Trostwiegen (gelöscht)

H

Hakan Tezkan

Gast
eine hommage an die oma, die mir gefällt, den tod zu belächeln, ohne reue, bedeutet doch den schönsten abschied.
dein kleienr text hat mich durchaus berührt, lieber balu, sprachlich aber habe ich ein paar vorschläge zu machen, wenn du gestattest, ansonsten lies nicht weiter:

Trostwiegen

Als sie starb, war er fünfundzwanzig[blue]Punkt[/blue][strike] und er hatte[/strike] [blue]A[/blue]n ihrem Grab [blue]hatte er[/blue] nicht geweint. Sein Vater und die Geschwister [strike]hatten[/strike] [blue]tadelten[/blue] ihn dafür [strike]getadelt[/strike], dass er mit einem Lächeln am Grab stand und sich stumm von ihr verabschiedet[blue]e[/blue] [strike]hatte[/strike]. Nie konnte er es ihnen erklären.

Was hätte er ihnen sagen sollen? Dass sie während seiner Jugend der einzige Mensch war, [strike]zu[/strike] dem er [strike]Vertrauen hatte[/strike] [blue] vertraute[/blue], dem er seine verletzte Seele wenigstens so weit öffnen konnte, dass die Schmerzen erträglich wurden. Hätte er dem Vater, dem die Hand gegen seine Frau viel zu locker saß, sagen sollen, dass er vor der Mutter und ihrem Körper fliehen musste. Hätte er offenbaren sollen, was der Anblick einer bloßen Scham in ihm auslöste, seit jenen Tagen[blue]Komma[/blue] an denen er mit der Mutter allein im Haus war. Der Vater hätte sie auch zwölf Jahre danach zu Tode geprügelt[strike], hätte er davon erfahren. [/strike]

Damals floh er immer wieder zur Oma und obwohl sie nie fragte, wusste sie wohl genau, was geschehen war. Wenn er vorgab, ein Wenig bei ihr lesen zu wollen und dann auf die Seiten eines Buches starrte, ohne zu lesen, [strike]dann[/strike] lag ihr Blick sorgenvoll auf ihm und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit seinem Vater konnte auch sie nicht darüber sprechen, weil sie mehr als jeder andere seinen Jähzorn kannte.

Doch immer wieder gelang es ihr, den Jungen mit spannenden Geschichten abzulenken und ihn zu trösten, indem sie darauf verwies, dass er bald schon ein junger Mann sei[blue]n würde[/blue] und dann in die Welt gehen könnte, wohin er auch wollte.
Später las sie ihm oft aus ihren Manuskripten und ohne es genau einordnen zu können, spürte er,
dass auch die Oma sehr viele Narben auf ihrer Seele trug. Es klang soviel Wehmut darin, wenn sie von jungen Frauen und ihren Schicksalen schrieb, dass ihr manchmal die Stimme beim Vorlesen versagte. In solchen Momenten schwiegen beide eine Weile.

Mit achtzehn verließ er das Elternhaus und zog in die Welt, um zu vergessen und um erwachsen zu werden. Und mit dem Loslassen verblassten auch die Bilder von ihr[strike] und selten sah er sie noch[/strike]. [blue]Selten sah er sie noch[/blue]
Bis zu jenem Tag, als er an ihrem offenen Grab stand und lächelte.
"Danke Oma, du wirst mich immer begleiten," sprach er stumm zu ihr, " und eines Tages werde ich so gut schreiben wie du. Und dann lerne ich hoffentlich vergeben ."
du siehst, am meisten störten mich die vielen stützverben wie "hatten"...

gern gelesen,
hakan
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Berührender Text. Man merkt ihm aber den Abstand so deutlich an, dass mich – wider besseren Wissens – ein "ist ja noch mal gut gegangen"-Gefühl beschleicht. Was ich meine?

Z. B. (1): Lange Sätze wirken weich und schmeicelnd, kurze hart und schmerzhaft. Wenn einer sagen kann "Das tut mir aber ganz schön weh, wie du das da sagst." dann geht die Verletzung nicht so tief wie bei einem der nur ein "Du Arsch!" rauspressen kann.

Z. B. (2): Nachträgliche Vermutungen/Entschuldigungen zeigen den Abstand. Wenn einer sagen kann "Uli hatte eben grade einen schlechten Tag, aber es war schon doof, was er da sagte", dann ist die Verletzung schon (fast) geheilt. Man ist geneigt, Ulis dumme Bemerkung jetzt so im Nachhinein (mit dem Kopf) als nicht so schlimm einzuschätzen, auch wenn man in dem Moment eigentlich stinksauer war und es – sich erinnernd – sogar noch ist.

Z. B. (3): Das Benutzen von "Abstandsherstellern" schränkt die Wirkung des Textes ein. Selbst Betroffene neigen oft dazu, zu "üblichen Floskeln" zu greifen, statt zu sagen, wie es sich tatsächlich anfühlt. Wenn zum Beispiel "die Seele verletzt" ist, dann klingt es immer ein wenig so, als sei da etwas verletzt, was zwar mit demjenigen verbunden aber eben was anderes als derjenige ist. Nein, nicht "seine Seele" war verletzt – "er" war verletzt. (An vielen Stellen des Textes ist diese Unmittelbarkeit zwar da, an andern wieder stellst du diesen "Sicherheitsabstand" her.)

Z. B. (4): "Künstlerische" Abweichungen von der (spontanen) Alltagsprache erzeugen den Eindruck, dass es längst aus dem "Bauch" raus (es schmerzt nicht mehr) und im (kühlen) Kopf angekommen ist. Wenn einer sagen kann "Dieses, Uli, war eben ein Satz, der nicht eben von emotionalem Einfühlungsvermögen kündete." dann hat er das zwar wahrgenommen, aber es hat ihn nicht getroffen.


Im Detail:
Nie konnte er es ihnen erklären.
(4)Der Satz ist so "gebaut", dass er ganz ausdrücklich weit nach der Beerdigung liegt. Normalsprachlich würde man aber auch da sagen "Er konnte es ihnen nie erklären."

Was hätte er ihnen sagen sollen? Dass sie während seiner Jugend der einzige Mensch war, zu dem er Vertrauen hatte, dem er seine verletzte Seele wenigstens so weit öffnen konnte, dass die Schmerzen erträglich wurden.[red]Fragezeichen statt Punkt[/red] Hätte er dem Vater, dem die Hand gegen seine Frau viel zu locker saß, sagen sollen, dass er vor der Mutter und ihrem Körper fliehen musste.[red]Fragezeichen statt Punkt[/red] Hätte er offenbaren sollen, was der Anblick einer bloßen Scham in ihm auslöste, seit jenen Tagen an denen er mit der Mutter allein im Haus war.[red]Fragezeichen statt Punkt[/red] Der Vater hätte sie auch zwölf Jahre danach zu Tode geprügelt, hätte er davon erfahren.
(1}&(3): Damals dachte er NICHT was von "verletzter Seele". Das ist überhaupt so eine Formulierung, die man wohl nicht über sich sich selbst denkt, weil das, was man erlebt, was man empfindet, nicht "verletzte Seele" ist, sondern "Angst", "Scham", "Ekel", "Schmerz" ... Er ging damals auch nicht zur Oma, weil er "die Seele öffnen konnte", sondern weil er sich dort sicher fühlte, geborgen. Vorschlag: Dass sie während seiner Jugend der einzige Mensch gewesen war, zu dem er Vertrauen hatte, bei dem er sich sicher fühlte. Bei dem der Schmerz nachließ. Und: Wie Hakan schon vorschlug: Den letzten Teilsatz streichen – das steckt schon in "hätte (sie totgeprügel)" drin.
(weiteres)&(3) Dass er nicht über die jetzigen (!) Gefühle mit dem Vater/den Geschwistern reden kann, hat mit "er würde sie totschlagen" nichts zu tun. Das ist fast sowas wie eine nachträgliche Entschuldigung (für das eigene) Handeln, verkennt aber die Situation.
GUT: "dass er vor der Mutter und ihrem Körper fliehen musste"

Damals floh er immer wieder zur Oma und obwohl sie nie fragte, wusste sie wohl genau, was geschehen war. Wenn er vorgab, ein Wenig[red]wenig [/red] bei ihr lesen zu wollen und dann auf die Seiten eines Buches starrte, ohne zu lesen, dann lag ihr Blick sorgenvoll auf ihm und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit seinem Vater konnte auch sie nicht darüber sprechen, weil sie mehr als jeder andere seinen Jähzorn kannte.
(2) Wusste sie es oder nicht? PS: Wenn ja, dann ist die Wut des Vaters eine lahme Entschuldigung. Nein im Ernst: Wenn sie es wusste, wurde sie mitschuldig.
(1) Streichen: "ohne zu lesen", denn das steht in "auf Buchsteiten starren" schon drin.
(weiteres) Sah er, dass sie weinte, oder ist das aus der Über-Ich-Perspektive geschrieben? Für mich klingt das wie so eine Formulierung, die man eben benutzt, um zu zeigen, dass da jemand (mit)leidet. (Selbst wenn es so gewesen ist, es klingt wie ein "üblicher Baustein".)

Doch immer wieder gelang es ihr, den Jungen mit spannenden Geschichten abzulenken und ihn zu trösten, indem sie darauf verwies, dass er bald schon ein junger Mann sei und dann in die Welt gehen könnte, wohin er auch wollte.
(weiteres) Die Dopplung von "immer wieder" hier und im vorigen Absatz störte mich.
(1)&(4) Vorschlag: Sie lenkte ihn mit spannenden Geschichten ab und tröstete ihn damit, dass er ja bald erwachsen sei und gehen könne.

Später las sie ihm oft aus ihren Manuskripten und ohne es genau einordnen zu können, spürte er, [red]Absatz zu viel [/red]
dass auch die Oma sehr viele Narben auf ihrer Seele trug.
(3)&(4)

Es klang soviel [red]so viel [/red] Wehmut darin, wenn sie von jungen Frauen und ihren Schicksalen schrieb, dass ihr manchmal die Stimme beim Vorlesen versagte. In solchen Momenten schwiegen beide eine Weile.
GUT: Das beschreibt die Verbindung zwischen ihnen gut.

Mit achtzehn verließ er das Elternhaus und zog in die Welt, um zu vergessen und um erwachsen zu werden.
(weiteres) Gut: "er zog in die Welt, um zu vergessen". Aber er tat es nicht, "um erwachsen zu werden" – jemand mit so einem "Hintergrund" fühlt sich mit 18 nicht "kindisch".

Und mit dem Loslassen verblassten auch die Bilder von ihr und selten sah er sie noch.
(weiteres) Er "lässt" nicht "los". Nein, natürlich tut er das (bzw. kann das tun), aber nicht in dem hier benutzten, üblichen "kurzen Zusammenhang" von "Zuhause / Oma – weggehen = loslassen". (Eine Ausführung des psychologischen Zusammenhanges erspar ich mir hier mal.)

Bis zu jenem Tag, als er an ihrem offenen Grab stand und lächelte.
"Danke Oma, du wirst mich immer begleiten," sprach er stumm zu ihr, " und eines Tages werde ich so gut schreiben wie du. Und dann lerne ich hoffentlich vergeben ."
(weiteres) Das hat er doch längst. Oder nein: Er hat 75 % der Beteiligten durch Entschuldigungen freigesprochen: Sowohl Vater und Geschwister (denen er es ja nie sagte) als auch die Oma (weil – ja warum eigentlich?). Nur die Mutter nicht – obwohl im Text nicht klar wird, ob er ihr überhaupt Vorwürfe macht. Dieser Teil – was er noch immer fühlt – fehlt gänzlich.
 
H

Hakan Tezkan

Gast
wow, ich stimme jon in allen aspekten zu, bin begeistert, derartige textarbeit habe ich noch nie hier inner lupe so gelesen. du triffst den mark, jon. da wird man fast neidisch, dass du dich hierher verirrt hast. ich hoffe, balu, du kannst damit etwas anfangen. jetzt könnte aus dme text ein knüller werden...

hakan
 

Balu

Mitglied
Hallo jon, Hallo Hakan

Euch beiden ein ganz dickes Danke für diese aufwendige Textarbeit

Es ist ein älterer Text von mir und dank Eurer Anstöße habe ich ihn jetzt überarbeitet

Über eine nochmalige Hilfe bei der Rechtschreibung und evtl.
Feinarbeit würde ich mich sehr freuen

Herzliche Grüße
Knut
 



 
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