung schon gemacht war. Ich befand mich auf halber Höhe abwärts, als mir ein warmes Gefühl noch ein letztes Mal zeigte, dass ich richtig gehandelt hatte.

Von da an bewegte ich mich innerlich weiter und weiter auf den letzten künstlerischen Höhepunkt zu, während mir äußerlich die Tiefe unaufhaltsam entgegenströmte.
Fernes Hupen erklang als die strafenden Rufe meiner Kindheit, die Vögel erzählten von steineschleudernder Knabenwelt. Ein Kirchturm rief abermals das Gefühl der erwachenden und emporstrebenden Männlichkeit hervor. Ich fühlte den Luftzug als Berührungen all meiner verflossenen Geliebten zugleich, der Wind flüsterte mir Verführungen zu. Die Autos strömten unter mir durch, wie das Blut durch den nackten erröteten Leib, die Stadt erzitterte, als ich die Luft durchbohrte. So erklang in mir mein finales Crescendo, das Anschwellen der Lebensmelodie, die sich nach dem letzten Ton reckt. Eine Explosion in Hirn und Hoden, ungeahnte Hochgefühle, Rausch, Wahn, Lust, Kunst, Taumel, Traum, Tod.
Der Boden war da.
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo herr k.
spätestens seit den satanischen versen wissen wir ja
wie seltsam der freie fall erlebt werden kann.
die idee hat also prosaisches potential.

vielleicht solltest du die geschichte ins präsens setzen.
das mag kleinkarriert klingen, aber dadurch das ein "ich- erzähler" spricht, entsteht der eindruck er habe überlebt,
sonst könnte er diese geschichte ja nicht in der form erzählen.

zum prot.:

erkennbar "leidet" der ich erzähler an hybris und das ist auch richtig um die motivation für seinen sprung verständlich zu machen.

an einer stelle schreibst du:

Am liebsten hätten sie mich in eine schöne einsame Gummizelle gesteckt in der ich nicht mir oder sonst wem schaden konnte, wo Tag und Nacht vier weiche Wände zur Verfügung standen um sich meiner anzunehmen. Aber diese Bekanntschaft blieb uns beiden erspart,...

mir erschließt sich nicht wer "sie"sind und wer "uns" ist.

in einem kurzen text sollten aber die bezüge zu dritten personen deutlich sein, da sonst, wie jetzt auch mir, der text
an dieser stelle nicht verständlich wird.

lg
ralf
 
E

eisblume

Gast
Hallo HerrK,

das Problem mit dem Text ist nicht die Zeitform, sondern rein die Ich-Perspektive. Das Präsens ändert auch nichts an der Tatsache, dass der Ich-Erzähler dieses Erlebnis so nicht erzählen kann. Dazu müsste er überlebt haben, was aber wohl nicht der Fall sein dürfte. Damit die Geschichte so funktioniert, müsste das Ich also (wie auch immer) überlebt haben und das Ereignis z. B. in Form eines Rückblicks erzählen.

Den Titel finde ich aber schon mal sehr gut gewählt, gefällt mir gut.

Lieben Gruß
eisblume
 

HerrK

Mitglied
Nach dem Absprung gibt es einen Moment in dem man schon in der Luft ist, aber noch nicht wirklich fällt. Die Zeit scheint für Sekunden still zu stehen und man kann kurz den Herzschlag der Welt hören, bevor die Schwerkraft zu saugen und lecken beginnt. Es war dieser Augenblick, in dem ich bemerkte, wie fröhlich die Sonne schien und wie lebendig die Vögel sangen. Das scheint als Begleitkulisse für einen vierzehn Stockwerke anhaltenden Flug etwas paradox, war es aber in meinem Fall nicht. Ich wollte das Diesseits nicht ebenso weinerlich und hilflos verlassen, wie ich es betreten hatte, hatte nie Lust in einem uninspirierten Krankenhausbett von der großen Bühne geschoben zu werden, links hysterisches Gepiepse und rechts ein solches Labyrinth aus Kabeln, dass sogar die Infusionen selbst nicht mehr wissen durch welchen Schlauch sie eigentlich fließen sollen. Nein, mein Tod würde ein letztes lautes Auflachen sein, halb sarkastisch, halb lustvoll und er würde die Welt genau zwischen die Augen treffen, das stand fest. Auf mein Zeichen würde sich der Vorhang zum letzten Mal schließen und man würde mich mit stehenden Ovationen verabschieden. Keine Zugabe, das macht den Reiz der Sache aus, hier und heute Premiere und Abschiedskonzert zugleich, kommen Sie, sehen Sie, fühlen Sie! Das Leben ist eine verdammte Aufführung und sie sollte gut inszeniert sein! Wenn es dabei dem Stück zugute kommt, den Hauptdarsteller sterben zu lassen, dann ist es so.

Für Ideen dieser oder ähnlich selbstzerstörerischer Art war ich oft aufs Schärfste kritisiert worden, vor Allem, wenn ich wieder ein Mal kurz davor stand sie in die Tat umsetzen zu wollen. Am liebsten hätten meine vermeintlichen Freunde mich dann in eine schöne einsame Gummizelle gesteckt in der ich nicht mir oder sonst wem schaden konnte, wo Tag und Nacht vier weiche Wände zur Verfügung standen um sich meiner anzunehmen. Aber diese Bekanntschaft blieb der Zelle und mir erspart, das Schicksal (oder für die, die nicht daran glauben ich selbst) hatte es anders gewollt. Vielmehr hatte ich schließlich das Glück Künstler zu werden, was meinem Charakter sehr entgegenkam. Ich gehörte dabei nicht zu dieser Art von Malern aus gutem Elternhaus, die vor lauter Langeweile ab und an ein paar uninspirierte Kleckse auf die Leinwand ejakulieren. Wenn ich meinen Samen auf einem Gemälde gewollt hätte, dann hätte ich ihn mit dem Messer rausgeholt. Der Kunst müssen Opfer gebracht werden und ich wusste wie.
So wusste ich auch was zu tun war, als mir eines Tages (oder eigentlich über Monate hinweg) die Inspiration ausging. Als Kreativer, der keiner mehr war, beschloss ich der Kunst direkt auf den Opfertisch zu springen.
Dafür stieg ich ein paar hundert Stufen, bis ich auf dem grauen Dach ankam. Es war ein wunderbarer Aufstieg, ich als Christus ohne Dornenkrone, bei einem kreuzlosen Kreuzweg über vierzehn Etagen. Während meiner Passion wuchs die Lust in mir ins Unermessliche und mein Leib pulsierte voll bunter Lebenssäfte.
Diejenigen die das nicht nachvollziehen können, haben ihn noch nie gespürt, den herzlichen Würgegriff der Muse, die mit einem leidenschaftlichen Kuss alles aus einem rausholt. Alles, bis zum luststöhnend hergegebenen letzten Tropfen. Und dann, wenn man innerlich leer ist, wenn all das Blut und alle Magensäfte auf Papier gebannt wurden, dann beginnt die Kunst sich an die äußere Hülle zu machen und das Fleisch wird zur Modelliermasse.
Diese Bilder gingen mir durch den Kopf, als ich den Aufstieg hinter mir hatte und auch der Absprung schon gemacht war. Ich befand mich auf halber Höhe abwärts, als mir ein warmes Gefühl noch ein letztes Mal zeigte, dass ich richtig gehandelt hatte.

Von da an bewegte ich mich innerlich weiter und weiter auf den letzten künstlerischen Höhepunkt zu, während mir äußerlich die Tiefe unaufhaltsam entgegenströmte.
Fernes Hupen erklang als die strafenden Rufe meiner Kindheit, die Vögel erzählten von steineschleudernder Knabenwelt. Ein Kirchturm rief abermals das Gefühl der erwachenden und emporstrebenden Männlichkeit hervor. Ich fühlte den Luftzug als Berührungen all meiner verflossenen Geliebten zugleich, der Wind flüsterte mir Verführungen zu. Die Autos strömten unter mir durch, wie das Blut durch den nackten erröteten Leib, die Stadt erzitterte, als ich die Luft durchbohrte. So erklang in mir mein finales Crescendo, das Anschwellen der Lebensmelodie, die sich nach dem letzten Ton reckt. Eine Explosion in Hirn und Hoden, ungeahnte Hochgefühle, Rausch, Wahn, Lust, Kunst, Taumel, Traum, Tod.
Der Boden war da.
 

HerrK

Mitglied
Lieber Ralf,

die Textstelle mit der du Schwierigkeiten hattest habe ich noch ein Mal leicht überarbeitet. Ich hoffe es ist jetzt deutlicher. Mit "uns beide" waren Gummizelle und Protagonist gemeint.

Liebe Eisblume, lieber Ralf,

mir ist klar, dass der Ich-erzähler die Geschichte so in der Realität nicht erzählen könnte, aber gerade das paradox-surreale daran finde ich interessant: Ein Selbstmörder (der schon Gründe dafür hat, die man normal kaum nachvollziehen kann), der über seinen eigenen Tod berichtet.
Aber wenn ihr einen realistischen Erklärungsansatz wollt (den ich nicht so sehr im Sinn hatte): Vielleicht blieb dem lieben Herrn Ich-Erzähler ja die Bekanntschaft mit der Gummizelle doch nicht erspart und er blüht in irgendeiner geschlossenen Anstalt in Wahnvorstellungen auf.

Beste Grüße
HerrK
 

HerrK

Mitglied
Nach dem Absprung gibt es einen Moment in dem man schon in der Luft ist, aber noch nicht wirklich fällt. Die Zeit scheint für Sekunden still zu stehen und man kann kurz den Herzschlag der Welt hören, bevor die Schwerkraft zu saugen und zu lecken beginnt. Es war dieser Augenblick, in dem ich bemerkte, wie fröhlich die Sonne schien und wie lebendig die Vögel sangen. Das scheint als Begleitkulisse für einen vierzehn Stockwerke anhaltenden Flug etwas paradox, war es aber in meinem Fall nicht. Ich weigerte mich das Diesseits ebenso weinerlich und hilflos zu verlassen, wie ich es betreten hatte, hatte nie eingesehen in einem uninspirierten Krankenhausbett von der großen Bühne geschoben zu werden, links hysterisches Gepiepse und rechts ein solches Labyrinth aus Kabeln, dass sogar die Infusionen selbst nicht mehr wissen durch welchen Schlauch sie eigentlich fließen sollen. Nein, mein Tod würde ein letztes lautes Auflachen sein, halb sarkastisch, halb lustvoll und er würde die Welt genau zwischen die Augen treffen. Auf mein Zeichen würde sich der Vorhang zum letzten Mal schließen und man würde mich mit stehenden Ovationen verabschieden. Keine Zugabe, hier und heute Premiere und Abschiedskonzert zugleich, kommen Sie, sehen Sie, fühlen Sie! Das Leben ist eine verdammte Aufführung und sie sollte gut inszeniert sein! Wenn es dabei dem Stück zu Gute kommt, den Hauptdarsteller sterben zu lassen, dann ist es so.

Für Ideen dieser oder ähnlich selbstzerstörerischer Art war ich oft aufs Schärfste kritisiert worden, vor Allem, wenn ich wieder ein Mal kurz davor stand sie in die Tat umzusetzen. Am liebsten hätten meine vermeintlichen Freunde mich dann in eine schöne einsame Gummizelle gesteckt in der ich nicht mir oder sonst wem schaden konnte, wo Tag und Nacht vier weiche Wände zur Verfügung standen um sich meiner anzunehmen. Aber diese Bekanntschaft blieb der Zelle und mir erspart, das Schicksal (oder für die, die nicht daran glauben ich selbst) hatte es anders gewollt. Vielmehr hatte ich schließlich das Glück Künstler zu werden, was mehr Berufung als Beruf war. Ich gehörte also nicht zu dieser Art von Malern aus gutem Elternhaus, die vor lauter Langeweile ab und an ein paar uninspirierte Kleckse auf die Leinwand ejakulieren. Wenn ich meinen Samen auf einem Gemälde gewollt hätte, dann hätte ich ihn mit dem Messer rausgeholt. Der Kunst müssen Opfer gebracht werden und ich wusste wie.
So war mir auch klarm, was zu tun war, als mir eines Tages (oder eigentlich über Monate hinweg) die Inspiration ausging. Als Kreativer, der keiner mehr war, beschloss ich der Kunst direkt auf den Opfertisch zu springen.
Dafür stieg ich ein paar hundert Stufen, bis ich auf dem nackten Dach ankam. Es war ein wunderbarer Aufstieg, ich als Christus ohne Dornenkrone, bei einem kreuzlosen Kreuzweg über vierzehn Etagen. Während meiner Passion wuchs die Lust in mir ins Unermessliche und mein Leib pulsierte voll bunter Lebenssäfte.
Diejenigen die das nicht nachvollziehen können, haben ihn noch nie gespürt, den herzlichen Würgegriff der Muse, die mit einem leidenschaftlichen Kuss alles aus einem rausholt. Alles, bis zum luststöhnend hergegebenen letzten Tropfen. Und dann, wenn man innerlich leer ist, wenn all das Blut und alle Magensäfte auf Papier gebannt wurden, dann beginnt die Kunst sich an die äußere Hülle zu machen und das Fleisch wird zur Modelliermasse.
Diese Bilder gingen mir durch den Kopf, als ich den Aufstieg hinter mir hatte und auch der Absprung schon gemacht war. Ich befand mich auf halber Höhe abwärts, als mir ein warmes Gefühl noch ein letztes Mal zeigte, dass ich richtig gehandelt hatte.

Von da an bewegte ich mich innerlich weiter und weiter auf den letzten künstlerischen Höhepunkt zu, während mir äußerlich die Tiefe unaufhaltsam entgegenströmte.
Fernes Hupen erklang als die strafenden Rufe meiner Kindheit, die Vögel erzählten von steineschleudernder Knabenwelt. Ein Kirchturm rief abermals das Gefühl der erwachenden und emporstrebenden Männlichkeit hervor. Ich fühlte den Luftzug als Berührungen all meiner verflossenen Geliebten zugleich, der Wind flüsterte mir Verführungen zu. Die Autos strömten unter mir durch, wie das Blut durch den nackten erröteten Leib, die Stadt erzitterte, als ich die Luft durchbohrte. So erklang in mir mein finales Crescendo, das Anschwellen der Lebensmelodie, die sich nach dem letzten Ton reckt. Eine Explosion in Hirn und Hoden, ungeahnte Hochgefühle, Rausch, Wahn, Lust, Kunst, Taumel, Traum, Tod.
 

HerrK

Mitglied
Ich habe jetzt nochmals einige Veränderungen vorgenommen. Unter Anderem habe ich den letzten Satz "Der Boden ist da." gestrichen, was die Sache etwas offener gestaltet.
 

HerrK

Mitglied
Nach dem Absprung gibt es einen Moment in dem man schon in der Luft ist, aber noch nicht wirklich fällt. Die Zeit scheint für Sekunden still zu stehen und man kann kurz den Herzschlag der Welt hören, bevor die Schwerkraft zu saugen und zu lecken beginnt. Es war dieser Augenblick, in dem ich bemerkte, wie fröhlich die Sonne schien und wie lebendig die Vögel sangen. Das scheint als Begleitkulisse für einen vierzehn Stockwerke anhaltenden Flug etwas paradox, war es aber in meinem Fall nicht. Ich weigerte mich das Diesseits ebenso weinerlich und hilflos zu verlassen, wie ich es betreten hatte, hatte nie eingesehen in einem uninspirierten Krankenhausbett von der großen Bühne geschoben zu werden, links hysterisches Gepiepse und rechts ein solches Labyrinth aus Kabeln, dass sogar die Infusionen selbst nicht mehr wissen durch welchen Schlauch sie eigentlich fließen sollen. Nein, mein Tod würde ein letztes lautes Auflachen sein, halb sarkastisch, halb lustvoll und er würde die Welt genau zwischen die Augen treffen. Auf mein Zeichen würde sich der Vorhang zum letzten Mal schließen und man würde mich mit stehenden Ovationen verabschieden. Keine Zugabe, hier und heute Premiere und Abschiedskonzert zugleich, kommen Sie, sehen Sie, fühlen Sie! Das Leben ist eine verdammte Aufführung und sie sollte gut inszeniert sein! Wenn es dabei dem Stück zu Gute kommt, den Hauptdarsteller sterben zu lassen, dann ist es so.

Für Ideen dieser oder ähnlich selbstzerstörerischer Art war ich oft aufs Schärfste kritisiert worden, vor Allem, wenn ich wieder ein Mal kurz davor stand sie in die Tat umzusetzen. Am liebsten hätten meine vermeintlichen Freunde mich dann in eine schöne einsame Gummizelle gesteckt in der ich nicht mir oder sonst wem schaden konnte, wo Tag und Nacht vier weiche Wände zur Verfügung standen um sich meiner anzunehmen. Aber diese Bekanntschaft blieb der Zelle und mir erspart, das Schicksal (oder für die, die nicht daran glauben ich selbst) hatte es anders gewollt. Vielmehr hatte ich schließlich das Glück Künstler zu werden, was mehr Berufung als Beruf war. Ich gehörte also nicht zu dieser Art von Malern aus gutem Elternhaus, die vor lauter Langeweile ab und an ein paar uninspirierte Kleckse auf die Leinwand ejakulieren. Wenn ich meinen Samen auf einem Gemälde gewollt hätte, dann hätte ich ihn mit dem Messer rausgeholt. Der Kunst müssen Opfer gebracht werden und ich wusste wie.
So war mir auch klar, was zu tun war, als mir eines Tages (oder eigentlich über Monate hinweg) die Inspiration ausging. Als Kreativer, der keiner mehr war, beschloss ich der Kunst direkt auf den Opfertisch zu springen.
Dafür stieg ich ein paar hundert Stufen, bis ich auf dem nackten Dach ankam. Es war ein wunderbarer Aufstieg, ich als Christus ohne Dornenkrone, bei einem kreuzlosen Kreuzweg über vierzehn Etagen. Während meiner Passion wuchs die Lust in mir ins Unermessliche und mein Leib pulsierte voll bunter Lebenssäfte.
Diejenigen die das nicht nachvollziehen können, haben ihn noch nie gespürt, den herzlichen Würgegriff der Muse, die mit einem leidenschaftlichen Kuss alles aus einem rausholt. Alles, bis zum luststöhnend hergegebenen letzten Tropfen. Und dann, wenn man innerlich leer ist, wenn all das Blut und alle Magensäfte auf Papier gebannt wurden, dann beginnt die Kunst sich an die äußere Hülle zu machen und das Fleisch wird zur Modelliermasse.
Diese Bilder gingen mir durch den Kopf, als ich den Aufstieg hinter mir hatte und auch der Absprung schon gemacht war. Ich befand mich auf halber Höhe abwärts, als mir ein warmes Gefühl noch ein letztes Mal zeigte, dass ich richtig gehandelt hatte.

Von da an bewegte ich mich innerlich weiter und weiter auf den letzten künstlerischen Höhepunkt zu, während mir äußerlich die Tiefe unaufhaltsam entgegenströmte.
Fernes Hupen erklang als die strafenden Rufe meiner Kindheit, die Vögel erzählten von steineschleudernder Knabenwelt. Ein Kirchturm rief abermals das Gefühl der erwachenden und emporstrebenden Männlichkeit hervor. Ich fühlte den Luftzug als Berührungen all meiner verflossenen Geliebten zugleich, der Wind flüsterte mir Verführungen zu. Die Autos strömten unter mir durch, wie das Blut durch den nackten erröteten Leib, die Stadt erzitterte, als ich die Luft durchbohrte. So erklang in mir mein finales Crescendo, das Anschwellen der Lebensmelodie, die sich nach dem letzten Ton reckt. Eine Explosion in Hirn und Hoden, ungeahnte Hochgefühle, Rausch, Wahn, Lust, Kunst, Taumel, Traum, Tod.
 



 
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